Was das Land zusammenhält
Wenn Parteien mit ihrem Latein am Ende sind und diesen Umstand verbergen wollen, bemühen sie gerne das Große und Ganze. Sie reden dann von so schönen Dingen wie Werten, Selbsthilfe oder Bürgergesellschaft. Und besorgt machen sie sich Gedanken darüber, was denn die Gesellschaft noch zusammenhalte.
Die Parteien erfinden dann (siehe die SPD) Parolen wie "Zusammenhalt und Erneuerung" – ohne jedoch wirklich erklären zu können, was denn damit gemeint sei. Oder sie ergehen sich (siehe die Grünen) im Lob der Zivilgesellschaft, die möglichst kräftig erblühen müsse, damit der Laden nicht auseinander fliege – ohne dass mehr zu erkennen wäre als die Binsenweisheit, dass jeder Staat von den Fähigkeiten und der Phantasie der Menschen lebt, die er hat. Kurz, die Rede vom nötigen Zusammenhalt der Gesellschaft ist zumeist eine gefällige Nebelwand, nicht mehr.
So gesehen möchte man sich eigentlich darüber freuen, dass die christlich-demokratischen Oppositionsparteien zurzeit auf solchen Schmus verzichten. Bei ihnen geht es stattdessen strikt sachlich, man möchte fast sagen: materialistisch zu. Sie befassen sich fast nur noch mit der Hardware der Gesellschaft. Sozial sei, was Arbeitsplätze schafft, hören wir: und wir hören viel von Steuersätzen, Rente, Kündigungsschutz, von Subventionsabbau und Investitionen. Das klingt sympathisch, weil es so nüchtern ist.
Und doch schleicht sich ein ungutes Gefühl ein. Das mag ja alles richtig sein – aber es ist in solchen Ankurbelungslitaneien nicht erkennbar, worauf das Ganze hinauslaufen soll. Dass die Wirtschaft besser brummt als stottert: Das versteht sich von selbst. Doch es ist keine Idee, für die Menschen zu begeistern und in Bewegung zu setzen wären. Dagegen wird dann schnell eingewandt, dass es nicht Aufgabe der Politik sei, Menschen zu begeistern. Davon habe man in Deutschland - siehe die NS-Herrschaft - genug gehabt. Strikt sachbezogen müsse Politik danach sein, sie müsse ganz am Boden bleiben.
Genau das aber ist das Elend: dass wir offensichtlich die Fähigkeit verloren haben, Nüchternheit und große Ziele zusammenzubringen oder auch nur zusammenzudenken. Und dass wir das gar nicht mehr wollen. Eine kleine Erinnerung: Als – nach der Gründung 1949 – die Bundesrepublik auf- und ausgebaut wurde, da ging es sehr nüchtern, man möchte sagen: materialistisch zu - doch was da ins Auge gefasst wurde, das waren große, sehr große Ziele. Etwa die Westbindung, mit der sich Deutschland erstmals nachhaltig an die Werte liberaler Demokratien band – und damit mit der eigenen, großen Tradition der Freiheits- und Demokratieverachtung brach. Oder die Marktwirtschaft, mit der erstmals in Deutschland die Ökonomie nicht mehr vorsorglich oder paternalistisch oder zentralstaatlich eingehegt sein sollte – ein Bruch mit einer langen obrigkeitsstaatlichen Tradition in Deutschland. Den Politikern, die das gegen große Widerstände durchsetzten, war das Visionäre vielleicht nicht anzusehen. Doch mit nüchternem Ernst setzten sie eine Revolution ungekannten Ausmaßes in Gang – und überzeugten durch die Unerschütterlichkeit, mit der sie am Ziel eines liberalen, marktwirtschaftlichen, westorientierten und wohlhabenden Deutschlands festhielten.
Auch weil Ziele dieser Art zu fehlen scheinen, gilt Politik heute als ein Geschäft ohne Ansehen, als etwas, das es zwar gibt, über das zu streiten sich aber nicht mehr lohnt. Das ist schade. Denn Nation wie Gesellschaft sind ein tägliches Plebiszit. Ob sie funktionieren oder nicht, entscheidet sich – auch wenn das mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen ist – täglich. Mit anderen Worten: Es ist immer Gründerzeit. Es stimmt nicht, dass die Menschen mit Politik und dem Großen-Ganzen in Ruhe gelassen sein wollen. Eine Gesellschaft braucht Ziele, braucht etwas, das sie sich vornimmt. Und sie entwickelt dann besondere Kräfte, wenn sie in die Lage kommt, etwas Großes anzufassen.
Die jetzige Regierung hat mit ihren Reformen durchaus versucht, etwas Großes anzufassen. Sie hat es aber wie etwas Kleines verkauft. Sie gar nicht erst versucht, die Bürger zu gewinnen, mitzunehmen, beim Projektmachen einzubinden. Dabei wäre es gerade hier so nötig gewesen. Deutschlands Sozialsystem steht, so oder so, vor einem ziemlich radikalen Umbau, der eher schmerzlich sein wird und bei dem es gewiss keine Segnungen zu verteilen gibt. Dass wir das wollen, dass wir das können und dass ein solcher Umbau, in gemeinsamer Anstrengung vollzogen, unser Gemeinwesen ungemein stärken und in Schwung bringen könnte: Entstünde dieses Momentum, dann wäre den meisten schnell klar, was unsere Gesellschaft zusammenhält. Man bräuchte dazu freilich eine Politik und Politiker, die sich nicht vor dem Pathos der Anstrengung scheuen.
Thomas Schmid: Publizist. 1945 in Sachsen geboren, ist Politikchef der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung". Er hat Germanistik, Anglistik und Politologie studiert, war von 1979 bis 1986 Lektor im Verlag Klaus Wagenbach und dort auch Redakteur der Zeitschrift "Freibeuter". Später arbeitete Schmid als freier Autor für verschiedene Zeitungen und war dann mehrere Jahre lang Berater Daniel Cohn-Bendits am Amt für Multikulturelle Angelegenheiten in Frankfurt am Main. Weitere Stationen: stellvertretender Chefredakteur der Berliner "Wochenpost" und der "Hamburger Morgenpost", Chefkorrespondent und Verantwortlicher für das Forum bei der Tageszeitung "Die Welt". Zu Schmids Büchern zählen "Staatsbegräbnis. Von ziviler Gesellschaft" und "Heimat Babylon. Das Wagnis der multikulturellen Demokratie" (zus. mit D. Cohn-Bendit).
So gesehen möchte man sich eigentlich darüber freuen, dass die christlich-demokratischen Oppositionsparteien zurzeit auf solchen Schmus verzichten. Bei ihnen geht es stattdessen strikt sachlich, man möchte fast sagen: materialistisch zu. Sie befassen sich fast nur noch mit der Hardware der Gesellschaft. Sozial sei, was Arbeitsplätze schafft, hören wir: und wir hören viel von Steuersätzen, Rente, Kündigungsschutz, von Subventionsabbau und Investitionen. Das klingt sympathisch, weil es so nüchtern ist.
Und doch schleicht sich ein ungutes Gefühl ein. Das mag ja alles richtig sein – aber es ist in solchen Ankurbelungslitaneien nicht erkennbar, worauf das Ganze hinauslaufen soll. Dass die Wirtschaft besser brummt als stottert: Das versteht sich von selbst. Doch es ist keine Idee, für die Menschen zu begeistern und in Bewegung zu setzen wären. Dagegen wird dann schnell eingewandt, dass es nicht Aufgabe der Politik sei, Menschen zu begeistern. Davon habe man in Deutschland - siehe die NS-Herrschaft - genug gehabt. Strikt sachbezogen müsse Politik danach sein, sie müsse ganz am Boden bleiben.
Genau das aber ist das Elend: dass wir offensichtlich die Fähigkeit verloren haben, Nüchternheit und große Ziele zusammenzubringen oder auch nur zusammenzudenken. Und dass wir das gar nicht mehr wollen. Eine kleine Erinnerung: Als – nach der Gründung 1949 – die Bundesrepublik auf- und ausgebaut wurde, da ging es sehr nüchtern, man möchte sagen: materialistisch zu - doch was da ins Auge gefasst wurde, das waren große, sehr große Ziele. Etwa die Westbindung, mit der sich Deutschland erstmals nachhaltig an die Werte liberaler Demokratien band – und damit mit der eigenen, großen Tradition der Freiheits- und Demokratieverachtung brach. Oder die Marktwirtschaft, mit der erstmals in Deutschland die Ökonomie nicht mehr vorsorglich oder paternalistisch oder zentralstaatlich eingehegt sein sollte – ein Bruch mit einer langen obrigkeitsstaatlichen Tradition in Deutschland. Den Politikern, die das gegen große Widerstände durchsetzten, war das Visionäre vielleicht nicht anzusehen. Doch mit nüchternem Ernst setzten sie eine Revolution ungekannten Ausmaßes in Gang – und überzeugten durch die Unerschütterlichkeit, mit der sie am Ziel eines liberalen, marktwirtschaftlichen, westorientierten und wohlhabenden Deutschlands festhielten.
Auch weil Ziele dieser Art zu fehlen scheinen, gilt Politik heute als ein Geschäft ohne Ansehen, als etwas, das es zwar gibt, über das zu streiten sich aber nicht mehr lohnt. Das ist schade. Denn Nation wie Gesellschaft sind ein tägliches Plebiszit. Ob sie funktionieren oder nicht, entscheidet sich – auch wenn das mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen ist – täglich. Mit anderen Worten: Es ist immer Gründerzeit. Es stimmt nicht, dass die Menschen mit Politik und dem Großen-Ganzen in Ruhe gelassen sein wollen. Eine Gesellschaft braucht Ziele, braucht etwas, das sie sich vornimmt. Und sie entwickelt dann besondere Kräfte, wenn sie in die Lage kommt, etwas Großes anzufassen.
Die jetzige Regierung hat mit ihren Reformen durchaus versucht, etwas Großes anzufassen. Sie hat es aber wie etwas Kleines verkauft. Sie gar nicht erst versucht, die Bürger zu gewinnen, mitzunehmen, beim Projektmachen einzubinden. Dabei wäre es gerade hier so nötig gewesen. Deutschlands Sozialsystem steht, so oder so, vor einem ziemlich radikalen Umbau, der eher schmerzlich sein wird und bei dem es gewiss keine Segnungen zu verteilen gibt. Dass wir das wollen, dass wir das können und dass ein solcher Umbau, in gemeinsamer Anstrengung vollzogen, unser Gemeinwesen ungemein stärken und in Schwung bringen könnte: Entstünde dieses Momentum, dann wäre den meisten schnell klar, was unsere Gesellschaft zusammenhält. Man bräuchte dazu freilich eine Politik und Politiker, die sich nicht vor dem Pathos der Anstrengung scheuen.
Thomas Schmid: Publizist. 1945 in Sachsen geboren, ist Politikchef der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung". Er hat Germanistik, Anglistik und Politologie studiert, war von 1979 bis 1986 Lektor im Verlag Klaus Wagenbach und dort auch Redakteur der Zeitschrift "Freibeuter". Später arbeitete Schmid als freier Autor für verschiedene Zeitungen und war dann mehrere Jahre lang Berater Daniel Cohn-Bendits am Amt für Multikulturelle Angelegenheiten in Frankfurt am Main. Weitere Stationen: stellvertretender Chefredakteur der Berliner "Wochenpost" und der "Hamburger Morgenpost", Chefkorrespondent und Verantwortlicher für das Forum bei der Tageszeitung "Die Welt". Zu Schmids Büchern zählen "Staatsbegräbnis. Von ziviler Gesellschaft" und "Heimat Babylon. Das Wagnis der multikulturellen Demokratie" (zus. mit D. Cohn-Bendit).