Was es heute bedeutet, jung zu sein

Moderation: Liliane von Billerbeck · 11.10.2013
Über die Jugend von heute wird fast nur als "Digital Natives" gesprochen, als Generation der Computer-Auskenner. Dabei zeichnet sie viel mehr aus, sagt Wolfgang Gaiser. Junge Menschen seien heute zum Beispiel durchaus politisch aktiv.
Liliane von Billerbeck: Sie zogen mit Klampfe und Liedern und vor allem mit ihrer Sehnsucht nach einem anderen Leben raus in die Natur, in die Wälder: Vor 100 Jahren fand auf dem Hohen Meißner in Hessen der Erste Freideutsche Jugendtag statt. Heute beginnt genau dort wieder ein großes Treffen der Jugendbewegten, Pfadfinder, Wandervögel und anderer Jugendbündnisse, und sie lassen eine Tradition hochleben, die es so Ende des 19. Jahrhunderts in keinem anderen Land gab: Angetrieben von Reformideen träumten diese Jugendlichen vom freien Menschen. Durch die Gründung des Wandervogels wurde die Bewegung im jungen 20. Jahrhundert zu einem deutschlandweiten Phänomen und es gibt sie bis heute. Dabei scheinen die wandernden Jugendlichen und ihr Credo "Zurück zur Natur" mit dem gängigen Klischee der technikverliebten Digital Natives zu kollidieren. Sind diese jungen Wanderer eine Randgruppe? Und welchen Einfluss hat Jugend auf unsere alternde Gesellschaft? Darüber habe ich mit dem Jugend- und Partizipationsforscher Wolfgang Gaiser gesprochen. Herr Gaiser, "Aus grauer Städte Mauern" lautete der damalige Slogan der Jugendbewegung. Welche Tradition haben diese naturliebenden Jugendbewegungen eigentlich?

Wolfgang Gaiser: Es war sicher nicht bloß "Aus grauer Städte Mauern", sondern das war auch ein Weg eigentlich von sehr hierarchisierten anderen Organisationen oder uniformierten anderen Jugendorganisationen. Also man wollte quasi mehr Freiheit und hat diese Freiheit in der Natur gesucht.

von Billerbeck: Ab heute treffen sich ja Jugendbewegungen in Hessen auf dem Hohen Meißner – wie damals schon, vor 100 Jahren – zum Freideutschen Jugendtag. Jetzt ist das ein großes Happening. Allein das Programm umfasst 15 Seiten. Woher kommt denn diese Bewegung?

Gaiser: Die Bewegung hat sicherlich gewisse antiautoritäre Züge gehabt. Also, sie wollten auch im Vorfeld oder vor dem 100-jährigen Jubiläum der Völkerschlacht bei Leipzig quasi ein alternatives Fest veranstalten. Und von da aus ist sozusagen der Wunsch, eigene Ideale zu leben, die Triebkraft gewesen.

von Billerbeck: Worin unterschieden sich denn diese Jugendlichen, diese Jugendbewegungen von anderen Jugendbewegungen damals?

Gaiser: Sie wollten beispielsweise explizit auch auf Alkohol verzichten, sie wollten auf Nikotin verzichten. Also von da aus nicht das gängige Klischee der leicht angetrunkenen studierenden Jugend in ihren Verbänden, sondern was anderes machen. Lieber – auch wenn es regnet – hinaus in die Natur.

von Billerbeck: Nun gibt es jetzt wieder solche oder immer noch, besser gesagt, solche Jugendbewegungen, nach 1945 hat es ja da einen Neuanfang gegeben. Und wenn man sich diese wandernden Jugendlichen, um es mal so platt zu sagen, ansieht: Sind die heute eher eine Randgruppe?

Gaiser: Sie sind eigentlich keine Randgruppe. Also innerhalb der Jugendbewegungen, innerhalb der Jugendverbände, sei es jetzt evangelisch, katholisch oder Landjugend, spielt durchaus das Hinaus in die Natur, zelten, Lagerfeuer machen, spielt eine große Rolle. Wobei Sie ja vorhin die Digital Natives angesprochen haben: Das heißt natürlich nicht, dass man nach so einer Fahrt dann nicht wieder ins Netz geht oder bei so einer Fahrt auch mal auf dem Handy schaut, was sich sonst so tut.

von Billerbeck: Also das verbindet man dann durchaus?

Gaiser: Das verbindet man, und heute ist eigentlich dann auch das nicht konträr, sondern die wandernde Jugend organisiert sich, vernetzt sich dann auch mit den modernen Informationstechnologien.

von Billerbeck: Nun haben Sie gesagt, diese wandernden Jugendlichen sind keine Randgruppe. Gibt es denn heute noch eigentlich eine richtige Jugendbewegung?

Gaiser: Es gibt Facetten von Jugendbewegungen. Also ich denke, sowohl die studierende Jugend hat sich ja organisiert, um gegen die Studiengebühren zu protestieren, die gewerkschaftliche Jugend organisiert sich, um Übernahmemöglichkeiten zu verbessern und derartige Dinge. Aber es ist eher in viele Facetten aufgespalten.

von Billerbeck: Es gibt also eine Jugendbewegung nur für Einzelinteressen?

Gaiser: Einzelinteressen würde ich nicht sagen, aber man organisiert sich eher um seine gesellschaftliche Lage herum, und die ist nun mal für die studierende Jugend anders als für die arbeitende Jugend.

von Billerbeck: Deutschlandradio Kultur. Über den Einfluss der Jugend auf unsere alternde Gesellschaft spreche ich mit dem Jugend- und Partizipationsforscher Wolfgang Gaiser. Oft wird ja die Jugend der Gegenwart fast nur noch als reine Generation der Digital Natives bezeichnet, also eine Generation, die die digitalen Medien quasi mit der Muttermilch aufgesogen hat. Stimmt das eigentlich, dieses Bild?

Gaiser: Das Bild stimmt einerseits, also der souveräne Umgang mit den neuen Technologien, es heißt aber dann auch wieder, dass man die für die quasi eigene Qualifikation nutzt. Man informiert sich genau und breit über die Dinge, die einem wichtig sind, oder auch, wenn man ein Schüler ist oder Student, hat quasi ein breites Informationsspektrum durch diese neuen Medien und muss nicht in irgendwelchen Bibliotheken Warteschlange stehen, um dann an die Bücher zu kommen.

von Billerbeck: Nun gelten Jugendliche ja durchaus als Experten, eben was Digitalisierung und was neue Medien betrifft. Aber ist das die einzige Expertise, die Jugendliche heute noch haben?

Gaiser: Auf gar keinen Fall. Ich denke, die Fähigkeit, sich sozial zu vernetzen, hat durchaus positive Seiten. Und ein Aspekt ist, zu beachten, dass sie natürlich mit der hohen Mobilität, die die junge Generation heute ausmacht, das dann leichter fällt, im Ausland zu sein, Erfahrungen zu sammeln in anderen Ländern und gleichzeitig verbunden zu bleiben mit dem Freundeskreis, der einem wichtig ist.

von Billerbeck: Wir sprechen über die heutigen Jugendbewegungen. Nun muss man sich aber umschauen: Wir sind eine alternde Gesellschaft. Da fragt man sich: Wie viel gesellschaftlichen Einfluss hat die Jugend denn heute eigentlich noch?

Gaiser: Die Jugend ist natürlich sozusagen als Wählergruppe eine relativ kleine Gruppe. Die älteren Bevölkerungsschichten sind zahlenmäßig mehr und von da aus wird ihnen auch sozusagen als Wähler mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Es ist aber durchaus zu sehen, dass von sämtlichen politischen Parteien der nachwachsenden Generation durchaus Aufmerksamkeit geschenkt wird. Problem ist vielleicht eher, dass der Blickwinkel auf die jungen Leute als Humankapital gerichtet wird. Man braucht sozusagen kompetente, junge Nachwuchskräfte, um im Weltmarkt bestehen zu können.

von Billerbeck: Trotzdem ist es ja so, dass die Gruppe der Jungen im Verhältnis zu der der Älteren immer kleiner wird. Da könnte sich doch Stoff für einen neuen Generationenkonflikt verbergen.

Gaiser: Dafür sehe ich eigentlich wenig Anzeichen. Einerseits: Innerfamilial ist festzustellen, dass sozusagen über Jahrzehnte hinweg die Harmonie eher zunimmt und die Konflikte weniger werden, also innerfamiliale Generationskonflikte werden immer seltener. Es gibt natürlich bei der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums einen sozusagen strukturellen Generationenkonflikt, dass nämlich in dem Maße, wie die heutige Rentnergeneration über Mittel verfügt, das die jetzige Jugendgeneration nicht so haben wird. Aber diese Dimension wird von den jungen Leuten heute kaum thematisiert.

von Billerbeck: Man erlebt ja, dass Jugendliche zwar für bestimmte Einzelthemen, auch große Einzelthemen wie Umweltfragen oder Frieden auf die Straße geht, aber eben genau nicht für solche Dinge, die sie sehr betreffen werden, wie die eigene Rente. Wie kommt denn das?

Gaiser: Das ist die Präventivwirkung des Nichtwissens, also weil sie sich natürlich sozusagen mit ihrer Jugendphase beschäftigen, Qualifikationen sammeln, sich auch erholen wollen, Freunde treffen wollen, aber sich noch nicht mit ihrem künftigen Rentner-Dasein beschäftigen.

von Billerbeck: Es ist einfach zu weit weg?

Gaiser: Ist zu weit weg, ja.

von Billerbeck: Welche Bedeutung hat denn Jugend heute noch, diese Kategorie, in unserer alternden Gesellschaft?

Gaiser: Es ist sicher so, dass eher Jugend und Jungsein von außen her idealisiert wird und man quasi nur die positiven Seiten sehen möchte.

von Billerbeck: Man ist schön, gesund und hat noch alles vor sich?

Gaiser: Genau. Und sozusagen der Stress, den die Jugendphase heute ausmacht, also die Verdichtung und Formierung der Jugendphase, was die Jugendlichen heute erleben, das wird von außen gar nicht so wahrgenommen.

von Billerbeck: Müsste da mehr das Augenmerk darauf gerichtet werden, wie schwierig es heute ist, jung zu sein?

Gaiser: Es müsste an den Stellen, wo Jugendliche ihre Interessen artikulieren, müsste dem mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden.

von Billerbeck: Das sagt der Jugendforscher Wolfgang Gaiser 100 Jahre nach dem Ersten Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner, wo sich seit heute wieder Jugendverbände treffen. Herr Gaiser, herzlichen Dank!

Gaiser: Danke auch!

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