Was hat die Psychotherapie-Reform gebracht?

Mit Depression in der Warteschleife

Eine Frau, die die Hände vor das Gesicht hält, der Kopf ist geneigt.
Der Kampf um den Therapieplatz treibt psychisch Kranke oft noch tiefer in die Verzweiflung. © picture alliance / empics
Von Ralph Gerstenberg · 30.07.2018
Warten, kämpfen, klagen. Der Weg auf die Couch kostet psychisch Kranke viel Kraft. Die Psychotherapie-Reform sollte das ändern. Doch bis heute gibt es zu wenig Therapeuten – und die Kassen zahlen oft nicht. Jetzt will Gesundheitsminister Spahn nachbessern.
"Ich war tatsächlich schon seit Jahren depressiv", sagt ein Patient, "so seit vier, fünf Jahren, und ich hab zwar den Ausweg gesucht, aber die Barrieren waren einfach viel zu hoch. Und für jemanden, der schon depressiv ist, ist es irgendwie schwer, über solche Barrieren hinwegzusteigen."
Und eine Patientin erklärt: "Ich wusste, ich brauch jetzt Hilfe, weil ich richtig in suizidale Zustände gekommen bin. Und in so einem Zustand noch den Wahn Therapiesuche angehen, war eine Riesenherausforderung."
"Wenn man mit einem Armbruch zum Chirurgen geht, der Chirurg guckt auf den Arm und sagt: Oh, ja, der Arm ist gebrochen. Das tut weh, oder? Machen kann ich jetzt nichts, suchen Sie sich mal einen Chirurgen, der das vielleicht irgendwie für Sie fixen kann. Das würde kein Chirurg machen, das würde nirgendwo stattfinden, außer in der Psychotherapie. Da ist es so, dass Menschen, die ein starkes Leiden haben und eine eindeutige Diagnose bekommen, dass die wieder weggeschickt werden und sich selber helfen müssen. Und das finde ich ziemlich fatal", meint Ralf Reibiger, Geschäftsführer von Novus Via.
"Guten Tag, Sie haben die Telefonnummer der Terminservicestelle der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin gewählt..."
Wer auf der Suche nach einer Psychotherapie ist, hängt gleich in der Warteschleife. So genannte Terminservicestellen sollen seit der Reform der Therapie-Richtlinie vom April des vergangenen Jahres einen schnellen Kontakt zu Therapeuten vermitteln. Jeder niedergelassene Psychotherapeut ist nun verpflichtet, zwei Sprechstunden pro Woche Therapiesuchenden zur Verfügung zu stellen, die ihrerseits wiederum verpflichtet sind, eine solche Sprechstunde für ein Erstgespräch aufzusuchen.
"Ich war auch zuerst in einer Sprechstunde bei einem solchen Therapeuten, also ich musste erstmal zu einem Kassentherapeuten auf jeden Fall."
Tim Gleißner leidet schon seit Jahren unter Depressionen. Dem guten Zureden der Schwester des 23-jährigen Studenten, der eigentlich anders heißt, ist es zu verdanken, dass er die Kraft fand, sich Hilfe zu suchen. Bei der obligatorischen Sprechstunde stellte er jedoch fest, dass die Chemie zwischen ihm und dem niedergelassenen Therapeuten, der – was eher selten der Fall ist – sogar einen Therapieplatz für ihn gehabt hätte, nicht stimmte und somit die Grundvoraussetzung für einen Therapieerfolg fehlte.
"Ich hab dann tatsächlich angefangen, die Therapeuten anzurufen, alles abzutelefonieren, um eine Alternative zu kriegen. Und es wurde mir auch geraten bei der ersten Sitzung: Ich soll mir noch mal eine Referenz einholen und noch mal mit andern sprechen. Und um da einen Termin zu kriegen, hab ich dann ewig telefoniert, aber es gab tatsächlich erstmal gar nichts, also im kassenärztlichen Bereich gab’s gar nichts."

Paradigmenwechsel in der Terminvergabe?

"Die Terminservicestellen. Vom 1.4. 2017 bis zum 31.12. haben sich über 11.000 Patienten dort gemeldet. Und um die 5.500 sind erfolgreich vermittelt worden in die Praxen in einem Dreivierteljahr."
Michael Krenz ist von den Zahlen beeindruckt.
"Damit stehen wir ganz oben, weit vor jeder anderen Arztgruppe."
Als Präsident der Berliner Psychotherapeutenkammer hat er mitgeholfen, die Richtlinie für die Psychotherapie zu reformieren. Er spricht von einem "Paradigmenwechsel".
"Bis zum 1.4. wurde lediglich geprüft, liegt eine psychische Erkrankung vor, und dann wird eine Psychotherapie gemacht. Wenn heute ein Patient in die Sprechstunde kommt, wird geguckt: Liegt eine Erkrankung vor. Und jetzt kommt das Entscheidende: Wie müsste eigentlich dieser Patient lege artis versorgt werden? Nicht jeder psychotherapiebedürftige Patient ist für eine Psychotherapie geeignet. Es kann viel sinnvoller sein, entweder sich beraten zu lassen oder den in eine Klinik, Tagesklinik oder zu ärztlichen Kollegen zu schicken, weil andere Probleme viel gravierender sind. Und dieses sollte diagnostisch in der Sprechstunde schon vorgenommen werden."
Auch der Zugang zur Psychotherapie sei durch die Terminservicestellen und die Sprechstunden wesentlich erleichtert worden. Zudem gebe es als weiteres "niedrigschwelliges" Angebot, wie es heißt, die Akutbehandlung, die ohne Antrag bei der Krankenkasse sofort durchgeführt werden könne.
"Eine Akutbehandlung ist eingeführt worden zur Krisenintervention. Also wenn Patienten in einer Krise sind, dann gibt es 12 Stunden. Und wenn sich dann in der Akutbehandlung herausstellt, dass ein weitergehender Behandlungsbedarf da ist, dann kann ich aus der Akutbehandlung heraus zum Beispiel auch in eine Kurzzeitpsychotherapie gehen."
Diese Neuerungen seien hilfreich, meint Michael Krenz, der selbst als niedergelassener Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut in Berlin praktiziert. Sie erweiterten für Therapeuten mit Kassensitz das Spektrum der Hilfemöglichkeiten. Allerdings habe sich dadurch auch ein gravierendes Problem, ein unübersehbarer Missstand, eher vergrößert als verkleinert.
"Akutbehandlung und Sprechstunde gehen in der Regel vom Therapiekontingent ab. Das heißt, die Wartezeit auf eine Psychotherapie wird gegebenenfalls sogar größer."

Drei bis sechs Monate Wartezeit

In Berlin wartet man derzeit im Durchschnitt mehr als drei Monate auf eine Psychotherapie. In Nordrhein-Westfalen, Thüringen, Brandenburg und im Saarland gar ein halbes Jahr. Patienten wie Tim Gleißner bleiben in dieser Zeit sich selbst überlassen und müssen sich auf eine deprimierende Suche nach einem Therapieplatz begeben, bei der die neu eingerichteten Terminservicestellen nicht weiterhelfen.
"Eine Therapieplatzvermittlung ist über die Terminservicestelle nicht möglich."
"Ich hab ja schon jahrelang die Depression gehabt, und die lähmt ganz schön. Das ist so ein innerer Kampf, und man kämpft schon so lange einen Kampf, sich zu überwinden, überhaupt irgendwas zu machen - aufzustehen oder zu kochen oder seinen Hobbys nachzugehen oder Freundin und Freund, was auch immer, das ist schon alles ein Kampf. Und dann irgendwas, was sich nicht direkt belohnt, was sich nicht unbedingt gleich gut anfühlt oder was auch noch einen zusätzlichen Aufwand hat, das ist extrem schwer."
Besorgte Frau vor Laptop stützt ihren Kopf ab.
Die Suche nach einem Therapeuten zerrt an den Nerven.© imago stock&people
"Die bürokratischen Hürden wurden größer, und ich hatte das Gefühl, 2017 ging gar nichts durch. Da haben alle Kassen erstmal versucht so dichtzumachen."
Marlen Zeisler hat sich nach ihrer Approbation als Psychotherapeutin vor drei Jahren selbstständig gemacht. Der größte Teil ihrer Patienten kam über das so genannte Kostenerstattungsverfahren zu ihr.
"Indem der Patient vorweist, er hat schon zehn Therapeuten mit Kassensitz kontaktiert, die keine Kapazitäten haben für eine Therapie, und die Wartezeit beträgt mindestens drei oder auch über sechs Monate, dann können sie zu einem Therapeuten, der im Kostenerstattungsverfahren arbeitet, kommen und können dann beantragen: Ich hab keinen Therapeuten mit Kassensitz gefunden, brauch jetzt aber dringend eine Therapie, und bitte übernehmen Sie, also die Krankenkasse, die Kosten für einen Therapeuten ohne Kassensitz."
Auf diese Weise haben die Kostenerstatter dazu beigetragen, die erhebliche Versorgungslücke in der Psychotherapie ein wenig zu schließen. Rund ein Viertel aller psychotherapeutischen Praxen in Berlin arbeiten in der Kostenerstattung. Seit der Reform der Psychotherapie-Richtlinie von 2017 weigern sich die Kassen nun zunehmend diese Kosten zu übernehmen, wozu sie per Gesetz eigentlich verpflichtet sind. So heißt es in Paragraph 13 im SGB 5, Absatz 3:
"Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war."
"Dann argumentier ich mit all dem Recht, das der Patient hat, und dass wir alles der Krankenkasse vorgelegt haben, alle Papiere, die sie brauchen, dann sagen die: Nö, das machen wir nicht."
"Dann haben wir das in Angriff genommen, da in Widerspruch zu gehen, haben das also noch mal alles formuliert. Und dann haben die das wieder abgelehnt."

Keine Erstattung trotz Selbstmordgefahr

Julia Grossmann, deren Name auf Wunsch geändert wurde, litt unter den psychischen Folgen einer schweren Autoimmunerkrankung. Nach etlichen Telefonaten und Erstgesprächen fand sie eine private Therapeutin, bei der sie das Gefühl hatte, verstanden zu werden und Hilfe bekommen zu können. Trotz einer suizidalen Gefährdung wurde ihr Antrag auf Kostenerstattung von ihrer Krankenkasse jedoch abgelehnt - mit der Begründung: Es gäbe durchaus Kassentherapeuten, die sie behandeln könnten, allerdings zirka eine Stunde von ihrer Wohnadresse entfernt.
"Und ich dachte: Entschuldigung, meine Depressionen und Angststörungen kommen von meiner Immobilität. Es gab wirklich Zeiten, wo ich kaum aus dem Bett aufstehen konnte, wo ich wirklich pflegebedürftig war. Und wenn ich da alleine gewesen wär' und nicht Familie um mich rum gehabt hätte, die mich da gestützt hat, wäre das ein ganz kritischer Moment für mich gewesen. Ich wollte da aufgeben. Und zwar mit allem und mit mir. Mir hat in meinem Zustand die Welt gesagt: Du bist uns egal. Ob du Hilfe brauchst oder nicht."
Der Mutter von Julia Grossmann ist es schließlich zu verdanken, dass der jungen Frau nach sieben Monaten der Therapeutensuche und einem aufwühlenden Kampf mit ihrer Krankenkasse doch noch die Kostenerstattung für ihre Psychotherapie genehmigt wurde.
"Und dann ist meine Mutter dorthin zu dem Chef, hat dem das alles erklärt, der war sehr nett und verständnisvoll, hat versprochen, sich bei ihr zu melden, was er dann nicht getan hat. Dann ist sie wieder dahin und hat gesagt: Ich erzähle Ihnen mal, wie das ist, wenn jemand dringend Hilfe braucht und in einer Notsituation ist und jemand sagt, natürlich, ich helfe Ihnen, und er macht das einfach nicht und meldet sich nicht. Und er sagte dann, ich hab’s verstanden und ich kümmere mich jetzt gleich. Das hat er dann auch getan. Und eine Woche später hatte ich einen Brief im Briefkasten: Wir haben Ihren Fall noch mal geprüft. und wir machen das jetzt doch."
"Was manchmal hilft", erklärt Maren Zeisler, "ist tatsächlich, dass die Patienten bei ihren Sachbearbeitern vor der Tür stehen und sagen: Hier, ich bezahl seit 40 Jahren Beiträge, ich brauch das jetzt. Und solange da in der Tür stehen, dass die Sachbearbeiter dann irgendwann sagen: Okay, wir machen das. Aber das ist nicht Sinn und Zweck der Sache, wie eine Therapie genehmigt wird, ne. Das ist nicht schön."

Gerade große Kassen verweigern die Erstattung

Seit der Richtlinienreform verweisen die Krankenkassen auf die neu eingeführten Sprechstunden und Akutbehandlungen, um Anträge auf Kostenerstattung abzulehnen. Durch diese Maßnamen sei der schnelle Zugang zu einem Therapeuten nun gegeben, heißt es sinngemäß. Dass die Patienten nach einem Erstgespräch in einer Sprechstunde in der Regel monatelang auf eine Therapie warten, erwähnen sie ebensowenig wie die Tatsache, dass die meisten Therapeuten auch keine Kapazitäten für eine Akutbehandlung haben. So schreibt die AOK Nordost, bei der Julia Grossmann versichert ist, auf Anfrage:
"In Ausnahmefällen und wenn es keine geeignete Alternative gibt, erstattet die Kasse auch private Therapiestunden ... Grundsätzlich besteht jedoch kein Anspruch seitens des Versicherten auf eine solche Kostenerstattung. In den Fällen, in denen nach jeweiliger Prüfung des Einzelfalles die Voraussetzungen des § 13 Abs. 3 SGB V vorliegen, übernimmt die AOK Nordost auch die Kosten im Rahmen der Kostenerstattung. Es kann allerdings durchaus sein, dass die gesetzlichen Voraussetzungen, unter denen eine Krankenkasse die Therapie bei einem privaten Therapeuten erstatten darf, mit Einführung der neuen Richtlinie seltener gegeben sind."
"Wir erhalten immer wieder Berichte, dass es mit den AOKen sehr schwierig ist. Also im Prinzip sind es wirklich die großen Krankenkassen, AOK, Barmer, DAK und Techniker."

"Großes Unrecht auf dem Rücken von psychisch Kranken"

Felicitas Bergmann arbeitet als Kinder- und Jugendlichentherapeutin in Nordrhein-Westfalen. Auch sie machte seit dem 1. April 2017 vermehrt Erfahrungen mit der Ablehnung von Kostenerstattungsanträgen durch die Krankenkassen, die ein verändertes Verhalten seit der Reform jedoch nicht zugeben, keine Zahlen veröffentlichen und von Einzelfällen sprechen.
"Das hat sich so angehäuft über die Zeit, das sind dann Einzelfälle gewesen, die mich sehr, sehr geärgert und auch frustriert haben. Und an der Stelle dachte ich, dass ich weiß, das sind keine Einzelfälle mehr. Und ich geb‘ mich nicht damit zufrieden, dass die Kassen genau das behaupten. Hier passiert ein ganz großes Unrecht auf dem Rücken von psychisch erkrankten Menschen und das deutschlandweit. Da kann ich nicht zu schweigen."
Um die Ablehnungsmethoden und -taktiken der Krankenkassen öffentlich zu machen, sammelt Felicitas Bergmann Fallbeispiele aus der gesamten Bundesrepublik. Auf der Internetplattform kassenwatch.de, die im Herbst online gehen wird, soll so aus vielen angeblichen Einzelfällen ein Gesamtbild entstehen. Unterstützt wird sie bei ihrer Arbeit von der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie.
"Auf der Plattform kassenwatch.de wird es zukünftig so sein, dass Kollegen, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, sich dort anmelden können und ihre Fälle melden können. Das Ganze wird natürlich anonymisiert erfolgen. Und wir haben uns ein Kategoriensystem ausgedacht, mit dem wir die Problematiken erfassen werden. Das heißt, die Fälle sind im System verfügbar, und es könnte jetzt zum Beispiel ein Psychotherapeut kommen und sagen: Ich hab einen neuen Patienten von der und der Krankenkasse, und ich schau jetzt mal in das System rein, welche Probleme da bekannt sind. Und dann stellt er vielleicht fest: Bei dieser Krankenkasse passiert es überdurchschnittlich häufig, dass eingereichte Unterlagen verschwinden. Und dann kann er darauf reagieren und dem Patienten zum Beispiel empfehlen, die Unterlagen persönlich abzugeben."
Bereits im Vorfeld der kassenwatch.de-Veröffentlichungen macht die engagierte Therapeutin aus dem Ruhrgebiet regelmäßig mit Tweets auf die Missstände und Mängel in der psychotherapeutischen Versorgung aufmerksam. Eine Solidarisierung der Kollegen untereinander sei mittlerweile deutlich spürbar, sagt sie. Denn eines sei klar:
"Dass eigentlich alle Kollegen mehr oder weniger frustriert von der Reform sind. Die Kostenerstatter, die an der Arbeit gehindert werden, und die kassenzugelassenen Therapeuten, die immer mehr neue Patienten sehen müssen im Rahmen der Sprechstunde und die wahnsinnig frustriert sind, wenn sie diese Patienten am Ende des Tages wegschicken müssen, obwohl sie sehen, dass sie Hilfe brauchen."

Gesundheitsminister Spahn will nachbessern

Auch im Ministerium für Gesundheit ist man sich der zugespitzten Lage durchaus bewusst. Ein Jahr nach der Richtlinienreform erklärte Gesundheitsminister Jens Spahn der Funke Mediengruppe, dass er erneut Reformbedarf sehe. Und zwar soll nun die Bedarfsplanung reformiert werden, was heißt, dass endlich die tatsächliche Anzahl der benötigten Psychotherapeuten in den jeweiligen Regionen ermittelt werden soll.
Zuständig dafür ist der Gemeinsame Bundesausschuss, kurz G-BA, das oberste Beschlussgremium der Selbstverwaltung von Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Krankenhäusern und Krankenkassen. Bereits für Anfang 2017 hatte die Bundesregierung ein Gutachten beim G-BA dazu in Auftrag gegeben. Doch auch der erhobene Zeigefinger des Gesundheitsministers konnte nicht verhindern, dass das Gutachten, das auf das zweite Quartal 2018 verschoben wurde, schon wieder verspätet ist.
"Wir haben gehört, dass das im Herbst kommen soll. Ich bin sehr gespannt und werde dem natürlich sehr deutlich nachgehen. Bisher habe ich noch keine Signale, wann es jetzt ganz konkret vorliegen wird."
Maria Klein-Schmeink ist gesundheitspolitische Sprecherin von Bündnis 90 / Die Grünen. Auch sie hält eine Neuermittlung des Psychotherapiebedarfs für dringend notwendig.
"Wir müssen natürlich schauen: Haben wir denn tatsächlich genügend zugelassene Therapeuten? Und da wissen wir, dass die Bedarfsplanung, auf der ja die Zulassung in allen Regionen beruht, eine ist, die mal künstlich, willkürlich, 1999 gesetzt worden ist. Da hat man gesagt: All die, die jetzt in der Behandlung sind, zu dem Zeitpunkt, die stellen 100 Prozent der Versorgung dar, und das hat man dann einfach fortgeschrieben."

Durchschnittliche Wartezeiten von mehr als 20 Wochen

Ein wenig entsteht der Eindruck, die Krankenkassen versuchen die Kostenerstattung auch deshalb zu reduzieren, weil sie sonst indirekt zugeben würden, dass ein größerer Bedarf existiert als mit den derzeit niedergelassenen Therapeuten abgedeckt werden kann. Nicht einmal durchschnittliche Wartezeiten von mehr als 20 Wochen können angeblich den festen Glauben der Kassen erschüttern, dass die Bedarfszahlen von 1999 noch immer realistisch sind. So erklärt etwa die AOK Nordost:
"Sowohl Berlin als auch Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern sind mit niedergelassenen Psychotherapeuten optimal versorgt. Laut Bedarfsplanung besteht dort sogar eine Sperre für neue Zulassungen."
"Wir wissen ganz genau, dass die Grundlagen für die psychotherapeutische Versorgung nie wissenschaftlich hergeleitet worden sind anhand von echten Bedarfszahlen, sondern das waren einfach abgeleitete Zahlen über eine regionale Streuung. Und das hat nichts mit dem eigentlichen Bedarf zu tun. Deshalb müssen wir da dringend was tun und dafür sorgen, dass es mehr Psychotherapieplätze gibt, und anders als im ärztlichen Bereich, wo wir die Ärzteschaft gar nicht finden, die Hausärzte, den Nachwuchs gar nicht finden, ist es in diesem Bereich so, dass ja Psychotherapeuten da sind. Wir müssen einfach mehr zulassen für die Versorgung."
"Bei Bedarfsplanungen wird manchmal ein Demografiefaktor eingeführt, so eine Rechnung aufgemacht, dass gesagt wurde: Die Älteren, die über 65jährigen, nehmen nur ein Siebtel dessen in Anspruch, was die Jüngeren machen. Und deswegen wurde dann argumentiert: Aha, in einer Gegend, wo mehr Ältere wohnen, braucht man also weniger Psychotherapeuten."
Frank Jacobi ist Professor an der Psychologischen Hochschule Berlin. Für die Bundespsychotherapeutenkammer und die Bertelsmann Stiftung hat er an einem neuen Konzept für eine bedarfsgerechte Planung psychotherapeutischer Praxen mitgearbeitet. Dabei hat er festgestellt, dass nachfolgende Generationen viel aufgeschlossener gegenüber einer Psychotherapie sind als die heute 60- bis 80-jährigen.
"Und dass damit einfach zu rechnen ist, dass dieser Altersfaktor zunehmend weniger Bedeutung haben wird im Vergleich zu heute."

Psychotherapie wird immer akzeptierter

Der Bedarf an psychotherapeutischen Behandlungen hat sich laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts in den letzten zwanzig Jahren etwa verdoppelt. Der Grund dafür sind unter anderem höhere berufliche Belastungen, zum Beispiel gestiegene Anforderungen an die Teamfähigkeit oder Leistungsdruck. Zum anderen genießt die Psychotherapie heute eine größere Akzeptanz und wird deshalb häufiger in Anspruch genommen. Auch das Angebot psychotherapeutischer Behandlungsmethoden ist deutlich gestiegen.
"Wir haben mehr Psychiater als in den neunziger Jahren, deutlich mehr psychologische Psychotherapeuten. So gesehen wurden viele neue Angebote geschaffen, so dass man da überhaupt erstmal die Möglichkeit sieht, sich auch deswegen behandeln zu lassen. In dem Zusammenhang ist mir aber wichtig, dass man nicht sagt: Ja, da wird ein Bedarf durch das Angebot geweckt, dass es eine inadäquate Überinanspruchnahme gäbe, nur weil es jetzt so viele Behandler gibt. An dem Punkt sind wir sicher noch nicht, sondern es hat eher ein wenig aufgeholt in den letzten zwanzig Jahren, dass der wahre Bedarf eher deutlich geworden ist."
Dieser wahre Bedarf hänge von verschiedenen Faktoren ab, erläutert Frank Jacobi, zum Beispiel von soziodemografischen Merkmalen wie Alter, Bildung, Geschlecht oder Arbeitssituation. Schulabbrecher seien zum Beispiel anfälliger für psychische Erkrankungen als Menschen mit Abitur.
Ärtzin hört einer Patientin zu.
Trotz Diagnose lehnen Krankenkassen die Kostenerstattung immer häufiger ab.© imago stock&people
"Das ist ein relativ grober Indikator nur, den wir aus unseren Bevölkerungsstudien haben. Aber in der Tat gibt es manche, die mehr benötigen möglicherweise als andere. Insbesondere niedriger sozioökonomischer Status ist ein Risikofaktor für psychische Störungen, sollte deswegen auch besondere Angebote kriegen. Und in Gegenden, wo es mehr davon gibt, könnte man argumentieren, dass man dort gegebenenfalls das Angebot verbessern müsste."
Etwa fünfzig Prozent aller Psychotherapeuten praktizieren derzeit in großen Städten. Dort leben aber nur 25 Prozent der Bevölkerung. Einen Teil der Praxen von den Ballungsgebieten in die dünn besiedelten Landstriche zu verlegen, wäre allerdings auch keine Lösung, meint Professor Jacobi, weil dort auch die Nachfrage geringer sei. Vielmehr müsse man darüber nachdenken, ob 6 Prozent der ambulanten Gesundheitsausgaben, die derzeit für die Psychotherapie anfallen, nicht zu wenig seien.
"Psychische Gesundheit ist so wichtig und die Krankheitslast durch psychische Störungen, sowohl direkte als auch indirekte Kosten, sind so hoch, dass wir durchaus auch hingehen könnten und sagen, wir können auch die Kapazität von Psychotherapie von diesen 6 Prozent noch weiter steigern und eine gewisse Ausweitung noch mit vornehmen."

Geschäftsmodell Terminvergabe

In den ku’dammnahen Räumen des "Zentrums für Psychotherapie, mentale Gesundheit & Coaching" Novus Via finden Patienten beste Bedingungen vor. Am langen Empfangstresen sitzen zwei Praxishelferinnen. Die Einrichtung ist stilvoll, das Fischgrätenparkett knarrt unter den Fußsohlen.
Zirka 20 Psychotherapeuten und –therapeutinnen der verschiedenen Schulen sowie sechs Coaches arbeiten derzeit bei Novus Via. Das Unternehmen stellt die Räume und kümmert sich um Termine, Abrechnung und Marketing, erklärt Geschäftsführer Ralf Reibiger.
"Da haben wir gedacht: Mensch, das wäre doch gut, wenn man das zusammenfassen kann in einer Firma und einem Therapeuten anbieten kann – gerade im Bereich Kostenerstattung, weil das ja für viele sehr schwer ist. Wenn jemand eine Einzelpraxis hat, also einen Raum, kann derjenige ja ganz schwer eine Terminvermittlung anbieten, weil er nur eine halbe Stunde am Tag erreichbar ist. Dann muss er sich noch um PR und Website kümmern, das wird ganz schön viel. So kamen wir auf die Idee: Wir bieten das als Firma, als Service an."
Nach der Richtlinienreform und der restriktiveren Genehmigungspraxis der Krankenkassen ist es für viele Kostenerstatter schlicht nicht mehr möglich, eigene Praxisräume zu unterhalten. Da zahlen sie lieber knapp 40 Prozent ihres Honorars an ein Unternehmen wie Novus Via, geben das geschäftliche Risiko ab und profitieren von dessen Infrastruktur. 70 Prozent der hier behandelten Patienten sind privat versichert oder zahlen ihre Therapie selbst. Der Rest kommt über das Kostenerstattungsverfahren.
"Was wir eben machen, dass wir den Kassenpatienten eine Information bieten. Wie kommen sie an die Kostenerstattung? Was müssen sie alles tun, welche Unterlagen müssen ausgefüllt werden? Was passiert dann danach, wenn die Unterlagen ausgefüllt zur Krankenkasse geschickt werden? Es ist ja so, dass viele Patienten da eine Absage bekommen. Und danach geht ja dann der Prozess erstmal los."

Klagen für den Therapieplatz

Um Patienten bei diesem Prozess bis zuletzt zu unterstützen, arbeitet Novus Via mit einer Anwaltskanzlei zusammen, mit deren Hilfe die Versicherten gegebenenfalls das gesetzlich festgeschriebene Recht auf Kostenerstattung einklagen können. Doch die wenigsten der zirka zwanzig Therapiesuchenden, die sich pro Woche Hilfe suchend in der Praxis melden, sind dazu in der Lage.
"Das ist für sie eine unheimliche Hürde und noch mal wieder eine Ablehnung, die viele Patienten ja schon durchgemacht haben, das kann sie weiter zurückwerfen. Im schlimmsten Fall ist es so, dass die Patienten dann keine ambulante Therapie mehr wahrnehmen können, sondern stationär behandelt werden müssen, was die Kosten ungleich in die Höhe treibt. Also eine Woche stationäre Behandlung ist genauso teuer wie eine komplette ambulante Therapie. Und nach der stationären Behandlung ist der Patient ja nicht gesund, sondern dann geht ja die ambulante Behandlung eigentlich erst los. Das heißt, die Kosten kommen ja auch noch mal obendrauf", betont Ralf Reibiger. "Also es ist noch nicht einmal wirtschaftlich gedacht, was die Krankenkassenkassen da machen. Ja, ich weiß gar nicht, warum die Krankenkassen so reagieren."
Eine Mitarbeiterin steht in der Psychiatrischen Institutsambulanz an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Braunschweig.
Nicht wirtschaftlich gedacht: Nach dem Klinikaufenthalt geht die ambulante Therapie meist erst richtig los.© dpa
"Das ist auch zynisch, dem Patienten zu sagen: Dann klagen sie mal."
Der Präsident der Berliner Psychotherapeutenkammer Michael Krenz sieht Licht- und Schattenseiten bei der Umsetzung der von ihm mitreformierten Psychotherapie-Richtlinie.
"Die Versorgung wird auf jeden Fall dadurch verbessert. Das Negativum ist: Es geht vom Behandlungskontingent ab. Dass Behandlungskapazitäten fehlen, ist sicher für mich. Entscheidend ist, wie mit dieser Frage politisch umgegangen wird und welche Konsequenzen gezogen werden. Das ist aus meiner Sicht vollkommen offen."

Eine Therpie, die Leben rettet

Das langersehnte Gutachten zur Bedarfsplanung liege nun vor, es müsse allerdings noch abgenommen werden, erklärte auf Anfrage der Gemeinsame Bundesausschuss, in dem die Entscheidung über eine Neuverteilung von Kassensitzen in der Psychotherapie getroffen wird. Man kann nur hoffen, dass es anschließend nicht wieder zu dem üblichen Kostenpoker kommt, bei dem vor allem erkrankte Menschen verlieren, die weiter mit Angststörungen, Burnout oder Depressionen in der Warteschleife hängen.
"Es befinden sich noch alle Mitarbeiter in einem Gespräch, bitte legen Sie nicht auf, Sie werden verbunden, sobald ein Serviceplatz frei wird."
"Ich hab schon vorher gedacht, dass ich auf so was ganz gut anspringe, weil allein schon Gespräche mit Freunden und Verwandten, wo ich mich das erste Mal irgendwie geöffnet hatte, mir sehr geholfen haben."
Tim Gleißner hatte Glück. Nach dreimonatigem Suchen und Warten bewilligte seine Krankenkasse die Kostenerstattung für eine Psychotherapie.
"In der Therapie ist das Ganze noch ein bisschen meinungsfreier und viel fokussierter auf mich, und das hilft mir extrem. Mir haben schon vorher die sehr persönlichen Gespräche geholfen, aber jetzt diese helfen sehr, sehr, sehr viel mehr."
Auch Julia Grossmann hat in der schwer erkämpften Behandlung bei der Therapeutin ihrer Wahl große Fortschritte gemacht. Als es ihr besser ging, besuchte sie den Abteilungsleiter ihrer Krankenkasse, der nach dem Insistieren ihrer Mutter schließlich der Kostenerstattung zugestimmt hatte.
"Und ich hab ihm kurz noch mal gesagt, dass mir diese Therapie das Leben gerettet hat und dass das extrem wichtige Entscheidungen sind, die er da trifft, und dass das überhaupt soweit kommen musste, ist schwierig. Ich wollte mich bedanken, aber ich wollte ihm auch sagen, was für eine Verantwortung er da trägt und was für eine Rolle er für das Leben von Menschen spielt."

Hilfsangebote für Menschen mit Depressionen und ihre Angehörigen:
Wenn auch Sie oder ein Angehöriger sich in einer scheinbar ausweglosen Situation befindet, zögern Sie nicht Hilfe anzunehmen bzw. anzubieten!
Hilfe bietet ihnen unter anderem die TelefonSeelsorge in Deutschland:
0800 111 0 111 (gebührenfrei)
0800 111 0 222 (gebührenfrei)
Die Robert-Enke-Stiftung hat in Zusammenarbeit mit der Klinik für Psychatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Uniklinik RWTH Aachen eine Beratungshotline ins Leben gerufen. Diese Hotline bietet sowohl für Leistungssportler, als auch für Personen, die nicht aus dem Sport kommen, Informationen über Depressionen und deren Berhandlungsmöglichkeiten an und wird wissenschaftlich begleitet.
Beratungs-Hotline der Robert-Enke-Stiftung:
Tel. 0241–80 36 777 (Montag bis Freitag von 09 bis 12 Uhr und von 13 bis 16 Uhr)
Die Robert-Enke-Stiftung hat darüber hinaus eine App entwickelt, die an Depression erkrankten Menschen, unter anderem Notfall-Hilfe per SOS-Notruf anbietet.

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