Was heißt schon Privatheit?
Die Techniken zur allgemeinen Überwachung unseres Lebens werden zahlreicher. In Bahnhöfen und Verkehrsmitteln hängen Überwachungskameras. Briefe und Telefongespräche werden ausgespäht und registriert. Kleinstmikrofone und Videoaufnahmegeräte verfolgen Vorgänge in Wohnungen, Reisen per Flugzeug werden vielfach kontrollierbar.
Geplant sind amtliche Zugriffe auf Festplatten in Personalcomputern, wie überhaupt die elektronische Kommunikation als Auskunftei über Konsumverhalten, Interessen, Gewohnheiten, Bewegungen und Vorlieben des Publikums längst schon im Gebrauch ist.
Für manche der genannten Maßnahmen lassen sich ordentliche Anlässe vortragen, Kriminalitätsbekämpfung zum Beispiel und Terrorprävention. Dass sie sich verselbständigen können und damit tendenziell auf einen totalitären Überwachungsstaat hinlaufen, ist die häufig vorgetragene Befürchtung.
Nun sind Maßnahmen der genannten Art nichts substanziell Neues. Es hat sie gegeben, so lange Staaten existieren. Die fürchten gerne um ihren Bestand und wittern Gefahr durch interne Erhebungen, was sie rechtzeitig abwehren wollen. Zumal Diktaturen verhalten sich dabei besonders misstrauisch und erfindungsreich. Die Möglichkeiten zur Überwachung stellt die Industrie, sie vergrößern und vermehren sich nach Maßgabe des technischen Fortschritts. Ein weiteres Phänomen kommt hinzu.
Viele Leute kehren von sich aus und völlig freiwillig ihr Inneres nach außen. Sie stellen sich vor Fernsehkameras und beichten vor Massenpublikum ihre Wünsche, ihre Defizite, ihre Laster. Auch das Internet bietet Chancen, individuelles Leben auszustellen, was massenhaft genutzt wird. Da gibt es Plattformen, die persönliche Daten, leibliche Existenz, intime Wünsche und sexuellen Präferenzen des Einzelnen einsehbar machen für jedermann. Die Akzeptanz und Verbreitung solcher Einrichtungen ist überwältigend.
Etwas davon hat es auch schon früher gegeben. Radikale Selbstentblößung herrschte in Versammlungen kommunistischer Parteiorganisationen ebenso wie bei religiösen Sekten. Doch die Öffentlichkeit dort war begrenzt. Jeweils existierten dabei Gruppenzwang und ideologische Vorschrift. Die Selbstentblößung in Internetforen und Talkshows gehorcht keinerlei Doktrin, sie geschieht völlig unaufgefordert und ausschließlich zum Zwecke des Lustgewinns.
Derart erfolgt, und dies gleich von zwei Seiten, ein massiver Angriff auf jene Sphäre, die wir die private nennen. In den meisten Staatsverfassungen ist sie geschützt. Freilich sind die Grenzen der Privatheit ungenau und fließend, was ein Eindringen erleichtert und die Verteidigung erschwert.
Wer nach exakten Definitionen sucht, wird enttäuscht. Zwar haben französische Historiker aus dem Umkreis der Zeitschrift "Annales", voran Philippe Ariès und Georges Duby, eine mehrbändige Geschichte des privaten Lebens verfasst, die auch in Deutschland viele geneigte Leser fand, doch wo das Private aufhört und das Öffentliche beginnt, wird dort kaum bedacht.
Die noch immer beste Erklärung findet sich bei Hannah Arendt. Sie nennt als Hauptkennzeichen der Privatsphäre, ganz entsprechend dem lateinischen Wortinhalt, die Abgrenzung, die Verborgenheit; die eigenen vier Wände seien der einzige Ort, an den wir uns von der Welt zurückziehen können - nicht nur von dem, was in ihr ständig vorgeht, sondern von ihrer Öffentlichkeit, von dem Gesehen- und Gehörtwerden. Wie stellt sich dergleichen her?
Hannah Arendt: "Die einzig wirksame Art und Weise, die Dunkelheit dessen zu gewährleisten, was vor dem Licht der Öffentlichkeit verborgen bleiben muss, ist Privateigentum, eine Stätte, zu der niemand Zutritt hat, und wo man zugleich geborgen und verborgen ist."
Gemeint ist das eigene Haus oder die eigene Wohnung. Die gab es in der Menschheitsgeschichte nicht von Anfang an und auch später nicht durchweg. Weder die Wohnhöhlen urtümlicher Jäger und Sammler noch die Gemeinschaftshäuser heutiger Naturvölker gestatten Privatheit. Alles, Wachsein und Schlaf, Zeugung und Geburt, Essen, Adoleszenz, Krankheit und Tod vollziehen sich im Beisein von anderen.
Die Privatheit ist ein spätes Resultat des gesellschaftlichen Fortschritts und erfuhr ihre erste vollkommene Ausprägung im antiken Rom, das auch das moderne Eigentumsrecht hervorbrachte. Als notwendiger Rückzugsort für das Individuum, als Schutz gegen die Dreistigkeit der Ämter bestimmt und beschützt sie unsere Existenz. Sie ist ein kostbares Gut, das, wie aller Besitz, auch wieder verloren gehen kann.
Rolf Schneider stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift Aufbau in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller. Wegen "groben Verstoßes gegen das Statut" wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem zuvor mit elf Schriftstellerkollegen in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Veröffentlichungen unter anderem "November", "Volk ohne Trauer" und "Die Sprache des Geldes". Rolf Schneider schreibt gegenwärtig für eine Reihe angesehener Zeitungen und äußert sich insbesondere zu kultur- und gesellschaftspolitischen Themen.
Für manche der genannten Maßnahmen lassen sich ordentliche Anlässe vortragen, Kriminalitätsbekämpfung zum Beispiel und Terrorprävention. Dass sie sich verselbständigen können und damit tendenziell auf einen totalitären Überwachungsstaat hinlaufen, ist die häufig vorgetragene Befürchtung.
Nun sind Maßnahmen der genannten Art nichts substanziell Neues. Es hat sie gegeben, so lange Staaten existieren. Die fürchten gerne um ihren Bestand und wittern Gefahr durch interne Erhebungen, was sie rechtzeitig abwehren wollen. Zumal Diktaturen verhalten sich dabei besonders misstrauisch und erfindungsreich. Die Möglichkeiten zur Überwachung stellt die Industrie, sie vergrößern und vermehren sich nach Maßgabe des technischen Fortschritts. Ein weiteres Phänomen kommt hinzu.
Viele Leute kehren von sich aus und völlig freiwillig ihr Inneres nach außen. Sie stellen sich vor Fernsehkameras und beichten vor Massenpublikum ihre Wünsche, ihre Defizite, ihre Laster. Auch das Internet bietet Chancen, individuelles Leben auszustellen, was massenhaft genutzt wird. Da gibt es Plattformen, die persönliche Daten, leibliche Existenz, intime Wünsche und sexuellen Präferenzen des Einzelnen einsehbar machen für jedermann. Die Akzeptanz und Verbreitung solcher Einrichtungen ist überwältigend.
Etwas davon hat es auch schon früher gegeben. Radikale Selbstentblößung herrschte in Versammlungen kommunistischer Parteiorganisationen ebenso wie bei religiösen Sekten. Doch die Öffentlichkeit dort war begrenzt. Jeweils existierten dabei Gruppenzwang und ideologische Vorschrift. Die Selbstentblößung in Internetforen und Talkshows gehorcht keinerlei Doktrin, sie geschieht völlig unaufgefordert und ausschließlich zum Zwecke des Lustgewinns.
Derart erfolgt, und dies gleich von zwei Seiten, ein massiver Angriff auf jene Sphäre, die wir die private nennen. In den meisten Staatsverfassungen ist sie geschützt. Freilich sind die Grenzen der Privatheit ungenau und fließend, was ein Eindringen erleichtert und die Verteidigung erschwert.
Wer nach exakten Definitionen sucht, wird enttäuscht. Zwar haben französische Historiker aus dem Umkreis der Zeitschrift "Annales", voran Philippe Ariès und Georges Duby, eine mehrbändige Geschichte des privaten Lebens verfasst, die auch in Deutschland viele geneigte Leser fand, doch wo das Private aufhört und das Öffentliche beginnt, wird dort kaum bedacht.
Die noch immer beste Erklärung findet sich bei Hannah Arendt. Sie nennt als Hauptkennzeichen der Privatsphäre, ganz entsprechend dem lateinischen Wortinhalt, die Abgrenzung, die Verborgenheit; die eigenen vier Wände seien der einzige Ort, an den wir uns von der Welt zurückziehen können - nicht nur von dem, was in ihr ständig vorgeht, sondern von ihrer Öffentlichkeit, von dem Gesehen- und Gehörtwerden. Wie stellt sich dergleichen her?
Hannah Arendt: "Die einzig wirksame Art und Weise, die Dunkelheit dessen zu gewährleisten, was vor dem Licht der Öffentlichkeit verborgen bleiben muss, ist Privateigentum, eine Stätte, zu der niemand Zutritt hat, und wo man zugleich geborgen und verborgen ist."
Gemeint ist das eigene Haus oder die eigene Wohnung. Die gab es in der Menschheitsgeschichte nicht von Anfang an und auch später nicht durchweg. Weder die Wohnhöhlen urtümlicher Jäger und Sammler noch die Gemeinschaftshäuser heutiger Naturvölker gestatten Privatheit. Alles, Wachsein und Schlaf, Zeugung und Geburt, Essen, Adoleszenz, Krankheit und Tod vollziehen sich im Beisein von anderen.
Die Privatheit ist ein spätes Resultat des gesellschaftlichen Fortschritts und erfuhr ihre erste vollkommene Ausprägung im antiken Rom, das auch das moderne Eigentumsrecht hervorbrachte. Als notwendiger Rückzugsort für das Individuum, als Schutz gegen die Dreistigkeit der Ämter bestimmt und beschützt sie unsere Existenz. Sie ist ein kostbares Gut, das, wie aller Besitz, auch wieder verloren gehen kann.
Rolf Schneider stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift Aufbau in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller. Wegen "groben Verstoßes gegen das Statut" wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem zuvor mit elf Schriftstellerkollegen in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Veröffentlichungen unter anderem "November", "Volk ohne Trauer" und "Die Sprache des Geldes". Rolf Schneider schreibt gegenwärtig für eine Reihe angesehener Zeitungen und äußert sich insbesondere zu kultur- und gesellschaftspolitischen Themen.

Rolf Schneider, Schriftsteller und Publizist.© Therese Schneider