Was ich liebe, muss ich zerstören

Von Agnieszka Lessmann und Frank Olbert · 09.06.2007
Als sie sich das erste Mal sahen, lagen sie wenige Minuten später vor einer Juke-Box auf dem Boden und wälzten sich ringend und boxend in Bierpfützen. "Ein Balzritual für verhaltensgestörte Menschen", nannte Courtney Love diese erste Begegnung mit ihrem späteren Mann. Kurt Cobain, der Grunge-Halbgott, der Rockstar, der sich mit 27 Jahren eine Schrotflinte in den Mund hielt und abdrückte, und Courtney Love, die Punkrock-Sängerin, deren erster Hit von ihrer Zeit als "Teenage- Nutte" handelte - ein Paar wie aus einem Comic-Strip über das wilde Leben im Ursumpf von Sex, Drogen und Rockmusik.
Doch hinter den knalligen Abziehbildchen verbergen sich Menschen. Wenn man ihren Songs zuhört, ihre Lebensgeschichten beleuchtet, sie und diejenigen, die sie kannten, im Interview erlebt, beginnt man zu ahnen, was sich hinter den grell ausgeleuchteten Kulissen ihrer Promi-Ehe abspielte - eine Geschichte von zwei extremen Künstlern, von zwei verlassenen Kindern der Hippie-Generation, die am Ende der satten Achtziger Jahre einen Neuanfang suchten, und die Geschichte einer Liebe ohne Happy-End.

The Museum of Nirwana and the Memorial oft Kurt Cobain
The Museum of Nirwana and the Memorial oft Kurt Cobain

Er war der "Gott des Grunge", gefeiert als "Sprachrohr einer entmachteten Jugend", "John Lennon der Generation X", ein charismatisches musikalisches und lyrisches Genie, Kurt Cobain, der Sänger, Songwriter und Kopf der Band "Nirvana".

Sie gehört zu den mit abziehbildhaften Etiketten meistbeklebten Menschen der Gegenwart: Courtney Love - Punkrock-Girl, Hollywood-Schauspielerin, Feministin, Mutter, Nacktmodell und nicht zuletzt Witwe von Kurt Cobain. Am 4. oder 5. April 1994 endete die Liebesgeschichte des vieldiskutierten Rock’n Roll-Paares mit einem Schuss, der um die Welt hallte und nicht nur die "Nirvana"-Fans nachhaltig erschütterte.

courtneylove.com

Courtney Love
Dirty Blonde.
Die Tagebücher
Aus d. Engl. v. Clara Drechsler u. Harald Hellmann
2007 Kiepenheuer & Witsch

America`s Sweetheart - oder die Königin des Grunge. Sie ist die Witwe von Kurt Cobain und die heilige Schlampe des Rock 'n' Roll. Sie ist die Enkelin der Schriftstellerin Paula Fox, sie ist Musikerin und Rebellin. Sie ist Stilikone und Schauspielerin. Sie führte Musterprozesse gegen die Musikindustrie, ist unglaublich reich und hat Probleme mit Drogen.

Courtney Love ist Courtney Love. Courtney Love ist einzigartig. Kompromisslos lebt sie ein Leben unter ständiger Beobachtung durch Presse und Fans. Dabei sind es noch nicht mal immer die eigenen. Als ihr Mann Kurt Cobain sich 1994 mit einer Schrotflinte in den Kopf schoss, wurde sie von vielen dafür verantwortlich gemacht. Sie war die Frau, "die alle sterben sehen wollen", wie damals SPEX schrieb. Noch im gleichen Jahr brachte sie "Live Through This" heraus, das zu den einflussreichsten Alben der 90er-Jahre zählt - ihr Durchbruch als Musikerin, bis Drogenprobleme und ihre große Klappe sie wieder in die Schlagzeilen brachten. Wenn auf der einen Seite Skandale und Prozesse standen, so sorgten auf der anderen Seite neben der Musik ihre hoch gelobten Auftritte als Schauspielerin (u.a. in "Larry Flynn") für Anerkennung. Doch bis heute wollen die kritischen Stimmen nicht verstummen. Damit gehört Courtney Love zu den bedeutendsten und umstrittensten Musikerinnen der Rockgeschichte und ist mit ihrem Soloalbum "America`s Sweetheart", das wieder einmal mehr frenetisch gefeiert wurde, im 21. Jahrhundert angekommen. Ein Leben lang hat Courtney Love Tagebuch geführt, auf Polaroids, in Briefen und auf Zetteln ihr turbulentes Leben festgehalten. Sie schrieb Gedichte und Songtexte. Für "Dirty Blonde" hat sie ausgewählt und zusammengestellt. Entstanden ist ein aufwändig gestaltetes Buch mit vielen Faksimiles aus den Originaltagebüchern, Zeichnungen und privaten Fotos.
Ein Tribut an Kurt Cobain
Auszug aus dem Sende-Manuskript::
Sie waren sich ähnlich, in vielerlei Hinsicht. Wenn Kurt von seiner trostlosen Kindheit erzählte, antwortete sie: Hey, das kann ich noch toppen. Jetzt hatten sie es geschafft. Zwei verstoßene Kinder, die im Urschrei des Punkrock ihre gequälte Seele gefunden hatten und in seinen verzerrten Gitarrengewittern die Hoffnung auf Erlösung. Jetzt waren sie selbst auf dem Weg in die Hall of Fame des Rock’n Roll, sie fanden wie zwei Ertrinkende zugleich dasselbe Floß. Kurt Cobain: " Ich hatte schon von ihr gehört - ein paar fiese Geschichten, von wegen sie wäre nur ein Abklatsch von Nancy Spungen. Das hat mich interessiert. Ich fand Sid super, denn er war so ein sympathischer Spinner." In einem Film über den "Sex Pistols"-Bassisten Sid Vicious und seine Freundin Nancy Spungen, den Alex Cox im Jahr 1985 drehte, hatte die damals 20-jährige Courtney Love vier kurze Auftritte als Nancys Freundin. Die Bilder von der verkommenen Punk-Romanze, die hauptsächlich aus gemeinsamem Drogenkonsum in vollgemüllten Hotelzimmern bestand und tödlich endete, muss Kurt und Courtney nachhaltig beeindruckt haben. Jedenfalls sah ihr gemeinsames Leben in den ersten Monaten nicht viel anders aus. Doch dann wurde Courtney schwanger - das perfekt in vorhandene Schablonen passende Rock’n Roll-Paar mutierte in irritierender Bürgerlichkeit zur Familie.

Wikipedia: Kurt Donald Cobain
Wikipedia: Courtney Love
Auszug aus dem Sende-Manuskript:

Am 8. April 1994 fand ein Elektriker, der die Alarmanlage überprüfen sollte, Kurt Cobains Leiche. Neben der Villa, die Courtney und Kurt im Jahr zuvor bezogen hatten, gab es eine Garage, darüber einen Wintergarten mit Blick über den Lake Washington. Dort rauchte er fünf Camel Light und trank einige Schluck Bier, wie Charles Cross in seiner Biografie "Der Himmel über Nirvana" akribisch beschreibt. Die Schrotflinte hatte er einige Tage zuvor besorgt - auf dem Weg in die Entzugsklinik. "Doch Selbstmörder haben eine eigene Sprache. Wie Zimmerleute fragen sie nur: "welches Werkzeug" niemals "warum bauen". "Anne Sexton, gestorben im Jahr 1974 durch eine Kohlenmonoxid-Vergiftung. Kurt Cobain saß am 4. oder 5. April in seinem Wintergarten, nahm irgendwann sein Fixerbesteck heraus und setzte sich eine sehr hohe Dosis Heroin. Dann griff er zu seiner neuerworbenen Schrotflinte, hielt sie sich in den Mund und drückte ab. Als man drei oder vier Tage später - der Arzt konnte den Todeszeitpunkt nur auf etwa 24 Stunden eingrenzen- seine Leiche fand, flimmerte im Wohnzimmer immer noch der Fernseher - ohne Ton auf MTV eingestellt.

laut.de: Kurt Cobain
laut.de: Courtney Love
Auszug aus dem Sende-Manuskript:

"Sein Selbstmord war ein Verrat; er verneinte einen unausgesprochenen Vertrag unter den Angehörigen einer Generation, die aufeinander angewiesen sind, um das Vermächtnis der Elterngeneration umzukehren, das Vermächtnis von Vernachlässigung, Orientierungslosigkeit und Enttäuschung. Cobain brach dieses Versprechen. Er ging einfach." So deutete die amerikanische Soziologin Donna Gaines die Reaktionen. Wenn Cobain zuvor als Sprachrohr der Generation X galt, jener "Slacker", die sich mit ausgeprägtem Misstrauen allem Ehrgeiz gegenüber einer als korrupt geltenden Gesellschaft entziehen wollten, so war seine letzte Botschaft an diese Generation ein unmissverständliches: Gebt auf! "Ein Selbstmord hat Verwirrung und Verwüstung zur Folge - in einem Maß, dass jeder Beschreibung spottet," stellt die englische Psychiaterin Kay Redfield Jamison fest. Jeder Selbstmord, aus welchem Grund er auch stattgefunden haben mag, ist ein großes, furchtbares "Nein", ein "Nein", dass jeder Lebende zurückweisen muss. Viele Nirvana"-Fans, darunter nicht wenige, die im April 1994 ihre Einschulung noch vor sich hatten, knabbern bis heute an diesem "Nein". In Internet-Chats debattieren sie darüber, ob es wirklich ein Selbstmord war oder ob Courtney Love ihren Mann nicht doch umgebracht habe.
Barnaby Legg
Kurt Cobain - Godspeed
Sein Leben als Comic.
2004. -SCHWARZKOPF & SCHWARZKOPF-
Cobain Kurt
Die Tagebücher
Mit (engl.) Originalseiten als Faksimiles..
Hrsg. u. übers. v. Clara Drechsler u. Harald Hellmann. Fischer Taschenbücher Bd.16016.
2004. -FISCHER (TB.), FRANKFURT-
Kurt Cobain Nirvana, Courtney Love
In eigenen Worten
Hrsg. v. Nick Wise.
2003. -PALMYRA-
Auszug aus dem Sende-Manuskript:
Courtney Love war als Cobains Frau nicht sehr beliebt. Ihr wurde vorgeworfen, ihren Mann völlig zu beherrschen, nur auf sein Geld aus zu sein und sich in alle seine Dinge einzumischen - auch in seine Band. Ein altes Muster schien sich zu wiederholen, ob John Lennon und Yoko Ono, Sid Vicious und Nancy Spungen - immer war es die Frau an des Rockstars Seite, die den Ruhm ihres Mannes ausnutzte und ihn ins Verderben stürzte. Die Fans wollen ihr Idol nicht mit einer Ehefrau teilen - und mit einer wie Courtney Love schon gar nicht. Schließlich tat sie alles, um sich als First Lady des Grunge so unmöglich zu machen wie es nur ging:
Courtney: "Diese ganze Idee vom Rockstar-Frauchen ... Ich habe von Anfang an gesagt, leckt mich alle am Arsch. Als ich mit meinem Mann erst kurz zusammen war, verkaufte sich "Pretty On The Inside" doppelt so gut wie Nirvanas Debüt-Album "Bleach". Jeder, der wirklich Ahnung hat, weiß das." Zwei Jahre nach dem Selbstmord ihres Mannes spielte Courtney Love die weibliche Hauptrolle in Milos Formans Film "Larry Flint - Die nackte Wahrheit." Für ihre Darstellung der drogensüchtigen, aus dem Stripperinnen-Millieu stammenden Ehefrau des umstrittenen Porno-Verlegers wurde sie für den Golden Globe nominiert. Courtney schreibt und singt weiter - mittlerweile hat sie nach der Auflösung ihrer Band eine Solokarriere gestartet, und bringt sich mit skandalträchtigen Auftritten immer wieder ins Gespräch.

Brite Poppy Z.
Courtney Love
(dtv premium). dtv Taschenbücher Bd.24135.
1998. -DTV-
Courtney Love, Kurt Cobains Witwe
Courtney Love, Kurt Cobains Witwe© AP Archiv