Was in der Rentendebatte bewusst verschleiert wird

Produktivität schlägt Demografie

Von Gerd Bosbach · 30.10.2012
Mit nackten Bevölkerungszahlen für die nächsten 50 Jahre wird Angst gemacht. Man leitet daraus ein sinkendes Rentenniveau ab und begründet die Notwendigkeit privater Rente. Doch die ständige Demografie-Leier hat einen Rechenfehler.
Ja, natürlich: Wenn die Anzahl der Rentner wächst, muss das Rentenniveau sinken. Das weiß jeder. Aber warum wird es dann fast täglich neu betont? Möchte man uns damit die Zuschussrente, Solidarrente oder wie immer die Brosamen auch heißen mögen als große Leistung sozial denkender Politiker verkaufen? Oder will man uns mit der ständig wiederholten Demografie-Leier vom eigenständigen Denken abhalten?

Probieren wir das Denken trotzdem einmal. Wenn die These stimmen würde, dass eine wachsende Rentnerzahl ein sinkendes Rentenniveau erzwingt, hätte im letzten Jahrhundert die Rente massiv reduziert werden müssen. Der Anteil der Rentner hat sich nämlich mehr als verdreifacht: von unter fünf Prozent im Jahre 1900 auf über 17 Prozent im Jahre 2000. Nach der heutigen Denkweise ein Albtraum. Zusätzlich hat sich der Jugendanteil mehr als halbiert. Und die Rente? Sie ist in den 100 Jahren von fast gar nichts auf einen im Schnitt recht guten Standard im Jahr 2000 angewachsen. Und das geschah völlig ohne Entbehrungen bei den Arbeitnehmern. Deren Wohlstand ist ebenfalls massiv gewachsen – so massiv, dass wir Statistiker das gar nicht in Zahlen ausdrücken können. Zusätzlich konnten sogar die notwendigen Arbeitszeiten drastisch reduziert werden. Im letzten Jahrhundert war also die heute ständig geäußerte These vom sinkenden Rentenniveau bei wachsender Zahl Älterer absolut falsch.

Und nachdem wir einmal mit dem eigenständigen Denken begonnen haben, fällt uns auch direkt die Ursache dieser positiven Entwicklung auf: der Produktivitätsfortschritt. Genau der wird heute aber aus fast allen Überlegungen zu Rente und Demografie ausgeklammert. Stattdessen wird mit nackten Bevölkerungszahlen für die nächsten 50 Jahre Angst gemacht. Angeblich wissenschaftlich wird daraus ein sinkendes Rentenniveau hergeleitet und damit die Notwendigkeit privater Rente begründet, wie etwa das Riestern.

Soweit mit dem eigenen Denken gekommen, brauchen wir nur noch nachzurechnen: Beträgt der Produktivitätsfortschritt in den nächsten 50 Jahren durchschnittlich nur ein Prozent – und das ist eine sehr pessimistische Prognose für unsere Wettbewerbswirtschaft – so würden im Jahr 2060 in jeder Arbeitsstunde zwei Drittel mehr als heute hergestellt. Damit wäre ein Arbeitnehmer in der Lage, seinen Anteil für die gesetzliche Rente auf 20 Prozent zu verdoppeln und hätte trotzdem noch fast 50 Prozent mehr in der Tasche. Selbst ein absurd hoher Arbeitnehmer-Anteil von 30 Prozent für die Rente ließe ihm noch 28 Prozent mehr in seiner Tasche. Dazu käme dann noch der Arbeitgeberanteil, so dass die prognostizierte höhere Rentnerzahl sogar noch gut am Fortschritt teilnehmen könnte.

Warum wird diese simple Rechnung von all den Politikern bei ihren Prognosen ignoriert? Weil die Rechnung eines voraussetzt: Der Produktivitätsfortschritt müsste anteilig auch an die Arbeitenden ausbezahlt werden. Nur so könnte das Geld auch bei den Sozialversicherungen landen. Und das ist der Knackpunkt. Eine Teilnahme der Löhne am Produktivitätsfortschritt wird bewusst nicht mitgedacht.

Und so ist es kein Wunder, dass mehr Ältere zu Einbußen bei Löhnen und Renten führen. Aber das ist kein naturgegebenes Demografie-Gesetz – sondern eine gewollte Umverteilung zu Gunsten der Unternehmer, die den Gewinn des technischen Fortschritts komplett alleine einheimsen. Und darüber soll wohl nicht gesprochen werden. Deshalb die ständige Demografie-Leier.

Das glauben Sie nicht? Dann greifen Sie selbst zum Taschenrechner. Oder gucken noch einmal zurück ins letzte Jahrhundert, als der Produktivitätsfortschritt zum großen Teil auch ausbezahlt wurde. Das hat eine wahre Leistungsexplosion erzeugt: Der Wohlstand der Arbeitnehmer wuchs. Die verdreifachte Zahl von Rentnern wurde immer besser versorgt. Und trotzdem mussten die Arbeitnehmer immer weniger arbeiten.

Die Lehre daraus könnte so einfach sein: Die Produktivität schlägt die Demografie, wenn die Umverteilung nicht die Löhne der Arbeitnehmer beschneidet. Schade, dass die Rentenkürzer der meisten Parteien dieses Wissen völlig ignorieren.

Gerd Bosbach, geboren 1953 in Euskirchen, hat nach dem Mathematik-Diplom im Bereich Statistik an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln promoviert. Heute erforscht er als Professor für Statistik, Mathematik und Empirie an der Fachhochschule Koblenz (Standort Remagen), wie Statistiken missbraucht werden. Er lehrt Arbeitsmarkt- und Bevölkerungsstatistik sowie volkswirtschaftliche Aspekte der Gesundheitsfinanzierung. Gemeinsam mit dem Politologen Jens Jürgen Korff veröffentlichte Gerd Bosbach das Buch "Lügen mit Zahlen – Wie wir mit Statistiken manipuliert werden" (Heyne Verlag 2011).
Der Mathematiker Gerd Bosbach
Gerd Bosbach© Gerd Bosbach
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