Was heißt schon Solidarität
Was solche Solidaritätsbekundungen eigentlich wert seien, fragte Horst Seehofer wohl eher rhetorisch. Im ZDF spielte er damit auf die Nibelungenschwüre der CSU-Führung für Edmund Stoiber noch wenige Tage vor dessen Sturz an. Diese Solidaritätsbekundungen hätten für drei Amtsperioden gereicht, maulte Seehofer resignierend.
Ja, so ist es wohl. Zumindest in der Politik, aber nicht nur dort, hat ein merkwürdiger Bedeutungswandel dieses Begriffes stattgefunden. Denn im Wortsinne bedeutet Solidarität das uneingeschränkte Füreinandereinstehen, ja Kameradschaftsgeist, Zusammenhalt, Unterstützung, sogar Nächstenliebe. All diese Synonyme verraten nur das ganze Ausmaß der Relativierung eines Begriffes in unserer Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft.
Ja man könnte sagen, Solidarität sollte eine der Hauptstützen für den Zusammenhalt einer Nation, eines Staates sein. Selbst die biblische Forderung, "einer trage des anderen Last", findet hier ihre alltägliche Sinngebung, das Schlagwort der Solidargemeinschaft hat Eingang in die vor allem politische Sprachwelt gefunden.
Und da in der Tat gibt es eine Fülle von Abteilungen: Solidarkassen, Solidaritätsfonds, kurz Soli genannt, Solidarhaftung, Solidarversicherung.
Selbst eine Keimzelle für den Sturz des östlichen Sowjetimperiums, die polnische Gewerkschaftsbewegung, entlieh sich dieses identitätsstiftende Prädikat: Solidarnosc – auf Deutsch: Solidarität.
Und schließlich: Unter den drei Grundwerten der fortschrittlichen und für die Schwachen der Gesellschaft eintretenden Stellvertreterorganisationen wie der SPD findet sich neben Freiheit und Gerechtigkeit der Begriff Solidarität. Inzwischen wurde er auch von anderen politischen Bewegungen okkupiert und somit zur Beliebigkeit verhunzt. Motto: Klingt gut, hat aber eigentlich nichts zu bedeuten.
Wirklich nicht? Jenseits des Zynismus von Parteiprogrammatikern findet sich eine Tradition der Solidarität, die mehr als nur eine hohle Phrase ist. Vor mehr als zwanzig Jahren formulierte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einer Rede zum Thema "Verantwortung für sozialen Fortschritt, Gerechtigkeit und Menschenrechte", dass nur eine solidarische Welt eine gerechte und friedvolle Welt sein könne.
Wie solidarisch ist eigentlich eine Welt, in der das Wohlstandsgefälle – eigentlich auch ein zynismusbeladener Begriff - wo also der Saturiertheitsabstand immer größer wird. Vor fast einem Vierteljahrhundert verpflichteten sich die so genannten entwickelten Staaten per UNO-Beschluss, jährlich mindestens sieben Prozent ihres Bruttosozialprodukts zugunsten der unterentwickelten Länder aufzubringen. Deutschland hat gerade mal den halben Satz geschafft und liegt damit sogar ziemlich weit vorn. Viel "solidarischer" ist man bei den OECD Staaten eher mit Ländern, die für bestimmte Produkte eine guten Absatzmarkt hergeben, wie augenblicklich beim Umgang mit dem vermeintlichen Aufsteiger China zu beobachten.
Im Bericht der Nord–Süd-Kommission aus den siebziger Jahren wird zu Recht der Zusammenhang zwischen Hunger und Krieg hergestellt. Nach Willy Brandt führen die reichen Staaten mit der Verarmungswaffe gegen die schwachen Länder einen faktischen schon Jahrzehnte dauernden Welt-Krieg. Solidarität? Fehlanzeige, auch wenn die Weltbank hier und da bei politischem "Wohlverhalten" einen Schuldenerlass beschließt.
Neokolonialistische Spielarten in Hülle und Fülle, ob Waffenhandel, Rohstoffausbeutung, angebliche Demokratisierung - stets werden Solidaritätsbekundungen in ihr Gegenteil verkehrt. Vor Ethik und Moral steht die ökonomische Wertschöpfung, allenfalls politisches Wohlverhalten wird "scheinsolidarisch" belohnt.
Faschismus und damit eigentlich auch der Nationalsozialismus sowie Militarismus haben, so sagte einst sinngemäß Herbert Marcuse, eine tödlich wirksame Solidarität hervorgebracht. Modern ausgedrückt könnte man eher sagen: Eine tödlich wirksame Solidarität kann Faschismus und Militarismus
begünstigen.
Aber auch innerstaatlich ist der Solidarbegriff inzwischen nur noch ein schöner Schein. Die immer weiter auseinanderklaffende soziale Schere ist nur aufgrund einer immer stärker werdenden Entsolidarisierung der Gesellschaft möglich. Oben und Unten, Zwei-Drittel-Gesellschaft, Unterschicht, Prekariat, alles Begriffe, die die Abwesenheit von Solidarität beängstigend deutlich dokumentieren.
Die offenbar altmodisch gewordene Forderung der Verfassung, dass Gemeinwohl vor Eigennutz gehe, ist bei den Zynikern der Siegertypen unserer modernen postindustriellen Gesellschaft zu einer Lachnummer verkommen. Auf mehr oder weniger subtile Art hat die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen erneut ein Ausmaß angenommen, dass selbst Kirchen, Sozialeinrichtungen und Pflegeheime bisweilen wie Alibiinstitutionen wirken.
Mutter Teresa, die durch Hilfe für Wenige die Unterdrückung der Massen faktisch legitimiert hat, ist überall.
Solchermaßen gerät Solidarität allenfalls zur sozialen Camouflage. Zur politischen allemal. Und somit darf Horst Seehofer sich eigentlich nicht wundern, wenn die Solidarität unter Parteifreunden eben das ist was sie ist: Ein grandioses Täuschungsmanöver zum Nutzen der Solidaritäter…
Prof. Rainer Burchardt, Journalist und Medienwissenschaftler. Er lehrt an der Hochschule Kiel im Bereich Medien- und Kommunikationsstrukturen. Er hat zudem seit längerer Zeit eine Honorarprofessur an der Hochschule Bremen inne. Rainer Burchardt war zuvor seit Juli 1994 Deutschlandfunk-Chefredakteur.
Vor seiner fast zwölfjährigen Tätigkeit beim Deutschlandfunk war Burchardt langjähriger ARD-Korrespondent in Brüssel, Bonn, Genf und London. Unter anderem schrieb er für DIE ZEIT, Sonntagsblatt und andere Zeitungen und ist Vorstandmitglied der Journalistenvereinigung "Netzwerk Recherche".
Ja man könnte sagen, Solidarität sollte eine der Hauptstützen für den Zusammenhalt einer Nation, eines Staates sein. Selbst die biblische Forderung, "einer trage des anderen Last", findet hier ihre alltägliche Sinngebung, das Schlagwort der Solidargemeinschaft hat Eingang in die vor allem politische Sprachwelt gefunden.
Und da in der Tat gibt es eine Fülle von Abteilungen: Solidarkassen, Solidaritätsfonds, kurz Soli genannt, Solidarhaftung, Solidarversicherung.
Selbst eine Keimzelle für den Sturz des östlichen Sowjetimperiums, die polnische Gewerkschaftsbewegung, entlieh sich dieses identitätsstiftende Prädikat: Solidarnosc – auf Deutsch: Solidarität.
Und schließlich: Unter den drei Grundwerten der fortschrittlichen und für die Schwachen der Gesellschaft eintretenden Stellvertreterorganisationen wie der SPD findet sich neben Freiheit und Gerechtigkeit der Begriff Solidarität. Inzwischen wurde er auch von anderen politischen Bewegungen okkupiert und somit zur Beliebigkeit verhunzt. Motto: Klingt gut, hat aber eigentlich nichts zu bedeuten.
Wirklich nicht? Jenseits des Zynismus von Parteiprogrammatikern findet sich eine Tradition der Solidarität, die mehr als nur eine hohle Phrase ist. Vor mehr als zwanzig Jahren formulierte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einer Rede zum Thema "Verantwortung für sozialen Fortschritt, Gerechtigkeit und Menschenrechte", dass nur eine solidarische Welt eine gerechte und friedvolle Welt sein könne.
Wie solidarisch ist eigentlich eine Welt, in der das Wohlstandsgefälle – eigentlich auch ein zynismusbeladener Begriff - wo also der Saturiertheitsabstand immer größer wird. Vor fast einem Vierteljahrhundert verpflichteten sich die so genannten entwickelten Staaten per UNO-Beschluss, jährlich mindestens sieben Prozent ihres Bruttosozialprodukts zugunsten der unterentwickelten Länder aufzubringen. Deutschland hat gerade mal den halben Satz geschafft und liegt damit sogar ziemlich weit vorn. Viel "solidarischer" ist man bei den OECD Staaten eher mit Ländern, die für bestimmte Produkte eine guten Absatzmarkt hergeben, wie augenblicklich beim Umgang mit dem vermeintlichen Aufsteiger China zu beobachten.
Im Bericht der Nord–Süd-Kommission aus den siebziger Jahren wird zu Recht der Zusammenhang zwischen Hunger und Krieg hergestellt. Nach Willy Brandt führen die reichen Staaten mit der Verarmungswaffe gegen die schwachen Länder einen faktischen schon Jahrzehnte dauernden Welt-Krieg. Solidarität? Fehlanzeige, auch wenn die Weltbank hier und da bei politischem "Wohlverhalten" einen Schuldenerlass beschließt.
Neokolonialistische Spielarten in Hülle und Fülle, ob Waffenhandel, Rohstoffausbeutung, angebliche Demokratisierung - stets werden Solidaritätsbekundungen in ihr Gegenteil verkehrt. Vor Ethik und Moral steht die ökonomische Wertschöpfung, allenfalls politisches Wohlverhalten wird "scheinsolidarisch" belohnt.
Faschismus und damit eigentlich auch der Nationalsozialismus sowie Militarismus haben, so sagte einst sinngemäß Herbert Marcuse, eine tödlich wirksame Solidarität hervorgebracht. Modern ausgedrückt könnte man eher sagen: Eine tödlich wirksame Solidarität kann Faschismus und Militarismus
begünstigen.
Aber auch innerstaatlich ist der Solidarbegriff inzwischen nur noch ein schöner Schein. Die immer weiter auseinanderklaffende soziale Schere ist nur aufgrund einer immer stärker werdenden Entsolidarisierung der Gesellschaft möglich. Oben und Unten, Zwei-Drittel-Gesellschaft, Unterschicht, Prekariat, alles Begriffe, die die Abwesenheit von Solidarität beängstigend deutlich dokumentieren.
Die offenbar altmodisch gewordene Forderung der Verfassung, dass Gemeinwohl vor Eigennutz gehe, ist bei den Zynikern der Siegertypen unserer modernen postindustriellen Gesellschaft zu einer Lachnummer verkommen. Auf mehr oder weniger subtile Art hat die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen erneut ein Ausmaß angenommen, dass selbst Kirchen, Sozialeinrichtungen und Pflegeheime bisweilen wie Alibiinstitutionen wirken.
Mutter Teresa, die durch Hilfe für Wenige die Unterdrückung der Massen faktisch legitimiert hat, ist überall.
Solchermaßen gerät Solidarität allenfalls zur sozialen Camouflage. Zur politischen allemal. Und somit darf Horst Seehofer sich eigentlich nicht wundern, wenn die Solidarität unter Parteifreunden eben das ist was sie ist: Ein grandioses Täuschungsmanöver zum Nutzen der Solidaritäter…
Prof. Rainer Burchardt, Journalist und Medienwissenschaftler. Er lehrt an der Hochschule Kiel im Bereich Medien- und Kommunikationsstrukturen. Er hat zudem seit längerer Zeit eine Honorarprofessur an der Hochschule Bremen inne. Rainer Burchardt war zuvor seit Juli 1994 Deutschlandfunk-Chefredakteur.
Vor seiner fast zwölfjährigen Tätigkeit beim Deutschlandfunk war Burchardt langjähriger ARD-Korrespondent in Brüssel, Bonn, Genf und London. Unter anderem schrieb er für DIE ZEIT, Sonntagsblatt und andere Zeitungen und ist Vorstandmitglied der Journalistenvereinigung "Netzwerk Recherche".