Was heißt schon lebenslänglich?

Von Reinhard Kreissl |
In vielen unserer Gesetze finden sich aufmunternde Worte. Im Grundgesetz der Bundesrepublik etwa ist zu lesen, die Staatsgewalt gehe vom Volke aus, die Würde des Menschen sei unantastbar und Eigentum verpflichte. Zentrale Rechtstexte wirken oft wie Werbematerial – große bunte Versprechungen, die im Kleingedruckten dann widerrufen werden.
Schlägt man im Angesicht der aktuellen Debatten über Sinn und Unsinn von lebenslangen Freiheitsstrafen etwa das Strafvollzugsgesetz auf, so findet sich gleich zu Beginn in Paragraph zwei die Auflistung der Aufgaben, denen der Vollzug der Freiheitsstrafe zu dienen habe. Die Gefangenen sollten fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Darüber hinaus ist die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen. Liest man weiter, entsteht der Eindruck, es handle sich hier um das Dokument einer aufgeklärt rationalen Politik, die sich von niederen Beweggründen wie Abschreckung, Rache und Sühne befreit hat und mit klarem Blick das notwendige Übel Strafe so gestaltet, dass ein jeder, der bei Trost ist, dem zustimmen würde.

In solchen Zielbestimmungen dokumentiert sich ein Idealbild. Könnte die Gesellschaft in den Spiegel blicken, sähe sie anderes. An der Differenz von Ideal und Realität entzünden sich die Debatten. Denen, die auf den Buchstaben des Gesetzes verweisen, werfen die selbsternannten Realisten und Pragmatiker Blauäugigkeit vor. Im Gegenzug wird auf Prinzipien des Rechtsstaats gepocht, über die man sich nicht hinwegsetzen dürfe. In aller Regel geht es dann so aus, dass man die Gesetze den Forderungen des Tages im Nachhinein anpasst und den Rahmen der Legalität einfach erweitert.
Dergleichen geschieht meist unbemerkt im parlamentarischern Alltag und der Souverän käme bei der Lektüre der Gesetze, denen er qua demokratisch gewählter Repräsentanten zugestimmt hat, gar nicht mehr nach.

Nur bei großen Ereignissen, wenn etwa die "Bild"-Zeitung berichtet, nimmt auch der Laie an solchen Auseinandersetzungen teil. Wir erinnern uns an "Florida Rolf", der seine Sozialhilfe in Miami verprasste und dem wir eine schnelle Anpassung der Gesetzgebung verdanken, die dergleichen jetzt unterbindet.

Aber Gesetze sollten nicht von der Tagesaktualität geprägt werden. Sie sollten bindend sein. In der schönen Formulierung von der Gesetzesbindung schwingt genau jenes Moment der Zähmung mit, das der Idee nach den Rechtsstaat auszeichnet. Es herrscht das Gesetz und nicht die Menschen, es zählt die in Paragraphen gegossene Vernunft und nicht die im Konflikt oder in der Angst hoch schäumende Emotion. Institutionell abgesichert ist diese Konstruktion durch die Gewaltenteilung, die eine Unabhängigkeit der Justiz vorsieht. Nun zeigen die historischen Erfahrungen, gerade in Deutschland, dass es sich hier nicht um ein sehr widerstandsfähiges Bollwerk handelt.

Umso wichtiger ist die Einsicht im Vorfeld, ist das Erkennen der eigenen Verstrickung in die moralisch hoch besetzten Fragen, die als Rechtsprobleme verkleidet, beantwortet werden müssen. Die Dinge liegen hier einfacher, als es den Anschein haben mag. Es genügt in aller Regel der Wechsel der Perspektive. Wie sähe die Welt mit den Augen derjenigen aus, über die zu richten ist? Was würde man selbst empfinden, wenn sich die Türen einer Strafanstalt hinter einem schließen und man wüsste, dass sie sich bis zum Ende des eigenen Lebens nie mehr öffnen? Eingesperrt werden Menschen, weil sie selbst diesen Perspektivenwechsel nicht vollzogen haben. Wer mordet und anderen Leid zufügt, versetzt sich nicht an die Stelle seines Opfers.

Man kann Figuren wie Brigitte Mohnhaupt oder Christian Klar nicht unterstellen, dass sie mit ihren Opfern Mitleid hatten. Aber müssen wir es den Tätern gleichtun? Müssen auch wir den anderen zum Objekt degradieren, dem wir bedenkenlos unbegrenzte Übel zufügen können? Oder können wir den verständlichen Affekt, der die meisten im Angesicht von schwersten Straftaten erfasst, zähmen?

Das Recht ist hier die Methode der Wahl. Es zwingt zum Überlegen und Abwägen unter Berücksichtigung jener Prinzipien, auf denen diese Gesellschaft aufbaut. Und an zentraler Stelle steht hier die Forderung, dass die Würde des Menschen – jedes Menschen – unantastbar sei. Wir sollten die aufmunternden Worte des Grundgesetzes in solchen Situationen ernst nehmen und auch jene, die wir mit Abscheu betrachten, als Menschen begreifen, deren Perspektive man verstehend einnehmen kann, ohne dem zuzustimmen, was sie getan haben.

Dr. Reinhard Kreissl, geb. 1952, ist Soziologe und Publizist. Studium in München, Promotion in Frankfurt/Main. Habilitation an der Universität Wuppertal. Kreissl hat u.a. an den Universitäten San Diego, Berkeley und Melbourne gearbeitet. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Publikationen verfasst und schrieb regelmäßig für das Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung". Letzte Buchpublikation: "Die ewige Zweite. Warum die Macht den Frauen immer eine Nasenlänge voraus ist". Kreissl lebt in München und Wien.