Was ich Dir noch sagen wollte (4)

"Das normale Leben gab es bei uns nicht"

Ein Klavier mit aufgeschlagenem Notenblatt
Das Klavierspiel wurde von der Mutter an die Tochter weitergegeben: "Meine ersten Meilensteine mit den Konzerten sind natürlich auch dank dir sehr gelungen." © Lorenzo Spoleti / Unsplash
Von Henriette · 16.12.2017
Angetrieben von einer ehrgeizigen Mutter, machte sie das Klavierspiel zu ihrem Beruf. Die Erfolge waren glänzend, aber zu welchem Preis? Eine wirkliche Kindheit hatte sie nicht – sie war "wie ein Hund an der Leine".
Liebe Mama, ich hab' bei dir angefangen, Klavier zu spielen, mit drei Jahren. Du hast ja selber auch Klavier studiert gehabt und warst darin sehr erfolgreich. Ich durfte natürlich einiges mitnehmen von deiner Ausbildung, und meine ersten Meilensteine mit den Konzerten sind natürlich auch zusammen mit dir und dank dir sehr gelungen. Nur dann, ich sag' mal so, mit 14, 15 Jahren nach Wettbewerbsgewinnen oder nach Auslandstourneen wäre es dann mal an der Zeit gewesen abzugeben.
Mit 17 ist ja dann leider der Vater verstorben und danach hast du schon versucht, vielleicht einen Ersatz in mir zu finden, ich weiß es nicht, einfach mich für dich zu behalten. Auch schon in der Schule das Thema Freunde und Freundschaften: Das war ja immer ein rotes Tuch für dich, sowohl bei mir als auch bei meinen Brüdern. Freunde durfte man einfach nicht haben. Du hast einfach nicht akzeptiert, dass wir auch andere Menschen vielleicht mögen und auch gern haben. Das ging bei dir irgendwo nicht. Ich hatte ja keine Kontakte zu anderen Musikern, war auch nicht in irgend einem Konzert von einem anderen Pianisten oder von einem anderen Orchester. All das wurde ignoriert. Es wurde auch niemand zu uns nach Hause eingeladen. Das normale Leben gab es bei uns nicht – was ich heute als normal bezeichne. Das war alles sehr ausgerichtet auf Leistung, auf versuchen, sich alleine durchzustemmen.

Ich konnte nur nachbabbeln

Du hast mich unterdrückt, auch was meine Unterlagen angeht. Sprich, die Korrespondenz mit den Konzerten. Die Ordner, die bei uns da standen ... Ich weiß genau, wo die standen, in welchen Kästchen die standen, die auch aufgebaut worden waren vom Vater vorher, die ganzen Jahre. Und immer war der Schlüssel weg, und auf Nachfrage: Ich durfte in meine Unterlagen überhaupt nicht reingucken. Das heißt, ich war angewiesen auf Aussagen von dir. Wenn Nachfragen kamen: Wann ist das nächste Konzert und was und wer und welches Programm? Ich wusste ja gar nichts. Alles, was ich wusste, wusste ich nur aus deinem Munde. Ich konnte ja nur quasi das nachbabbeln, was du mir vorgebabbelt hast.
Einerseits konntest du wunderbar liebevoll sein und sehr herzlich und auch sehr warm. Andererseits von einer Sekunde auf die andere, ohne eine Vorwarnung das krasse Gegenteil. Da hast du dich entwickelt zu einer Furie, zu einem Tiger, der rumgeirrt ist im wahrsten Sinne des Wortes. Da konnte man nur noch sich selber schützen und sich irgendwo verkriechen, dass nichts Größeres und nicht noch mehr passiert.

Aus unserer Serie "Was ich Dir noch sagen wollte". Hier alle Folgen im Überblick

Ich habe meine Kindheit gegeben. Da hatte ich bereits 20 Jahre konzertiert. Aber auch das ganze Geld hab' ich nie gesehen. Zumindest einen Bruchteil dessen, was ich verdient habe, hätte man anlegen können auf meine Seite, dass ich davon später irgendwas habe. Aber auch da war ich ja nur – jetzt wieder ein Zitat von dir − eine Zitrone, die man ausquetscht, oder wie ein Hund an der Leine. Das war so ein Bild von dir, das du mir gerne gegeben hast, wo du mich auch sehr verletzt hast. Ich habe am Anfang deswegen auch geweint. Aber irgendwann hab' ich auch verstanden, dass du auch nicht anders kannst, weil du selber in diesen Fesseln steckst mit deiner Geschichte und deinen Erlebnissen. Und das war für mich auch ein Glück, das so zu verstehen, und da glaube ich, kannst du auch dankbar sein, denn sonst hätte ich dich damals anklagen müssen. Was du mir angetan hast, das war unter aller Kanone.

Ein Schock, der nie verarbeitet wurde

Ich hatte ja eigentlich noch 'ne andere Schwester, die Hariett, daher kommt ja auch mein Name Henriette, und diese Hariett ist ja damals leider an plötzlichem Kindstod verstorben. Was natürlich sowohl für dich als auch für Papa damals ein Riesenschock gewesen sein muss, was nie verarbeitet worden ist. Worüber auch nie bei uns in der Familie gesprochen wurde. Schaue ich mir Bilder an von dir vor '70, '71 und danach und dann weiter, der Ausdruck und der Blick und die Augen − das ist für mich eindeutig, dass ich für dich quasi die Fortsetzung von diesem Kind sein soll und auch gewesen bin. Und deswegen auch für mich die Erklärung, dass ich deswegen nicht gehen durfte und du mich deswegen halten wolltest, weil die Hariett war gegangen, und deswegen durfte ich wohl nicht gehen.
Ganz am Ende, wo du ja krank warst und auch nicht mehr reden konntest, sondern nur noch dich körperlich zu- oder abwenden konntest, habe ich dir immer wieder meine Hand gereicht und das auch bewusst gemacht, auch wenn du es abgelehnt hast − wobei ich gar nicht weiß, ob du es abgelehnt hast, jedenfalls war die Körperhaltung ablehnend – aber ich hab' sie dir gereicht, weil ich hab' dir viel zu verdanken. Ohne dich wäre ich nicht so früh oder auch nicht so schnell ans Klavierspielen rangebracht worden. Danke an dich, dass du mich damals so weit gebracht hast.

"Ich bin nicht tot, ich tausche nur die Räume, ich leb' in euch und geh' durch eure Träume" (Michelangelo)

In dieser Serie sprechen Menschen zu Verstorbenen. Zu ihren Eltern, Geschwistern, Kindern oder Freunden. Sie sagen ihnen die Dinge, die sie ihnen zu Lebzeiten nicht sagen konnten − aus den verschiedensten Gründen.

Die Autorin Margot Litten sprach zunächst Menschen auf Friedhöfen an. Doch schon bald meldeten sich die ersten Hörer, die selbst sehr bewegende Geschichten zu erzählen hatten. Es sind zu einem großen Teil ihre Botschaften, die in dieser Serie zu hören sind.

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