Was hat das Schröder-Blair-Papier der Sozialdemokratie gebracht?

Von Rolf Hosfeld · 10.11.2009
Es war einmal. Man wollte vieles besser, aber weniges anders machen. Mitte 1999 - in fast allen europäischen Ländern regierte damals die Sozialdemokratie - erblickte ein Papier mit dem vielversprechenden Titel "Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten" das Licht der Öffentlichkeit. Die meisten Menschen, las man in dem bald sogenannten "Schröder-Blair-Papier", hätten sich schon lange von einem Weltbild verabschiedet, das bisher durch Dogmatismen von links oder rechts repräsentiert wurde.
Die Sozialdemokraten, so das tatsächlich von Schröders hemdsärmeligem Kanzleramtsminister Bodo Hombach und Blairs Vertrautem Peter Mandelson verfasste Papier, hätten bisher die Schwächen der Märkte überschätzt und ihre Stärken unterschätzt. "Wir brauchen flexible Güter-, Kapital- und Arbeitsmärkte", um neue Arbeitsplätze schaffen zu können, lautete die Schlussfolgerung. Es war ein ungewöhnlich deutliches Plädoyer für Deregulierung und Liberalisierung und traf auf entsprechenden Widerstand in der Partei und bei den Gewerkschaften.

Das Papier verschwand bald lautlos in der Versenkung. Aber es wurde zum Ausgangspunkt für eine neue Grundsatzdebatte in der SPD, die sich hauptsächlich um eine zeitgemäße Neubestimmung des Begriffs Gerechtigkeit drehte. Plötzlich war von produktivitätssteigernder Ungleichheit die Rede, die gerecht sein könne, wenn dadurch und durch eine Deregulierung des Arbeitsmarkts eine wirtschaftliche Dynamik ausgelöst und bisher Arbeitslose in das Erwerbsleben eingebunden würden. Gerhard Schröder behauptete, es sei eine Illusion gewesen zu glauben, mehr Staat sei die beste Rahmenbedingung für Gerechtigkeit.

Für Sozialdemokraten waren die damit verbundenen Ideen in Richtung eines "aktivierenden" Sozialstaats, der die Menschen weniger vor dem Markt schützen als sie dazu befähigen sollte, auf ihm zu agieren, ein großer Schritt, mindestens so groß wie der Abschied vom Marxismus im Godesberger Programm. Das verspätete Ergebnis des Schröder-Blair-Papiers war in Deutschland die Agenda 2010. Tatsächlich kann sich die Agenda spürbare arbeitsmarktpolitische Erfolge auf ihr Konto schreiben.

Dennoch war sie eigentlich eine vorweggenommene Große Koalition. Schon Angela Merkels Konzept einer Neuen Sozialen Marktwirtschaft aus dem Jahr 2000 las sich so, als habe dabei das Schröder-Blair-Papier heimlich Pate gestanden. Fünf Jahre später begann eine Epoche der Verwechselbarkeit.

Der SPD ist dies, wie man weiß, nicht gut bekommen. Jetzt haben andere Leute dort das Sagen. Zum Beispiel Andrea Nahles, die designierte Generalsekretärin vom linken Flügel, die zehn Jahre nach dem Schröder-Blair-Papier gemeinsam mit dem britischen Labour-Politiker Jon Cruddas ein Gegenpapier verfasste, das sich gewaschen hat.

Von wegen freie Kapitalmärkte, so Cruddas und Nahles: "Die derzeitige Wirtschaftsordnung birgt den Keim des Scheiterns, wenn wir nicht regulieren". Stimmt. Und ist angesichts des GAUs der Finanzmärkte vom letzen Jahr kaum zu bestreiten. Doch die SPD wäre gut beraten, wenn sie sich nun nicht ganz vom alten Schröder-Kurs absetzt. Da lauert bereits die Linke mit wenig Vertrauen erweckenden Versprechen.

Wieso eigentlich, meinte einmal der amerikanische Vordenker Lester Thurow, sollte man nicht gleichzeitig spazieren gehen und Kaugummi kauen oder regulierende mit strukturellen Maßnahmen verbinden können? Wieso kann man nicht anerkennen, dass Schröder und Blair einige wichtige Fragen und Impulse zu verdanken sind, ohne deshalb gleich zu behaupten, sie hätten den Stein der Weisen für eine moderne Sozialdemokratie gefunden?

Was der SPD in Wirklichkeit auf allen Flügeln fehlt, ist eine eigene, zeitgemäße sozialdemokratische Gestaltungsidee.


Rolf Hosfeld, Publizist, Autor, Lektor und Filmemacher,
geboren am 22. Juni 1948 in Berleburg (NRW), studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaften. Hosfeld lebt als freier Autor und Filmemacher auf dem Land bei Potsdam.