Was die Gesellschaft bewegt
Während vor einigen Jahrhunderten vor allem Gelehrte und der Klerus die öffentlichen Diskurse bestimmten, kann man heutzutage kaum noch von "einer öffentlichen Meinung" sprechen. Zwar lässt sich mithilfe der modernen Demoskopie ermitteln, welche Themen eine Gesellschaft bewegen, doch der weitgehende Konsens wurde angesichts der zahllosen Vermittlungskanäle in der modernen Mediengesellschaft durch eine Pluralität unterschiedlichster Meinungsbilder ersetzt.
"Die Wölfe heulen bevorzugt vor dem abendlichen Aufbruch zur Jagd, aber auch früh am Morgen, als Auftakt zur morgendlichen Aktivitätsphase. Das Heulen eines ranghöheren Wolfes ist ein starker Auslöser selbst zu heulen. Unterdrückte und ausgeschiedene Wölfe beteiligen sich nicht. Es ist also überlebenswichtig, sich im Rudel nicht zu isolieren."
So zitiert die Publizistin Elisabeth Noelle-Neumann den Ethologen Erik Zimen, der das Sozialverhalten der Wölfe untersucht hat.
In ihrem Buch "Die Schweigespirale - Die Entdeckung der Öffentlichen Meinung" beschreibt die Wissenschaftlerin Beobachtungen aus dem Tierreich, die ebenso die menschliche Gesellschaft prägen. Auch den Schweizer Biologen August Forel zitiert sie:
"Der Mut jeder Ameise wächst bei derselben Art in genauem Verhältnis zu der Zahl ihrer Gefährten und Freunde und nimmt im entsprechenden Verhältnis mit der Trennung von ihnen ab. Dieselbe Ameise, die sich zehnmal töten lassen wird, wenn sie von ihren Gefährten umgeben ist, wird sich furchtsam und vorsichtig zeigen, wenn sie wenige Meter von ihrem Nest allein ist. Ähnliches gilt bei Wespen."
Die Autorin kommt zu der Frage:
"Müssen wir uns eine Fiktion von kritisch urteilender ‚öffentlicher Meinung’ zurechtlegen, weil die wirklichen Kräfte, die eine menschliche Gesellschaft zusammenhalten können sich mit unserem Ich-Ideal nicht vertrügen?"
Meinungsbildung, Meinungsforschung, Volksmund, Propaganda, Werbung, Volksverhetzung oder Skandal – alle diese Synonyme bringen eines zum Ausdruck: Hier wird in der menschlichen Gesellschaft etwas bewegt. Hier wird Meinung "kundgetan". Seit Menschengedenken thematisiert, gibt es keine eindeutige Definition.
Stölzl: "In der Demokratie, lange Zeit hat man gesagt, dass ist das Gespräch der Klugen, die Entscheidungen treffen."
Der Historiker Christoph Stölzl.
Stölzl: "Dann kam die Forschung und sagte: ‚Na ja, da gibt es aber auch ganz unkluge, da gibt es Bauchmeinungen, da gibt es Volkswitz, da gibt es Untergrundmeinungen’, und seitdem weiß man, dass es Sektoren gibt. Ich würde nicht nur sagen, Geschichte von ganz unten bis ganz oben, sozusagen ganz oben die Weisheit von Richard von Weizsäcker und unten die ungeformte Meinung der Leute ohne Namen, dieses Pyramidensystem stimmt nicht mehr, sondern in der pluralistischen Gesellschaft gibt es viele ‚Inseln’ von Meinungen nebeneinander."
Leinemann: "Eigentlich gibt es keinen Konsens mehr über das, was geschieht. Ab und zu passiert etwas, was allgemein eingeordnet werden muss und dann fängt der Kampf um die Deutungsmacht an und das ist dann der Kampf um die Herstellung der öffentlichen Meinung."
Jürgen Leinemann, Autor beim Nachrichtenmagazin "DER SPIEGEL".
Leinemann: "Also ich denke, es hat zwei große Veränderungen gegeben: Die eine Veränderung ist mit dem Fernsehen gekommen. Das Fernsehen hat alles verändert. Die ganze Medienwelt und das Bild der Öffentlichkeit und auch das, was man öffentliche Meinung nennt. Und das zweite sind die kommerziellen Fernsehsender, die dazu gekommen sind in den 80er Jahren."
Seit dem Mittelalter, seit der Erfindung des Buchdrucks konnten Meinungen in vielfacher Ausfertigung in Form von Flugblättern oder Zeitungen unter das Volk gebracht werden. Doch wer prägte zum erstenmal den Begriff: öffentliche Meinung?
"Venedig 1744 - Frankreich hat Maria Theresia, der Kaiserin von Österreich den Krieg erklärt. - Jean Jacques Rousseau - ein junger Sekretär des französischen Botschafters - schreibt an den französischen Außenminister, er habe einen venezianischen Adligen gewarnt, weil dieser in der öffentlichen Meinung als Österreich-Sympathisant gelte ..."
Rousseau gebraucht den Ausdruck öffentliche Meinung als Urteilsinstanz und die Historiker sind sich einig, dass hier der Begriff geboren wurde. Doch öffentliche Meinung in der menschlichen Gesellschaft ist viel älter.
Stölzl: "”Also unser Urbild der Demokratie stammt ja nun aus dem alten Athen, aus dem alten Rom – all jenen Stadtstaaten, wo relativ wenige Menschen gemeinsam ziemlich dauernd beieinander waren und tatsächlich in Volksversammlungen ‚Mund-zu-Mund’, ‚Ohr-zu-Ohr’ ihre Meinungen austauschen konnten, dass tatsächlich Menschen gleicher geistiger Ausstattung, gleich gescheit, gleich kompetent, gleich entscheidungsfreudig, tatsächlich gemeinsam in öffentlicher Meinung einen Diskurs führen, ein Gespräch und danach Entscheidungen pro oder kontra führen. Dazwischen gibt es natürlich lange, so genannte ‚dunkle’ Jahrhunderte, wo die öffentliche Meinung überhaupt nur auf Eliten beschränkt war. Im Mittelalter ist die öffentliche Meinung die Meinung der Clerici, die in den Klöstern sind, die schreiben können, die auf lateinisch über ganz Europa hinweg ihre Meinungen austauschen und sich darüber keinen Deut darum scheren, was der Bauer, der auf dem Acker hinter dem Pflug hergeht, für eine Meinung hat. Der hatte die Meinung zu haben, den Mund zu halten und zu dienen und als Grundhöriger seine Pflicht zu tun.""
Noelle-Neumann: "Es gibt natürlich Themen, bei denen das ganze Land derselben Meinung ist. Und das können wir natürlich messen durch unsere regelmäßigen demoskopischen Umfragen, wenn wir zum Beispiel eine Umfrage rausgeschickt haben, da kommen die ersten Fragebögen zurück. Wenn wir die ersten zwanzig, dreißig Fragebögen angeguckt haben, dann wissen wir, wie die ganze Umfrage ausgehen wird. Für ganz Deutschland."
Elisabeth Noelle-Neumann ist Mitgründerin des Instituts für Demoskopie in Allensbach am Bodensee, heute eine Stiftung. Ihr ganzes Leben lang widmete sie sich der Meinungsforschung.
Noelle-Neumann: "Die Demoskopie ist eine außerordentlich interessante Methode, um sich unter anderem über die öffentliche Meinung zu informieren. Man muss allerdings fragen können. Und, Fragebogen machen, ist nicht leicht."
Stölzl: "Also diese ungeheuer raffiniert ausgeklügelten Methoden mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung und der soziologischen Vermutung und die dann austariert werden, muss mit mathematischen Gesetzen ... das alles haben die Amerikaner früh erfunden, auch um den amerikanischen Markt überhaupt erschließbar zu machen. Es kommt ja aus der Wirtschaft, zunächst die Frage, du musst wissen: ‚Was wollen deine Kunden?’"
Schon in den dreißiger und vierziger Jahren gaben in den USA große Firmen Meinungsumfragen in Auftrag, um zu erfahren, wie sich ihre Produkte verkaufen würden. Die Ergebnisse wurden landesweit in den Printmedien veröffentlicht.
Noelle-Neumann: "Ich habe in Amerika entdeckt, wenige Wochen nach meiner Ankunft, dass ein Mann namens George Gallup jede Woche in ungefähr 110 amerikanischen Zeitungen eine Kolumne schreibt über Ergebnisse der Umfragen."
Gallup machte sich die Erkenntnis zunutze, dass eine Stichprobe von Amerikanern, die in ihrer Zusammensetzung demografische Charakteristiken der Bevölkerung widerspiegelt, ziemlich akkurat auch die Volksmeinung wiedergibt.
Noelle-Neumann: "Ich habe Gallup erst kennen gelernt in der Mitte der 50er Jahre. Und dort sagte er zu mir: ‚Ihr Buch – ich hab ein Buch geschrieben, meine Dissertation erschien als Buch – Ihr Buch ist das erste Buch in der Welt, was über meine Methode geschrieben worden ist."
Stölzl: "”Das brachte Frau Noelle-Neumann sehr früh nach Deutschland und hat in der Tat als Pionierin der Meinungsforschung, ich würde sagen, auch ganz viel Gutes getan, weil sie die Tatsache, dass Meinungen sich ändern, dass auch das Schweigen eine Meinung beeinflusst, viele solche Dinge, die uns geheimnisvoll erschienen sind, zur Normalität erklärt hat, wissenschaftlich. Und die Bundesrepublik hat diese Gelassenheit gegenüber den politischen Strömungen sehr stark auch der Meinungsforschung zu verdanken.""
Leinemann: "Wir entscheiden uns, für die Auswahl unseres politischen Personals sehr häufig nach den Kriterien, nach denen man eine Talkshow besetzt: ‚Wie der schon aussieht!’ ‚Wie die schon redet!’ ‚Der kriegt ja keinen klaren Satz hin!’ oder ‚Die stottert immer so, wenn ich die schon sehe und bei der Frisur!’ und weiß der Teufel, alles so was. Und wir wissen doch, wie Urteile zustande kommen. Da gibt es ja eine wissenschaftliche Untersuchung, dass 55 Prozent ist Körpersprache bei der Wirkung und welchen Eindruck jemand macht und, glaube ich, 38 Prozent ist Modulation und Artikulation, nur sieben Prozent sind Fakten! Sieben Prozent ist Inhalt! Also, bevor jemand den Mund aufmacht, haben wir eigentlich zu 95 Prozent unser Urteil schon fertig!"
"Mitarbeiter einer Bierbrauerei im kanadischen Ottawa haben eine neuartige Meinungsumfrage zur bevorstehenden Parlamentswahl entwickelt. Seit einiger Zeit bieten sie Flaschen mit den Konterfeis der vier wichtigsten Kandidaten an. An dem Absatz der jeweiligen Flaschen wollen sie erkennen, wer gerade in der Wählergunst vorne liegt. Die Methode, sich das Stimmungsbild selbst zusammenzubrauen, beeindruckt auch die Politiker: So versucht der lokale Kandidat der Konservativen, mit dem Kauf eigener Flaschen die Zahlen für seine Partei in die Höhe zu treiben."
Bundesrepublik Deutschland, in den 1950er und 60er Jahren.
Menschen mit Fragebogen im Gepäck durchstreifen das Land, gehen von Haustür zu Haustür, bitten um die Meinung der Leute. Ein ermüdender Alltag für die so genannten Befrager. Heute lächelt man darüber, technisch läuft alles anders - besser, die Befragung ist zudem oft mit einem lukrativen Gewinnspiel verbunden, doch geht es nach wir vor nur um die eine Frage:
Noelle-Neumann:"Klima! Man misst auf diese Weise das Klima. Ich frage nicht nach der eigenen Meinung des Befragten, sondern was sie eben wahrnehmen. Zum Beispiel - ich zitiere jetzt die Frage- ich erzähle Ihnen jetzt eine Geschichte: Da war kürzlich eine Veranstaltung. Der eine Redner sprach für die CDU. Der andere Redner sprach für die SPD. Einer von den beiden wurde ausgebuht. Welcher? - Sehen Sie, das ist eine Frage. Nichts Gelehrtes oder Schöngeistiges, sondern einfach ‚ausgebuht’!"
Leinemann: "Das ist eine Art von Einfalt, mit der wir in den 50er Jahren hier Europa sozusagen in zwei Teile geteilt haben, aus möglicherweise guten politischen Gründen, oder auch schlechten. Das hat das Leben auch ziemlich einfach gemacht. Nur, einer komplizierten modernen Gesellschaft wird dieses Bild in keiner Weise mehr gerecht. In keiner Weise."
Noelle-Neumann: "Wissen Sie, es ist so mit der Schweigespirale: Wenn eine von zwei Seiten sich akzeptiert fühlt und deswegen auch ihre Meinung laut und deutlich sagt, dann hat sie das Gefühl, sie spricht die allgemeine Meinung aus. Und wenn dann die eine Seite viel und deutlich und selbstbewusst ihre Meinung ausspricht, und die andere Seite sie ganz leise und etwas schüchtern vertritt, und die eine Seite spricht so laut, dann wirkt sie stärker als sie ist. Und die andere Seite ist so schüchtern und deswegen wirkt sie schwächer, als sie wirklich ist. Wenn nun die eine Seite stärker wirkt, dann schließen sich andere Menschen an. Der Mensch, das ist ein großes Thema für mich, ist ein soziales Wesen."
Stölzl: "”Also ich glaube, alles, was auf ein sehr einfaches System hin tendiert, irrt. Es ist sehr, sehr kompliziert und es kann man deswegen sehen, dass sich vor Wahlen die Demoskopen, also die Wissenschaftler, die die so genannte ‚öffentliche Meinung’ erforschen, sehr, sehr oft irren.""
Noelle-Neumann:"... dass die Menschen die ganze Zeit aufpassen, wie andere auf sie reagieren. Freundlich oder unfreundlich und bereit zu Billigung, bereit zu Missbilligung. Auf diese Weise, indem eine Seite stärker erscheint, als sie ist und die andere schwächer, als sie ist, da bildet sich eine Schweigespirale heraus. Und Kohl hat mir mal erzählt, er war in Japan, da war gerade eine neue Wahl gewesen für uns, Bundestagswahl und der bis dahin amtierende japanische Ministerpräsident hatte verloren. Und daraufhin fragte Kohl ihn: ‚Was ist denn da schief gelaufen?’ Und da sagte der Japaner zu ihm: ‚Na Sie wissen es doch. Wir hatten die Schweigespirale gegen uns!’ Das heißt, wir können um den ganzen Globus fahren, alle Lexika, die Sie irgendwo finden, aufschlagen. Da gibt es die ‚Schweigespirale’."
Noelle-Neumann: "Wissen Sie, man verwechselt sehr leicht öffentliche Meinung und veröffentlichte Meinung. Die Journalisten, das ist die veröffentlichte Meinung."
Wird aus der veröffentlichten Meinung der Journalisten irgendwann kraft ihrer Medienpräsens die öffentliche Meinung? Die Macht der Medien bringt eine neue Komponente. Wo entsteht aber die öffentliche Meinung, wird sie von der veröffentlichten beeinflusst? Wer lässt sich wann und wo, von wem wie beeinflussen. Oft wird die öffentliche Meinung gegen die veröffentlichte ausgespielt, werden ab- oder aufwertende Bilder vom "Stammtisch" oder von der "Schweigenden Mehrheit" benutzt.
Ja wer benutzt denn wen oder was gegen wen oder für was?
Leinemann: "Man kann das steuern und sagen: ‚Ich hole mir für meine Meinung auch mediale Schützenhilfe.’ Auch da gibt es wieder mehrere Methoden. Entweder ich rufe die alle zusammen und mache, wenn ich jetzt in irgendeiner Position bin, in einer öffentlichen, amtlichen Position, dann mache ich ein Hintergrundgespräch und hole die Fachjournalisten oder die Büroleiter oder die Chefredakteure zu einem Hintergrundgespräch. Bei Konrad Adenauer waren dass die ‚Teegespräche’ früher. Und dann wurde dann also mal ein bisschen sondiert. Und dann wurde dann auch gesagt: ‚Wir müssen uns jetzt auf das und das einstellen und das wird jetzt kommen…’ Und je nachdem: ‚Dass kann man also so ganz sagen, das müsst ihr nur wissen, dass dürft ihr aber nicht schreiben’ oder aber ‚Das dürft ihr zwar schreiben, aber ihr dürft nicht schreiben, woher ihr das wisst’, dann wird es sehr manipulativ."
Als langjähriger Kenner der Politikszene hat Jürgen Leinemann vor allem in den USA erfahren, wie veröffentlichte Meinung funktioniert. Im Weißen Haus erlebte er, wie während des Vietnam-Krieges Henry Kissinger regelmäßig die Chefredakteure der gesamten amerikanischen Provinzpresse nach Washington berief.
Leinemann: "Dann wurden die in den blauen Salon gesperrt, Tür zu. Und dann hat Kissinger ihnen einen großen Vortrag mit Geheimdienstdokumenten gezeigt, warum der Vietkong und jetzt in Kambodscha eine große Offensive vorbereitet wird und was die alles machen und so. Und sagte dann anschließend: ‚Das, was ich Ihnen hier heute gesagt habe, das dürfen Sie gar nicht wissen. Das wissen Sie ganz sicherlich nicht aus dem Weißen Haus, nicht von mir. Und ich will keine Zitate darüber wissen, woher es kommt. Aber ich sage Ihnen das als Vorbereitung. Und übermorgen fangen wir mit der Bombardierung an.’
Und wie durch ein Wunder standen am nächsten Tag in allen amerikanischen Zeitungen die Leitartikel der klugen Chefredakteure, die auf einmal sagten: ‚Man, was braut sich da eigentlich in Kambodscha zusammen? Da müssen die doch aber mal einschreiten. Und wann wird eigentlich bombardiert?’ Und dann wurde bombardiert."
Stölzl: "Also die Meinung des reichen Zeitungsbesitzers, die niemand kaufen will, die wird auch niemand lesen. Also ist immer ein Geben und Nehmen, eine Wechselwirkung, eine Echowirkung zwischen der tatsächlichen Meinung, die sich bei den Millionen eines modernen Publikums verändert durch ganz bestimmte Dinge. Das heißt, diejenigen, die mit der öffentlichen Meinung umgehen, also diejenigen, die auch Meinungen veröffentlichen und sie spiegeln in den Medien, können nicht so selbstgewiss sein, dass sie irgendjemandem etwas aufdrücken können."
Leinemann: "Ja, aber das ist auch etwas, was die Presse dann entscheidet, ob sie das mitmacht oder nicht. Zum Beispiel die Washington-Post hat das nur zwei- oder dreimal mitgemacht und dann hat sie gesagt: ‚Das kann so nicht gehen, so nicht!’ Und die sind dann nicht mehr rein gegangen, die sind nicht mehr mit gegangen, haben der Einladung nicht Folge geleistet, sondern haben hinterher, wenn das stattgefunden hat, bei den Chefredakteuren recherchiert und haben gesagt: ‚Was hat Henry denn erzählt?’ Und dann haben sie ihre Codes gehabt und die genauen Zitate und alles, was da war, und am nächsten Tag stand in der Washington-Post: ‚Henry Kissinger said yesterday:" Und dann kamen auf einmal die Zitate und die CIA-Erkenntnisse und all so was. Dann hörten diese Veranstaltungen auf."
Stölzl: "”Das hat man ja bei Wahlkampagnen immer gesehen, wenn große Zeitungsverlage so eindeutig für eine Partei Stellung genommen haben, war das möglicherweise kontraproduktiv und die Menschen sagten: ‚Nun erst recht nicht. Ich habe meinen eigenen Kopf.’ - Will sagen: Es sind immer Momentaufnahmen und es gibt von Ernest Renaud, einem großen französischen Sozialwissenschaftler des 19. Jahrhunderts, das schöne Wort: Die Nation sei plébiscité to le jour, also sozusagen, jeden Tag gibt es plébiscité und jeden Tag fällt auch die Vorstellung von der Nation, wer wir sind, was wir wollen, verschieden aus.""
"Um die sinnvolle Entsorgung der Kaugummis bemühen sich die Stadträte im südenglischen Bournemouth: An hundert Laternenpfählen der Stadt haben sie Plakate umstrittener britischer Politiker angebracht. Unter dem Slogan ‚You Chews’ - es ist deine Wahl - werden die Einwohner dazu angehalten, ihre alten ausgelutschten Kaugummis auf einem Plakat zu platzieren. So wird die Umwelt geschont und gleichzeitig dienen sie als Markierungsmarken im öffentlichen Meinungsaustausch auch noch höchst demokratischen Zwecken."
Stölzl: "”Jemand hat gesagt, die öffentliche Meinung sei eigentlich die Freiheit von 30 reichen Leuten, ihre Meinung zu veröffentlichen und in die Zeitungen zu drucken. Das mag vielleicht einmal in der früheren Zeit gestimmt haben, aber wenn man die Entwicklung unserer Massenpresse ansieht in den freien Gesellschaften, dann stimmt das sicher so nicht. Weil die Redaktionen sich ja große Unabhängigkeit erkämpft haben, und weil Zeitungen verkauft werden müssen.""
Gerhard Schröder aus TV vom Wahlsonntag, September 2005: "Glauben Sie im Ernst, dass meine Partei auf ein Gesprächsangebot von Frau Merkel bei dieser Sachlage einginge, in dem sie sagt, sie möchte Bundeskanzlerin werden? Ich meine, wir müssen die Kirche doch mal im Dorf lassen ..."
Was war los am Wahlsonntag 2005 als Gerhard Schröder – dem nachgesagt wird, er habe einen guten Instinkt für öffentliche Präsenz – auf einmal gegen alles Demokratieverständnis verstieß und die Öffentlichkeit schockierte:
Schröder aus TV vom Wahlsonntag, September 2005: "Disput um Medienmacht und Medienkampagne"
Leinemann: "Das war eine Mischung von Vorsatz und Blackout. Dass er aus dem Ruder gelaufen ist, war der Blackout. Dass er diese direkte Konfrontation gesucht hat mit diesem Thema, dass er Angela Merkel ins Gesicht sagt: ‚Sie werden nicht Kanzlerin, Sie haben doch noch mehr verloren als ich!’ und sonst was, das war Absicht. Und dass er gleichzeitig auch sich mit den Medien anlegen wollte, dass war auch Absicht. Er hatte sich geärgert darüber, dass sie alle ihn schon vorher unterschätzt hatten und abgeschrieben hatten und dass sie ja auch schon Angela Merkel mit ‚Frau Bundeskanzlerin’ anredeten und ihn mit ‚Herr Schröder’. Es ging ja los, als der Brender im Fernsehen sagte: ‚Herr Bundeskanzler’. Und dann sagte er: ‚Ach, jetzt auf einmal!’ Und dann ging die ganze Sache los."
Schröder aus TV vom Wahlsonntag, September 2005: " ... dass niemand außer mir in der Lage ist, eine stabile Regierung zu bilden..."
Leinemann: "Schröder hat, wenn Sie so wollen, Wahlkampf gegen sich selber gemacht, der hat seine eigenen Reformpläne, im Wahlkampf zumindest, ignoriert, wie auch immer, es ging in der direkten Auseinandersetzung dann auf einmal um Personen. ‚Wollt ihr die oder wollt ihr mich?’ So. Da sind wir wieder dicht bei Frau Noelle-Neumann."
Stölzl: "Mich hat zum Beispiel schwer beeindruckt, dass Frau Noelle-Neumann zur Erklärung der Wahlniederlage von Helmut Kohl 1998 herausgefunden hat, dass irgendeine Zahnarzt-Pauschale, also irgendeine Arzt-Pauschale, in den Tiefen der Gesellschaft die Menschen unheimlich sauer gemacht hat auf die Regierung. Also wir dachten immer wie intellektuell: Na ja, es war ein Überdruss an Helmut Kohl und der Politik, er war zu lange da oder er hat so gesprochen oder so gesprochen. Mag alles sein in unserem mittelständisch-intellektuellen Kreisen, aber in Wirklichkeit hatte der Legitimitätsverlust von Helmut Kohl offenbar sehr stark mit sozial-politischen Eingriffen zu tun. Und das ist gut so, wenn das Politiker wissen, weil dann die Politik weniger ideologisch wird. Weniger Schlagworte geprägt, weniger empathisch, weniger panisch und mehr auf die wirklichen Neigungen der Menschen ausgerichtet, die eben ganz handfest-pragmatisch ihrem Glück entlang denken und handeln.""
"Eine 83 Jahre alte Australierin hat einen Strafzettel bekommen, weil sie zu langsam über die Straße gegangen ist, berichtete die Tageszeitung ‚The Daily Telegraph’. Ein ranghoher Polizeibeamter erklärte mittlerweile, in Anbetracht des ‚öffentlichen Interesses’ an dem Fall sei der Strafzettel zurückgenommen worden."
Stölzl: "”Ich halte überhaupt den Ausdruck ‚öffentliche Meinung’ für wissenschaftlich eher unhaltbar in der heutigen Zeit. Weil die Grenze zwischen der privaten Meinung und der öffentlichen ja ganz durchlässig geworden ist. Wir haben zwar, unserer Verfassung folgend, die Unverletzlichkeit der Wohnung, die Unverletzlichkeit meiner Meinung, ich muss die niemandem sagen, aber die Methoden zur Erforschung entsprechend der Wahrscheinlichkeitsrechnung sind eben so, dass wenn man 2000 Wähler befragt, dann, merkwürdigerweise genau weiß, oder zu wissen glaubt, was die restlichen Millionen glauben. Und das ist ja nicht ganz zielsicher, gerade bei Wahlen, wenn es um wenige%e geht. Erdrutschartige Irrtümer gibt es nicht, aber fünf Prozent rauf oder runter, irrt man sich oft. Aber insgesamt wissen die Meinungsforscher doch ziemlich genau Bescheid über das so genannte ‘Meinungsklima’ in einem Lande.""
Leinemann: "Ich habe früher immer gedacht, was uns zusammen hält, ist die gemeinsame Sprache. Aber hinterher habe ich erfahren, was uns trennt, ist die gemeinsame Sprache. Weil hinter jedem Begriff, was sozial ist und was Freiheit ist und was Demokratie ist und was Solidarität ist und was Toleranz ist, hatte jeder 40 Jahre unterschiedliche Lebenserfahrungen und unterschiedliche Beispiele aus der Praxis, wie das geht und wie das nicht geht. Und die waren absolut nicht kompatibel, aber die Sprache tat immer so, als redeten wir über dasselbe."
Stölzl: "Unterm Strich, also in der Massenmeinung war der November 1989, die friedvolle Revolution in Deutschland, einfach ein großes Ereignis, wo sich alle einig waren. Wir haben gesehen, das hat dann nicht gehalten. Danach sortierten sich die Menschen wieder nach ihren Interessen und aus der einen, großen, öffentlichen Meinung wurden viele, viele, viele halböffentliche oder nichtöffentliche Meinungen."
In Deutschland, wo der föderalistische Gedanke durch seine geschichtliche Entwicklung im Vordergrund steht, wo nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten bis heute vieles noch nicht "zusammengewachsen" ist, braucht es eben Zeit, bis ein nationales Wir-Gefühl entsteht.
Künstlich geschaffene etwa Beispiel DU BIST DEUTSCHLAND oder WIR PACKEN ES GEMEINSAM AN sind oft untaugliche Versuche der Stimmungsmache. Andererseits, wenn es zum Beispiel um unsere Sicherheit geht, um Terrorismus oder Vogelgrippe, kann die "Volksseele" auch durch Berichterstattung "angeheizt" werden. Und plötzlich entsteht eine eigene öffentliche Meinung, entwickelt sich im Selbstlauf weiter und ist nicht mehr berechenbar.
So war nicht vorhersehbar, dass die Fußball-WM 2006 eine derartige nationale Euphorie in Deutschland hervorbringen würde.
Noelle-Neumann: "Ich bin ja sehr gespannt, ich glaube, dass wir mehr Nationalgefühl entwickeln werden. Ich glaube, dass die Deutschen allmählich anfangen, gern Deutsche zu sein, was sie früher nicht waren."
Leinemann: "Ich glaube, dass es ‚die’ öffentliche Meinung immer weniger gibt. Es gibt immer mehr Öffentlichkeiten und immer mehr Meinungen und immer weniger Konsens, auch in dem Sinne von… Und es gibt auch keine richtigen Kontroversen mehr, sondern… Und das ist die Gefahr, dass es dann auch so zerfasert, dass es, dass man eigentlich, ja, ‚die Öffentlichkeit’ und damit auch ‚die Gesellschaft’ kaum noch hat, sondern lauter Autisten, wo jeder seinen eigenen Blick auf die Welt hat und womöglich kein Austausch mehr stattfindet. Dann wird es ganz schwierig. Die Gegenentwicklung sind natürlich die fundamentalistischen Religionen, die so zusagen einen Einheitsglauben wieder vorschreiben und da ganz fest darauf drängen, dass man unterscheidet zwischen ‚richtig’ und ‚falsch’."
Stölzl: "”Also es gibt Zeiten, wo der ‚Ideale-Rausch’ Menschen mitreißt über ihre eigenen Bedenken, über ihre eigenen materiellen Interessen hinweg und es gibt andere, wo eisern ‚gemauert’ wird, wo man sagt: ‚Nee, also das machen wir nicht!’ Es gibt kein Modell dafür, es ist die Kunst der Politik, mit Augenmaß Menschen mitzunehmen. Ich bewundere wirklich die ganze Generation der Europäer, die Fraktion, die sagten, wir wollen ein vereinigtes Europa, weil wir finden, dass das besser ist für die Menschen. Mit all den, auch nachteiligen Folgen von Euro und europäischer Gemeinschaft, auch auf Zeit für bestimmte Schichten und Interessen. Der Wettbewerb wird härter, also für viele ist Europa harte Kost.
Aber diese Idealisten quer durch alle Parteien haben uns mitgezogen, dies gut zu finden. Und ich glaube, so anders kann man diesen Widerstreit oder die Dialektik zwischen öffentlicher Meinung und ihren Beharren und den Wortführern der Zukunft nicht beschreiben. Manchmal klappt’s, manchmal klappt’s nicht.""
Der Verhaltensforscher Erik Zimen schlussfolgert in seinem Buch: "Der Wolf":
"Sicher müssen wir sehr vorsichtig sein, wenn wir das Verhalten von Menschen und Tieren miteinander vergleichen. Ähnlich erscheinende Verhaltensweisen mögen ganz unterschiedliche Funktionen haben ... Dennoch können uns vergleichende Beobachtungen an Menschen und Tieren neue Anregungen und Denkanstöße vermitteln, vor allem, wenn man zwei so sozial ähnlich organisierte Arten untersucht wie Wolf und Mensch. Die Sprache ist jedenfalls unbefangen genug, und es bereitet uns keine Schwierigkeiten zu verstehen, was es denn wohl bedeute, wenn von dem ‚Mit-den-Wölfen-Heulen’ die Rede ist."
So zitiert die Publizistin Elisabeth Noelle-Neumann den Ethologen Erik Zimen, der das Sozialverhalten der Wölfe untersucht hat.
In ihrem Buch "Die Schweigespirale - Die Entdeckung der Öffentlichen Meinung" beschreibt die Wissenschaftlerin Beobachtungen aus dem Tierreich, die ebenso die menschliche Gesellschaft prägen. Auch den Schweizer Biologen August Forel zitiert sie:
"Der Mut jeder Ameise wächst bei derselben Art in genauem Verhältnis zu der Zahl ihrer Gefährten und Freunde und nimmt im entsprechenden Verhältnis mit der Trennung von ihnen ab. Dieselbe Ameise, die sich zehnmal töten lassen wird, wenn sie von ihren Gefährten umgeben ist, wird sich furchtsam und vorsichtig zeigen, wenn sie wenige Meter von ihrem Nest allein ist. Ähnliches gilt bei Wespen."
Die Autorin kommt zu der Frage:
"Müssen wir uns eine Fiktion von kritisch urteilender ‚öffentlicher Meinung’ zurechtlegen, weil die wirklichen Kräfte, die eine menschliche Gesellschaft zusammenhalten können sich mit unserem Ich-Ideal nicht vertrügen?"
Meinungsbildung, Meinungsforschung, Volksmund, Propaganda, Werbung, Volksverhetzung oder Skandal – alle diese Synonyme bringen eines zum Ausdruck: Hier wird in der menschlichen Gesellschaft etwas bewegt. Hier wird Meinung "kundgetan". Seit Menschengedenken thematisiert, gibt es keine eindeutige Definition.
Stölzl: "In der Demokratie, lange Zeit hat man gesagt, dass ist das Gespräch der Klugen, die Entscheidungen treffen."
Der Historiker Christoph Stölzl.
Stölzl: "Dann kam die Forschung und sagte: ‚Na ja, da gibt es aber auch ganz unkluge, da gibt es Bauchmeinungen, da gibt es Volkswitz, da gibt es Untergrundmeinungen’, und seitdem weiß man, dass es Sektoren gibt. Ich würde nicht nur sagen, Geschichte von ganz unten bis ganz oben, sozusagen ganz oben die Weisheit von Richard von Weizsäcker und unten die ungeformte Meinung der Leute ohne Namen, dieses Pyramidensystem stimmt nicht mehr, sondern in der pluralistischen Gesellschaft gibt es viele ‚Inseln’ von Meinungen nebeneinander."
Leinemann: "Eigentlich gibt es keinen Konsens mehr über das, was geschieht. Ab und zu passiert etwas, was allgemein eingeordnet werden muss und dann fängt der Kampf um die Deutungsmacht an und das ist dann der Kampf um die Herstellung der öffentlichen Meinung."
Jürgen Leinemann, Autor beim Nachrichtenmagazin "DER SPIEGEL".
Leinemann: "Also ich denke, es hat zwei große Veränderungen gegeben: Die eine Veränderung ist mit dem Fernsehen gekommen. Das Fernsehen hat alles verändert. Die ganze Medienwelt und das Bild der Öffentlichkeit und auch das, was man öffentliche Meinung nennt. Und das zweite sind die kommerziellen Fernsehsender, die dazu gekommen sind in den 80er Jahren."
Seit dem Mittelalter, seit der Erfindung des Buchdrucks konnten Meinungen in vielfacher Ausfertigung in Form von Flugblättern oder Zeitungen unter das Volk gebracht werden. Doch wer prägte zum erstenmal den Begriff: öffentliche Meinung?
"Venedig 1744 - Frankreich hat Maria Theresia, der Kaiserin von Österreich den Krieg erklärt. - Jean Jacques Rousseau - ein junger Sekretär des französischen Botschafters - schreibt an den französischen Außenminister, er habe einen venezianischen Adligen gewarnt, weil dieser in der öffentlichen Meinung als Österreich-Sympathisant gelte ..."
Rousseau gebraucht den Ausdruck öffentliche Meinung als Urteilsinstanz und die Historiker sind sich einig, dass hier der Begriff geboren wurde. Doch öffentliche Meinung in der menschlichen Gesellschaft ist viel älter.
Stölzl: "”Also unser Urbild der Demokratie stammt ja nun aus dem alten Athen, aus dem alten Rom – all jenen Stadtstaaten, wo relativ wenige Menschen gemeinsam ziemlich dauernd beieinander waren und tatsächlich in Volksversammlungen ‚Mund-zu-Mund’, ‚Ohr-zu-Ohr’ ihre Meinungen austauschen konnten, dass tatsächlich Menschen gleicher geistiger Ausstattung, gleich gescheit, gleich kompetent, gleich entscheidungsfreudig, tatsächlich gemeinsam in öffentlicher Meinung einen Diskurs führen, ein Gespräch und danach Entscheidungen pro oder kontra führen. Dazwischen gibt es natürlich lange, so genannte ‚dunkle’ Jahrhunderte, wo die öffentliche Meinung überhaupt nur auf Eliten beschränkt war. Im Mittelalter ist die öffentliche Meinung die Meinung der Clerici, die in den Klöstern sind, die schreiben können, die auf lateinisch über ganz Europa hinweg ihre Meinungen austauschen und sich darüber keinen Deut darum scheren, was der Bauer, der auf dem Acker hinter dem Pflug hergeht, für eine Meinung hat. Der hatte die Meinung zu haben, den Mund zu halten und zu dienen und als Grundhöriger seine Pflicht zu tun.""
Noelle-Neumann: "Es gibt natürlich Themen, bei denen das ganze Land derselben Meinung ist. Und das können wir natürlich messen durch unsere regelmäßigen demoskopischen Umfragen, wenn wir zum Beispiel eine Umfrage rausgeschickt haben, da kommen die ersten Fragebögen zurück. Wenn wir die ersten zwanzig, dreißig Fragebögen angeguckt haben, dann wissen wir, wie die ganze Umfrage ausgehen wird. Für ganz Deutschland."
Elisabeth Noelle-Neumann ist Mitgründerin des Instituts für Demoskopie in Allensbach am Bodensee, heute eine Stiftung. Ihr ganzes Leben lang widmete sie sich der Meinungsforschung.
Noelle-Neumann: "Die Demoskopie ist eine außerordentlich interessante Methode, um sich unter anderem über die öffentliche Meinung zu informieren. Man muss allerdings fragen können. Und, Fragebogen machen, ist nicht leicht."
Stölzl: "Also diese ungeheuer raffiniert ausgeklügelten Methoden mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung und der soziologischen Vermutung und die dann austariert werden, muss mit mathematischen Gesetzen ... das alles haben die Amerikaner früh erfunden, auch um den amerikanischen Markt überhaupt erschließbar zu machen. Es kommt ja aus der Wirtschaft, zunächst die Frage, du musst wissen: ‚Was wollen deine Kunden?’"
Schon in den dreißiger und vierziger Jahren gaben in den USA große Firmen Meinungsumfragen in Auftrag, um zu erfahren, wie sich ihre Produkte verkaufen würden. Die Ergebnisse wurden landesweit in den Printmedien veröffentlicht.
Noelle-Neumann: "Ich habe in Amerika entdeckt, wenige Wochen nach meiner Ankunft, dass ein Mann namens George Gallup jede Woche in ungefähr 110 amerikanischen Zeitungen eine Kolumne schreibt über Ergebnisse der Umfragen."
Gallup machte sich die Erkenntnis zunutze, dass eine Stichprobe von Amerikanern, die in ihrer Zusammensetzung demografische Charakteristiken der Bevölkerung widerspiegelt, ziemlich akkurat auch die Volksmeinung wiedergibt.
Noelle-Neumann: "Ich habe Gallup erst kennen gelernt in der Mitte der 50er Jahre. Und dort sagte er zu mir: ‚Ihr Buch – ich hab ein Buch geschrieben, meine Dissertation erschien als Buch – Ihr Buch ist das erste Buch in der Welt, was über meine Methode geschrieben worden ist."
Stölzl: "”Das brachte Frau Noelle-Neumann sehr früh nach Deutschland und hat in der Tat als Pionierin der Meinungsforschung, ich würde sagen, auch ganz viel Gutes getan, weil sie die Tatsache, dass Meinungen sich ändern, dass auch das Schweigen eine Meinung beeinflusst, viele solche Dinge, die uns geheimnisvoll erschienen sind, zur Normalität erklärt hat, wissenschaftlich. Und die Bundesrepublik hat diese Gelassenheit gegenüber den politischen Strömungen sehr stark auch der Meinungsforschung zu verdanken.""
Leinemann: "Wir entscheiden uns, für die Auswahl unseres politischen Personals sehr häufig nach den Kriterien, nach denen man eine Talkshow besetzt: ‚Wie der schon aussieht!’ ‚Wie die schon redet!’ ‚Der kriegt ja keinen klaren Satz hin!’ oder ‚Die stottert immer so, wenn ich die schon sehe und bei der Frisur!’ und weiß der Teufel, alles so was. Und wir wissen doch, wie Urteile zustande kommen. Da gibt es ja eine wissenschaftliche Untersuchung, dass 55 Prozent ist Körpersprache bei der Wirkung und welchen Eindruck jemand macht und, glaube ich, 38 Prozent ist Modulation und Artikulation, nur sieben Prozent sind Fakten! Sieben Prozent ist Inhalt! Also, bevor jemand den Mund aufmacht, haben wir eigentlich zu 95 Prozent unser Urteil schon fertig!"
"Mitarbeiter einer Bierbrauerei im kanadischen Ottawa haben eine neuartige Meinungsumfrage zur bevorstehenden Parlamentswahl entwickelt. Seit einiger Zeit bieten sie Flaschen mit den Konterfeis der vier wichtigsten Kandidaten an. An dem Absatz der jeweiligen Flaschen wollen sie erkennen, wer gerade in der Wählergunst vorne liegt. Die Methode, sich das Stimmungsbild selbst zusammenzubrauen, beeindruckt auch die Politiker: So versucht der lokale Kandidat der Konservativen, mit dem Kauf eigener Flaschen die Zahlen für seine Partei in die Höhe zu treiben."
Bundesrepublik Deutschland, in den 1950er und 60er Jahren.
Menschen mit Fragebogen im Gepäck durchstreifen das Land, gehen von Haustür zu Haustür, bitten um die Meinung der Leute. Ein ermüdender Alltag für die so genannten Befrager. Heute lächelt man darüber, technisch läuft alles anders - besser, die Befragung ist zudem oft mit einem lukrativen Gewinnspiel verbunden, doch geht es nach wir vor nur um die eine Frage:
Noelle-Neumann:"Klima! Man misst auf diese Weise das Klima. Ich frage nicht nach der eigenen Meinung des Befragten, sondern was sie eben wahrnehmen. Zum Beispiel - ich zitiere jetzt die Frage- ich erzähle Ihnen jetzt eine Geschichte: Da war kürzlich eine Veranstaltung. Der eine Redner sprach für die CDU. Der andere Redner sprach für die SPD. Einer von den beiden wurde ausgebuht. Welcher? - Sehen Sie, das ist eine Frage. Nichts Gelehrtes oder Schöngeistiges, sondern einfach ‚ausgebuht’!"
Leinemann: "Das ist eine Art von Einfalt, mit der wir in den 50er Jahren hier Europa sozusagen in zwei Teile geteilt haben, aus möglicherweise guten politischen Gründen, oder auch schlechten. Das hat das Leben auch ziemlich einfach gemacht. Nur, einer komplizierten modernen Gesellschaft wird dieses Bild in keiner Weise mehr gerecht. In keiner Weise."
Noelle-Neumann: "Wissen Sie, es ist so mit der Schweigespirale: Wenn eine von zwei Seiten sich akzeptiert fühlt und deswegen auch ihre Meinung laut und deutlich sagt, dann hat sie das Gefühl, sie spricht die allgemeine Meinung aus. Und wenn dann die eine Seite viel und deutlich und selbstbewusst ihre Meinung ausspricht, und die andere Seite sie ganz leise und etwas schüchtern vertritt, und die eine Seite spricht so laut, dann wirkt sie stärker als sie ist. Und die andere Seite ist so schüchtern und deswegen wirkt sie schwächer, als sie wirklich ist. Wenn nun die eine Seite stärker wirkt, dann schließen sich andere Menschen an. Der Mensch, das ist ein großes Thema für mich, ist ein soziales Wesen."
Stölzl: "”Also ich glaube, alles, was auf ein sehr einfaches System hin tendiert, irrt. Es ist sehr, sehr kompliziert und es kann man deswegen sehen, dass sich vor Wahlen die Demoskopen, also die Wissenschaftler, die die so genannte ‚öffentliche Meinung’ erforschen, sehr, sehr oft irren.""
Noelle-Neumann:"... dass die Menschen die ganze Zeit aufpassen, wie andere auf sie reagieren. Freundlich oder unfreundlich und bereit zu Billigung, bereit zu Missbilligung. Auf diese Weise, indem eine Seite stärker erscheint, als sie ist und die andere schwächer, als sie ist, da bildet sich eine Schweigespirale heraus. Und Kohl hat mir mal erzählt, er war in Japan, da war gerade eine neue Wahl gewesen für uns, Bundestagswahl und der bis dahin amtierende japanische Ministerpräsident hatte verloren. Und daraufhin fragte Kohl ihn: ‚Was ist denn da schief gelaufen?’ Und da sagte der Japaner zu ihm: ‚Na Sie wissen es doch. Wir hatten die Schweigespirale gegen uns!’ Das heißt, wir können um den ganzen Globus fahren, alle Lexika, die Sie irgendwo finden, aufschlagen. Da gibt es die ‚Schweigespirale’."
Noelle-Neumann: "Wissen Sie, man verwechselt sehr leicht öffentliche Meinung und veröffentlichte Meinung. Die Journalisten, das ist die veröffentlichte Meinung."
Wird aus der veröffentlichten Meinung der Journalisten irgendwann kraft ihrer Medienpräsens die öffentliche Meinung? Die Macht der Medien bringt eine neue Komponente. Wo entsteht aber die öffentliche Meinung, wird sie von der veröffentlichten beeinflusst? Wer lässt sich wann und wo, von wem wie beeinflussen. Oft wird die öffentliche Meinung gegen die veröffentlichte ausgespielt, werden ab- oder aufwertende Bilder vom "Stammtisch" oder von der "Schweigenden Mehrheit" benutzt.
Ja wer benutzt denn wen oder was gegen wen oder für was?
Leinemann: "Man kann das steuern und sagen: ‚Ich hole mir für meine Meinung auch mediale Schützenhilfe.’ Auch da gibt es wieder mehrere Methoden. Entweder ich rufe die alle zusammen und mache, wenn ich jetzt in irgendeiner Position bin, in einer öffentlichen, amtlichen Position, dann mache ich ein Hintergrundgespräch und hole die Fachjournalisten oder die Büroleiter oder die Chefredakteure zu einem Hintergrundgespräch. Bei Konrad Adenauer waren dass die ‚Teegespräche’ früher. Und dann wurde dann also mal ein bisschen sondiert. Und dann wurde dann auch gesagt: ‚Wir müssen uns jetzt auf das und das einstellen und das wird jetzt kommen…’ Und je nachdem: ‚Dass kann man also so ganz sagen, das müsst ihr nur wissen, dass dürft ihr aber nicht schreiben’ oder aber ‚Das dürft ihr zwar schreiben, aber ihr dürft nicht schreiben, woher ihr das wisst’, dann wird es sehr manipulativ."
Als langjähriger Kenner der Politikszene hat Jürgen Leinemann vor allem in den USA erfahren, wie veröffentlichte Meinung funktioniert. Im Weißen Haus erlebte er, wie während des Vietnam-Krieges Henry Kissinger regelmäßig die Chefredakteure der gesamten amerikanischen Provinzpresse nach Washington berief.
Leinemann: "Dann wurden die in den blauen Salon gesperrt, Tür zu. Und dann hat Kissinger ihnen einen großen Vortrag mit Geheimdienstdokumenten gezeigt, warum der Vietkong und jetzt in Kambodscha eine große Offensive vorbereitet wird und was die alles machen und so. Und sagte dann anschließend: ‚Das, was ich Ihnen hier heute gesagt habe, das dürfen Sie gar nicht wissen. Das wissen Sie ganz sicherlich nicht aus dem Weißen Haus, nicht von mir. Und ich will keine Zitate darüber wissen, woher es kommt. Aber ich sage Ihnen das als Vorbereitung. Und übermorgen fangen wir mit der Bombardierung an.’
Und wie durch ein Wunder standen am nächsten Tag in allen amerikanischen Zeitungen die Leitartikel der klugen Chefredakteure, die auf einmal sagten: ‚Man, was braut sich da eigentlich in Kambodscha zusammen? Da müssen die doch aber mal einschreiten. Und wann wird eigentlich bombardiert?’ Und dann wurde bombardiert."
Stölzl: "Also die Meinung des reichen Zeitungsbesitzers, die niemand kaufen will, die wird auch niemand lesen. Also ist immer ein Geben und Nehmen, eine Wechselwirkung, eine Echowirkung zwischen der tatsächlichen Meinung, die sich bei den Millionen eines modernen Publikums verändert durch ganz bestimmte Dinge. Das heißt, diejenigen, die mit der öffentlichen Meinung umgehen, also diejenigen, die auch Meinungen veröffentlichen und sie spiegeln in den Medien, können nicht so selbstgewiss sein, dass sie irgendjemandem etwas aufdrücken können."
Leinemann: "Ja, aber das ist auch etwas, was die Presse dann entscheidet, ob sie das mitmacht oder nicht. Zum Beispiel die Washington-Post hat das nur zwei- oder dreimal mitgemacht und dann hat sie gesagt: ‚Das kann so nicht gehen, so nicht!’ Und die sind dann nicht mehr rein gegangen, die sind nicht mehr mit gegangen, haben der Einladung nicht Folge geleistet, sondern haben hinterher, wenn das stattgefunden hat, bei den Chefredakteuren recherchiert und haben gesagt: ‚Was hat Henry denn erzählt?’ Und dann haben sie ihre Codes gehabt und die genauen Zitate und alles, was da war, und am nächsten Tag stand in der Washington-Post: ‚Henry Kissinger said yesterday:" Und dann kamen auf einmal die Zitate und die CIA-Erkenntnisse und all so was. Dann hörten diese Veranstaltungen auf."
Stölzl: "”Das hat man ja bei Wahlkampagnen immer gesehen, wenn große Zeitungsverlage so eindeutig für eine Partei Stellung genommen haben, war das möglicherweise kontraproduktiv und die Menschen sagten: ‚Nun erst recht nicht. Ich habe meinen eigenen Kopf.’ - Will sagen: Es sind immer Momentaufnahmen und es gibt von Ernest Renaud, einem großen französischen Sozialwissenschaftler des 19. Jahrhunderts, das schöne Wort: Die Nation sei plébiscité to le jour, also sozusagen, jeden Tag gibt es plébiscité und jeden Tag fällt auch die Vorstellung von der Nation, wer wir sind, was wir wollen, verschieden aus.""
"Um die sinnvolle Entsorgung der Kaugummis bemühen sich die Stadträte im südenglischen Bournemouth: An hundert Laternenpfählen der Stadt haben sie Plakate umstrittener britischer Politiker angebracht. Unter dem Slogan ‚You Chews’ - es ist deine Wahl - werden die Einwohner dazu angehalten, ihre alten ausgelutschten Kaugummis auf einem Plakat zu platzieren. So wird die Umwelt geschont und gleichzeitig dienen sie als Markierungsmarken im öffentlichen Meinungsaustausch auch noch höchst demokratischen Zwecken."
Stölzl: "”Jemand hat gesagt, die öffentliche Meinung sei eigentlich die Freiheit von 30 reichen Leuten, ihre Meinung zu veröffentlichen und in die Zeitungen zu drucken. Das mag vielleicht einmal in der früheren Zeit gestimmt haben, aber wenn man die Entwicklung unserer Massenpresse ansieht in den freien Gesellschaften, dann stimmt das sicher so nicht. Weil die Redaktionen sich ja große Unabhängigkeit erkämpft haben, und weil Zeitungen verkauft werden müssen.""
Gerhard Schröder aus TV vom Wahlsonntag, September 2005: "Glauben Sie im Ernst, dass meine Partei auf ein Gesprächsangebot von Frau Merkel bei dieser Sachlage einginge, in dem sie sagt, sie möchte Bundeskanzlerin werden? Ich meine, wir müssen die Kirche doch mal im Dorf lassen ..."
Was war los am Wahlsonntag 2005 als Gerhard Schröder – dem nachgesagt wird, er habe einen guten Instinkt für öffentliche Präsenz – auf einmal gegen alles Demokratieverständnis verstieß und die Öffentlichkeit schockierte:
Schröder aus TV vom Wahlsonntag, September 2005: "Disput um Medienmacht und Medienkampagne"
Leinemann: "Das war eine Mischung von Vorsatz und Blackout. Dass er aus dem Ruder gelaufen ist, war der Blackout. Dass er diese direkte Konfrontation gesucht hat mit diesem Thema, dass er Angela Merkel ins Gesicht sagt: ‚Sie werden nicht Kanzlerin, Sie haben doch noch mehr verloren als ich!’ und sonst was, das war Absicht. Und dass er gleichzeitig auch sich mit den Medien anlegen wollte, dass war auch Absicht. Er hatte sich geärgert darüber, dass sie alle ihn schon vorher unterschätzt hatten und abgeschrieben hatten und dass sie ja auch schon Angela Merkel mit ‚Frau Bundeskanzlerin’ anredeten und ihn mit ‚Herr Schröder’. Es ging ja los, als der Brender im Fernsehen sagte: ‚Herr Bundeskanzler’. Und dann sagte er: ‚Ach, jetzt auf einmal!’ Und dann ging die ganze Sache los."
Schröder aus TV vom Wahlsonntag, September 2005: " ... dass niemand außer mir in der Lage ist, eine stabile Regierung zu bilden..."
Leinemann: "Schröder hat, wenn Sie so wollen, Wahlkampf gegen sich selber gemacht, der hat seine eigenen Reformpläne, im Wahlkampf zumindest, ignoriert, wie auch immer, es ging in der direkten Auseinandersetzung dann auf einmal um Personen. ‚Wollt ihr die oder wollt ihr mich?’ So. Da sind wir wieder dicht bei Frau Noelle-Neumann."
Stölzl: "Mich hat zum Beispiel schwer beeindruckt, dass Frau Noelle-Neumann zur Erklärung der Wahlniederlage von Helmut Kohl 1998 herausgefunden hat, dass irgendeine Zahnarzt-Pauschale, also irgendeine Arzt-Pauschale, in den Tiefen der Gesellschaft die Menschen unheimlich sauer gemacht hat auf die Regierung. Also wir dachten immer wie intellektuell: Na ja, es war ein Überdruss an Helmut Kohl und der Politik, er war zu lange da oder er hat so gesprochen oder so gesprochen. Mag alles sein in unserem mittelständisch-intellektuellen Kreisen, aber in Wirklichkeit hatte der Legitimitätsverlust von Helmut Kohl offenbar sehr stark mit sozial-politischen Eingriffen zu tun. Und das ist gut so, wenn das Politiker wissen, weil dann die Politik weniger ideologisch wird. Weniger Schlagworte geprägt, weniger empathisch, weniger panisch und mehr auf die wirklichen Neigungen der Menschen ausgerichtet, die eben ganz handfest-pragmatisch ihrem Glück entlang denken und handeln.""
"Eine 83 Jahre alte Australierin hat einen Strafzettel bekommen, weil sie zu langsam über die Straße gegangen ist, berichtete die Tageszeitung ‚The Daily Telegraph’. Ein ranghoher Polizeibeamter erklärte mittlerweile, in Anbetracht des ‚öffentlichen Interesses’ an dem Fall sei der Strafzettel zurückgenommen worden."
Stölzl: "”Ich halte überhaupt den Ausdruck ‚öffentliche Meinung’ für wissenschaftlich eher unhaltbar in der heutigen Zeit. Weil die Grenze zwischen der privaten Meinung und der öffentlichen ja ganz durchlässig geworden ist. Wir haben zwar, unserer Verfassung folgend, die Unverletzlichkeit der Wohnung, die Unverletzlichkeit meiner Meinung, ich muss die niemandem sagen, aber die Methoden zur Erforschung entsprechend der Wahrscheinlichkeitsrechnung sind eben so, dass wenn man 2000 Wähler befragt, dann, merkwürdigerweise genau weiß, oder zu wissen glaubt, was die restlichen Millionen glauben. Und das ist ja nicht ganz zielsicher, gerade bei Wahlen, wenn es um wenige%e geht. Erdrutschartige Irrtümer gibt es nicht, aber fünf Prozent rauf oder runter, irrt man sich oft. Aber insgesamt wissen die Meinungsforscher doch ziemlich genau Bescheid über das so genannte ‘Meinungsklima’ in einem Lande.""
Leinemann: "Ich habe früher immer gedacht, was uns zusammen hält, ist die gemeinsame Sprache. Aber hinterher habe ich erfahren, was uns trennt, ist die gemeinsame Sprache. Weil hinter jedem Begriff, was sozial ist und was Freiheit ist und was Demokratie ist und was Solidarität ist und was Toleranz ist, hatte jeder 40 Jahre unterschiedliche Lebenserfahrungen und unterschiedliche Beispiele aus der Praxis, wie das geht und wie das nicht geht. Und die waren absolut nicht kompatibel, aber die Sprache tat immer so, als redeten wir über dasselbe."
Stölzl: "Unterm Strich, also in der Massenmeinung war der November 1989, die friedvolle Revolution in Deutschland, einfach ein großes Ereignis, wo sich alle einig waren. Wir haben gesehen, das hat dann nicht gehalten. Danach sortierten sich die Menschen wieder nach ihren Interessen und aus der einen, großen, öffentlichen Meinung wurden viele, viele, viele halböffentliche oder nichtöffentliche Meinungen."
In Deutschland, wo der föderalistische Gedanke durch seine geschichtliche Entwicklung im Vordergrund steht, wo nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten bis heute vieles noch nicht "zusammengewachsen" ist, braucht es eben Zeit, bis ein nationales Wir-Gefühl entsteht.
Künstlich geschaffene etwa Beispiel DU BIST DEUTSCHLAND oder WIR PACKEN ES GEMEINSAM AN sind oft untaugliche Versuche der Stimmungsmache. Andererseits, wenn es zum Beispiel um unsere Sicherheit geht, um Terrorismus oder Vogelgrippe, kann die "Volksseele" auch durch Berichterstattung "angeheizt" werden. Und plötzlich entsteht eine eigene öffentliche Meinung, entwickelt sich im Selbstlauf weiter und ist nicht mehr berechenbar.
So war nicht vorhersehbar, dass die Fußball-WM 2006 eine derartige nationale Euphorie in Deutschland hervorbringen würde.
Noelle-Neumann: "Ich bin ja sehr gespannt, ich glaube, dass wir mehr Nationalgefühl entwickeln werden. Ich glaube, dass die Deutschen allmählich anfangen, gern Deutsche zu sein, was sie früher nicht waren."
Leinemann: "Ich glaube, dass es ‚die’ öffentliche Meinung immer weniger gibt. Es gibt immer mehr Öffentlichkeiten und immer mehr Meinungen und immer weniger Konsens, auch in dem Sinne von… Und es gibt auch keine richtigen Kontroversen mehr, sondern… Und das ist die Gefahr, dass es dann auch so zerfasert, dass es, dass man eigentlich, ja, ‚die Öffentlichkeit’ und damit auch ‚die Gesellschaft’ kaum noch hat, sondern lauter Autisten, wo jeder seinen eigenen Blick auf die Welt hat und womöglich kein Austausch mehr stattfindet. Dann wird es ganz schwierig. Die Gegenentwicklung sind natürlich die fundamentalistischen Religionen, die so zusagen einen Einheitsglauben wieder vorschreiben und da ganz fest darauf drängen, dass man unterscheidet zwischen ‚richtig’ und ‚falsch’."
Stölzl: "”Also es gibt Zeiten, wo der ‚Ideale-Rausch’ Menschen mitreißt über ihre eigenen Bedenken, über ihre eigenen materiellen Interessen hinweg und es gibt andere, wo eisern ‚gemauert’ wird, wo man sagt: ‚Nee, also das machen wir nicht!’ Es gibt kein Modell dafür, es ist die Kunst der Politik, mit Augenmaß Menschen mitzunehmen. Ich bewundere wirklich die ganze Generation der Europäer, die Fraktion, die sagten, wir wollen ein vereinigtes Europa, weil wir finden, dass das besser ist für die Menschen. Mit all den, auch nachteiligen Folgen von Euro und europäischer Gemeinschaft, auch auf Zeit für bestimmte Schichten und Interessen. Der Wettbewerb wird härter, also für viele ist Europa harte Kost.
Aber diese Idealisten quer durch alle Parteien haben uns mitgezogen, dies gut zu finden. Und ich glaube, so anders kann man diesen Widerstreit oder die Dialektik zwischen öffentlicher Meinung und ihren Beharren und den Wortführern der Zukunft nicht beschreiben. Manchmal klappt’s, manchmal klappt’s nicht.""
Der Verhaltensforscher Erik Zimen schlussfolgert in seinem Buch: "Der Wolf":
"Sicher müssen wir sehr vorsichtig sein, wenn wir das Verhalten von Menschen und Tieren miteinander vergleichen. Ähnlich erscheinende Verhaltensweisen mögen ganz unterschiedliche Funktionen haben ... Dennoch können uns vergleichende Beobachtungen an Menschen und Tieren neue Anregungen und Denkanstöße vermitteln, vor allem, wenn man zwei so sozial ähnlich organisierte Arten untersucht wie Wolf und Mensch. Die Sprache ist jedenfalls unbefangen genug, und es bereitet uns keine Schwierigkeiten zu verstehen, was es denn wohl bedeute, wenn von dem ‚Mit-den-Wölfen-Heulen’ die Rede ist."