Was der große Preuße so dachte

24.07.2012
Der Schriftsteller Theodor Fontane reiste in die preußischen Kriegsgebiete, besichtigte die Schlachtfelder und beobachtete den Alltag. Seine Eindrücke notierte er in vielen, kleinen Heften. Mal denkt er liberal und weltoffen, dann schlägt er antijüdische und antipolnische Töne an.
Theodor Fontane hat in seinem Tagebuch über Jahre hinweg detailliert Ereignisse aus seinem Alltagsleben festgehalten. Und auf seinen Reisen hat er ein zusätzliches kleines Reisetagebuch geführt, in einem chaotischen Sammelsurium kleiner Hefte, die eine Arbeitsgrundlage für Zeitungsartikel und auch literarische Texte bildeten. Ein gewisser Teil dieser Reisetagebücher, die nun gesondert in der "Großen Brandenburger Ausgabe" der Werke Fontanes herausgegeben werden, ist bisher unveröffentlicht und gestattet einen direkten Einblick in die Wahrnehmungsmuster des großen Preußen.

Es sind vor allem die Reisen in die damaligen Kriegsgebiete, die hier im Vordergrund stehen: Fontane besichtigte die Schlachtfelder und Orte des Preußisch-Dänischen Krieges von 1864, des Preußisch-Österreichischen Krieges von 1866 und vor allem des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71. Diese Etappen machten Preußen zu der hegemonialen Großmacht auf dem Kontinent, und Fontane begleitete dies offenkundig zum einen mit Stolz, zum anderen aber mit einer gehörigen Distanz zu den sonst üblichen nationalistisch-militaristischen Tönen.

Fontane schrieb für die ultrakonservative Kreuz-Zeitung, und da fallen seine Zwischentöne besonders auf. Während es zum gewöhnlichen Habitus der preußischen Presse gehörte, auf die im Krieg unterlegenen Völker verächtlich herabzublicken, legte Fontane großen Wert auf die Beschreibung der anderen europäischen Kulturen. Das dänische Paar im "Fährkrug" von Missunde skizziert er zum Beispiel als "völlig gebildet, mit einer Sprechweise, wie sie unsere Excellenzen sehr oft nicht haben." Dagegen erscheint der preußische Landsmann in besonders scharfem Gegenlicht, der auf der Hinfahrt eine Zeitlang mit im Eisenbahnabteil saß: "der aalfressende Berliner", der einen Vortrag hielt über "die Schlechtigkeit der Dänen und die Inferiorität der schlechten holsteinischen Rasse".

Auch über die Franzosen, die als der deutsche "Erbfeind" schlechthin gehandelt wurden, urteilt Fontane sehr liberal und weltoffen. Die französische Oberschicht beeindruckt ihn, und er erkennt in ihrem Ton "immer noch ein Vorbild wahrhaft feiner Sitte". Kein Wunder, dass Fontane in Preußen bald als zu "franzosenfreundlich" galt. Demgegenüber fallen aber umso mehr die antipolnischen und antijüdischen Töne auf, die Fontane in Schlesien anschlägt – im Wissen um die spätere deutsche Geschichte wirft dies ein bezeichnendes Licht auf die allgemeinen Verwerfungen im Kaiserreich.

Beeindruckend ist das Kunstinteresse Fontanes: Besonders in Frankreich und Italien notiert er sich ständig Eindrücke aus Kirchen und Museen, skizziert sogar eigenhändig Grundrisse und Stadtpläne. Und man kann im unvoreingenommenen Hinschauen, im Mitschreiben von Dialogen bereits die spezielle Fontanesche Romantechnik erkennen. Für Fontane-Liebhaber ist dies natürlich eine Fundgrube, vor allem auch durch die überaus umfassende und kenntnisreiche Kommentierung der Herausgeber.

Besprochen von Helmut Böttiger

Theodor Fontane: Die Reisetagebücher
Hrsg. von Gotthard Erler und Christine Hehle
Aufbau Verlag, Berlin 2012
958 Seiten, 48 Euro