Was von Afghanistan bleibt

Wut und Tränen

32:03 Minuten
Bundeswehrsoldaten in Afghanistan
Bundeswehrsoldaten sichern das Camp Shaheen, ein Feldlager der afghanischen Armee in der Nähe von Masar-i-Scharif. © picture alliance / dpa / Kay Nietfeld
Von Kai Adler  · 02.01.2022
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Für Afghanen haben die Probleme mit dem Abzug der westlichen Truppen erst begonnen. Doch auch für ehemalige deutsche Soldatinnen und Soldaten ist das Kapitel längst nicht abgeschlossen. Der Einsatz hat bei vielen tiefe seelische Spuren hinterlassen.
„Die Bilder, die für alle präsent waren und der Flughafen dort – gerade wenn man schon mal am Nordtor gestanden hat, man kann den Geruch immer noch wahrnehmen – das sind einfach erschütternde Bilder", erinnert sich Michael Gebel.
"Ich habe selber auf dem Balkon gesessen mit Tränen in den Augen, hab das alles nicht verstanden.“ Er wirkt nicht wie einer, dem schnell die Tränen kommen. Weißer Bart, Holzfällerhemd, fester Blick.
Vom Balkon seiner brandenburgischen Wohnung aus schaut er auf die Wimpel gepflegter Datschen. Kabul ist weit weg. Siebenmal war der ehemalige Stabsfeldwebel im Auslandseinsatz, davon über 500 Einsatztage in Afghanistan. Sein letzter Einsatz am Hindukusch liegt zehn Jahre zurück. Und dennoch ist Afghanistan gefühlt immer präsent. In Gedanken, Gerüchen, Bildern.

Ein Notfallknopf für Veteranen

Am Tag, als die letzte Bundeswehrmaschine in Kabul abhebt und in Wünsdorf bei Berlin landet, klingelt bei Michael Gebel das Telefon. Am Apparat: Christian Szafran. Ebenfalls zuletzt vor zehn Jahren am Hindukusch stationiert, als Grenadier und Infanterist.
Als er die Bilder des Abzuges sieht, ist er gerade bei der Arbeit und bricht zusammen. In seiner Not googelt er nach Hilfe und stößt auf die Webseite des Bundes Deutscher Einsatzveteranen. „Weil ich einfach Akutbedarf hatte, mit jemandem zu sprechen, der eventuell die gleichen Empfindungen hat wie ich.“
Auf der Website: ein Notfallbutton, der dann sofort Männer wie Michael Gebel alarmiert, dass ein Kamerad seine Hilfe braucht. Beide telefonieren in den nächsten Wochen mehrmals miteinander, verabreden ein Treffen bei Christian zu Hause.
Zur Begrüßung umarmt der 62-jährige ehemalige Oberfeldwebel Christian Szafran: Eine herzliche, lange Umarmung ohne Schulterklopfen. Die beiden verbindet etwas, das sie mit nur wenigen anderen Menschen teilen: die Erfahrungen des Afghanistan-Einsatzes.
Vor einem umgebauten Bahnwaggon steht eine Gruppe aus Menschen, die meisten sind Männer, ein paar wenige Frauen sind auch dabei.
Sich gegenseitig helfen, das Erlebte zu verarbeiten: Ehemalige Soldatinnen und Soldaten beim gemeinsamen Veteranenfrühstück.© Deutschlandradio / Kai Adler
Neben Christian betreut Michael Gebel fünf weitere Einsatzveteranen. Er weiß, dass die Dämonen des Krieges, die ihn selbst regelmäßig heimsuchen, auch anderen Kameradinnen und Kameraden vertraut sind: Flashbacks, Zweifel am System, fehlende Wertschätzung, Gefühle von Sinnverlust, Stimmungsschwankungen, seelische Schmerzen. Die Symptome eines PTBS, eines posttraumatischen Belastungssyndroms.

Kämpfen und schießen

Der 37-Jährige wohnt zusammen mit seiner Freundin im Berliner Westen in einer Altbauwohnung. Auf der Sitzecke im Wohnzimmer rollt sich der getigerte Kater schläfrig zusammen. In der Ecke des Raums fällt eine Glasvitrine ins Auge. Darin ausgestellt: Auszeichnungen, Medaillen, Namensbänder, Fotos und ein Messer.
„Ich bin im Rahmen meines Zuges Patrouillentätigkeit gelaufen, gefahren", erzählt Szafran. "Wir sind in Bereiche vorgerückt, wo sehr, sehr lange Zeit keine Unterstützung der afghanischen Bevölkerung stattgefunden hat. Die Intensität der Einsätze hat sich natürlich gesteigert. Wir wurden alarmiert, wenn irgendwo ein Feuergefecht war, also kämpfen und schießen.“
Christians Freundin Kerstin steht ein wenig abseits. Eine zierliche Frau mit wachem Blick und Pferdeschwanz. Sie hört ihrem Freund aufmerksam zu. Vor sechs Jahren sind die beiden zusammengezogen. „Den Schrank, den hatte er damals auch schon", erzählt sie.
"Das wirkte immer sehr wichtig für ihn. Auch wenn ich keinen Hintergrund wusste. Aber er hat auch nie wirklich offen gesprochen, noch war mir die Tragweite bewusst: Was steckt denn da überhaupt alles hinter?“
„Ich glaube, das ist auch ein bestimmter Schutz", räumt er ein. "Weil ich weiß ja, was das mit mir macht. Ich weiß auch, was das mit anderen Kameraden machen kann. Und vielleicht war das auch ein bestimmter Schutz dir gegenüber, dass ich das Zeug nicht auch noch dir aufladen will.“

Selbstmordversuch der Expartnerin

Kerstin knabbert an ihrem Lippenpiercing, Christian erzählt Michael, dass seine erste Beziehung auch wegen seiner Auslandseinsätze zerbrochen ist. „Im dritten Einsatz bin ich Vater geworden."
Der Einsatz habe damals auch bei seiner damaligen Partnerin, der Mutter seines Sohnes, etwas verändert. "Sie ist damit nicht klargekommen und hat probiert, sich das Leben zu nehmen. Ich bin dann aus dem Afghanistan-Einsatz das dritte Mal wiedergekommen. Man drückte mir mein drei Monate altes Kind in die Hand: Viel Erfolg, du weißt schon, wie das geht. Während meine Frau in der geschlossenen psychiatrischen Anstalt saß.“
Christian plagen Schuldgefühle: Gegenüber seiner Familie, aber auch gegenüber den ehemaligen Kameraden, seiner zweiten Familie, wie er sagt. Die Kameraden muss er damals verlassen, um für den Sohn da zu sein.
Es bleibt das Gefühl, alle im Stich gelassen zu haben. Seitdem quälen ihn Stimmungsschwankungen und eine große innere Unruhe. Er sei deswegen auch schon im Bundeswehrkrankenhaus gewesen, "um das abklären zu lassen, auf der Psychiatrischen, ob das ein PTBS ist.
Da meinte man: Nein, du hast eine Anpassungsstörung. Das hat nichts mit der Bundeswehr zu tun, ist alles privat." Seitdem seien zehn Jahre vergangen. "Und seitdem habe ich mich auch nicht mehr gekümmert.“

Die unerfüllte Mission

Beim Abschied verspricht Michael Gebel, sich am nächsten Tag noch einmal bei Christian zu melden. Denn der fürchtet, dass das Gespräch genauso die Bilder und Gedanken triggern könnte, gegen die er ankämpft. Neben den Baldriantabletten in der Küche findet Christian wenig später einen Plastikbeutel mit Safranfäden.
„Ich kann mich noch ganz gut an den Sprachmittler meines ersten Einsatzes erinnern, Mansour hieß der. Der hat mir damals Safran mitgebracht, weil ich ähnlich wie das Gewürz heiße." Man habe natürlich eine persönliche Bindung aufgebaut zu den Ortskräften, sagt Gebel. "Auch die haben Familie gehabt und man hat sich gegenseitig ein bisschen erzählt.“
Und plötzlich ist das Bild vom Flughafen in Kabul wieder da. „Und wenn man sieht, wie die Leute sich an irgendwelche Flugzeuge klammern und versuchen, da rauszukommen, dass man sich als Angehöriger der Bundeswehr schon Gedanken gemacht hat, durch die Türkei hinzureisen und die Leute rauszuholen. Diese Gedanken sind halt da.“
Der stille Abzug, die Flagge im Dreck, Heimkehrer, die von keinem Politiker empfangen wurden – für Christian Szafran ist all das Symbol dafür, wie er sich selbst behandelt fühlt und welchen Wert der Afghanistan-Einsatz für die Politik hat. Ein Einsatz, bei dem er selbst viele Male hätte getötet werden können und über den er bis vor Kurzem nie wirklich geredet hat. Der aber etwas mit den Soldatinnen und Soldaten macht. Viele krank macht.
Einige finden die Kraft und vernetzen sich, um sich gegenseitig zu helfen, so wie Michael und Christian. Fast alle können Afghanistan nicht loslassen, weil sie viele enge Mitarbeiter zurücklassen mussten. Eine unerfüllte Mission.  

Wenn sich der Schock in Scham und Wut wandelt

Auch für Thomas Riske. Der einstige Fallschirmjäger war als IT-Spezialist für die ISAF in Afghanistan. Ebenfalls vor zehn Jahren. Mit dem missglückten Abzug kehrt Afghanistan, das Erlebte, auch in seinen Alltag zurück. Das habe ihn schon sehr beeindruckt, erzählt er.
"Einerseits, wenn man dort ankommt und dieses Land als Erstes sieht, dass ich einfach nur dachte, wow! Und wenn man dann mal zivil unterwegs ist und sieht, wie die Leute leben, auch unter sehr ärmlichen Umständen leben und versuchen, damit klarzukommen." Das habe ihn auch ein bisschen geerdet. "Dann hat man einen anderen Eindruck, was es heißt. Wir leben hier in Komfort.“
Ein deutscher Soldat steht in Uniform vor einem Panzer der Bundeswehr und schaut freundlich in die Kamera.
Thomas Riske während seines Einsatzes in Afghanistan, 2010.© Thomas Riske
Hinter dem Esstisch der Familie hängt eine Fotogirlande mit Bildern seiner Frau und den beiden kleinen Kindern. Seit August verbringt Thomas Riske seine Tage meist hier. Er arbeitet im Homeoffice und verfolgt im Internet die Situation in Afghanistan.

Das Unglück am eigenen Wohnzimmertisch

„Als tatsächlich feststand, da stapeln sich Tausende am Flughafen, da gibt es eigentlich keinen wirklich definierten Plan, da war das für mich so, dass ich erst einmal ungläubig reagiert habe. Das hat mich wirklich schockiert. Als ich festgestellt hab, dass tatsächlich kein irgendwie gearteter Plan existiert, die Mitarbeiter da rauszuholen, ist das dann ganz schnell gekippt: Und zwar Richtung Scham."

Ich habe mich geschämt. Ich war wütend darüber, dass man die Situation so hat eskalieren lassen. Es war auch Traurigkeit dabei. Das hat wehgetan. Da habe ich mich dann entschieden, was zu unternehmen.

Thomas Riske

Persönlichen Kontakt zu Ortskräften von damals hat Thomas Riske nicht mehr. Dennoch fühlt er sich verbunden, will helfen. Er aktiviert seinen alten Twitter-Account und vernetzt sich mit Journalist:innen und NGO-Mitarbeitern, tritt mit dem Patenschaftsnetzwerk „Afghanische Ortskräfte“ in Kontakt und verfolgt die Tweets vom Auswärtigen Amt.
„Und hab dann festgestellt, dass ein spezieller Mensch immer wieder zu diesen Tweets ´Wir haben so und so viele Menschen gerettet` immer wieder geschrieben hat: ´Hallo, ich bin auch eine deutsche Ortskraft gewesen, ich sitze mit meiner Familie hier in Afghanistan, keiner reagiert auf meine Anfragen, was soll ich tun?` Nachdem ich das zwei-, dreimal gelesen hab, immer von derselben Person, dachte ich dann irgendwann: Antworte ihm doch mal!“

Hoffen auf die deutsche Regierung? Fehlanzeige

Über eine persönliche Nachricht kommt der Berliner in Kontakt mit Nazar, einem Journalisten und ehemaligen Mitarbeiter der Bundeswehr. Der sitzt seit August mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern in Afghanistan fest. Traumatisiert ist Thomas Riske nicht. Das Unglück findet für ihn in diesem Moment statt – an seinem Wohnzimmertisch. Von hier aus steht er in ständigem Kontakt mit Nazar.
„Er war sowohl vor als auch hinter der Kamera aktiv. Das ist auch den Leuten dort lokal negativ aufgefallen, zumal da seine Frau und er beide hochgebildet sind. Nach ihrer Bundeswehrverbindung haben sie in ihrer Dorfregion eine Art Dorfschule gegründet und haben dort lokale Mädchen auch mit unterrichtet, haben auch ein paar Zwangshochzeiten verhindert und haben dort natürlich auch lokale Feinde geschaffen.“

I am so worried for them. What will they do if something happens to me? I am ready to move. Just waiting for the green signals. It’s hell here.

Schreibt Nazar am 23. August

Da steht der Sieg der Taliban bereits fest. Den Norden, seine Heimatregion, haben sie schon eingenommen, seine ehemalige Schule in Brand gesetzt. Hoffen auf Hilfe von der deutschen Regierung? Fehlanzeige. Thomas Riske versucht deshalb, auf eigene Faust an Informationen zu kommen, um Nazar zur Flucht zu verhelfen.
Per Mail soll ihm der Journalist Dokumente über seine Arbeit für die Bundeswehr schicken. Damit schafft der Berliner es tatsächlich, Nazar mit seiner Familie auf eine Evakuierungsliste zu setzen. Für den hat sich die Lage inzwischen massiv zugespitzt: Die Taliban bedrohen sein Umfeld, suchen ihn aktiv. Mit seiner Familie muss er mehrmals den Ort wechseln und das Handy tauschen.
„I got so many calls from unknown numbers, they are threatening me. So I’m on a way to another place. I have no balance. I have got a little cash in order to survive. The cash is only for my children: For food and water", schreibt er am 25. August. Sein Geld reiche gerade mal für Wasser und Essen – für seine Kinder. Doch es gibt Hoffnung: Thomas Riske hat eine Fluchtmöglichkeit gefunden und schreibt zurück:
„If you can make it to the Abbey gate. I was told Americans are picking up people there tonight. And the Germans are said to do the same. Tonight and tomorrow night. Meeting point for the German people should be near the Hotel Baron. I was told you should separate from the main crowd and if there are other people directly near the hotel, they are the Afghans who worked for Germany, too. Das war die Info, die ich am 25. August hatte.“

My wife is crying

Die Nacht und den kommenden Tag, den 26. August, lotst Thomas Riske von Berlin aus Nazar und dessen Familie in Kabul zum Fluchtpunkt, dem Hotel Baron nahe des Flughafengates. Nachmittags dann aber die Nachricht von Nazar: Die Soldaten würden vom Gate abgezogen.
Er ist irritiert. „Darauf habe ich dann meiner Familie geschrieben: Geht sofort weg. Wenn die Soldaten vom Gate abziehen, ist davon auszugehen, dass entweder Chaos und Desaster ausbricht oder sonst irgendwas. Geh sofort weg. Und zwei, drei Minuten später krieg ich eine Nachricht: Es gab gerade eine Explosion, um mich herum wird überall geschossen. Ich weiß nicht, ob ich das überlebe.“
Thomas Riske ist verzweifelt und versucht zugleich, einen klaren Kopf zu behalten. Er gibt Nazar Anweisungen: Geh in Deckung, fliehe, schütze die Kinder. Einmal schreibt er auch: My wife is crying.

Das Messer immer griffbereit am Bett

Ein langer Flur, von der Decke hängt ein großer Spielzeugpanzer, auf dem Regal ein Barett. An den Wänden Auszeichnungen neben Familienfotos, ein Bild von Michael Gebels Frau Claudia und den beiden Patchwork-Töchtern: „We love you“ haben sie auf ihre Fußsohlen geschrieben. Sie grinsen in die Kamera.
Michael Gebel hat nach unserem ersten Treffen seine Familie gefragt, ob auch sie öffentlich davon erzählen wollen, wie sehr seine Afghanistan-Vergangenheit ihr Leben prägt. Seine Frau Claudia stimmt sofort zu.
„Ich habe Michi kennengelernt, da hat er noch im Wohnwagen gelebt", erzählt sie. "Das war wirklich total strukturiert, auf diesem kleinen Platz hat alles seinen Platz gehabt und alles seine Reihenfolge. Dadurch hat er sich seinen Halt geschaffen.“
Michaels Frau Claudia ist eine sportliche Frau, die weitaus jünger wirkt, als sie ist. Vor 14 Jahren, mit 36, hat sie Michi, Michael Gebel, kennengelernt. Da hatte er bereits zwei Ehen hinter sich. Zögerlich setzt auch er sich an den Küchentisch.
„Ich bin dann nach Hause gekommen, Ehe kaputt und Haus weg, und hab dann einen Raum für mich gesucht. Und bin dann auf die Alternative gestoßen, in einen Wohnwagen zu gehen. Es war übersichtlich, ich konnte alles im Blick, ich konnte alles beobachten", sagt er, und sie:
„Da lag das Messer immer griffbereit am Bett. Das hatte seinen festen Platz, das muss man halt verstehen.“ Er habe auch das Bett so aufgestellt, dass er die Tür vom Wohnwagen aus jederzeit im Blick hatte, sagt er. "Egal, was passiert wäre, ich hatte jederzeit gesehen, wenn jemand auf mich zugekommen wäre.“

"Mitunter handlungsunfähig"

Sieben Einsätze, zuletzt drei in Afghanistan, haben ihn schwer gezeichnet, als er Claudia kennenlernt. Nur in sehr kleinen Schritten lässt er damals Nähe zu, erzählt sie und hat Verständnis. Seine neue Familie sei sein Hafen, sagt Michael heute. „Mitunter ist er handlungsunfähig. Das, was er will, schafft er nicht, umzusetzen. Das hat man dann halt gefühlt und mitgetragen. Bis man dann irgendwann auf dem Zahnfleisch gegangen ist und selbst nicht mehr konnte.“
Auch deswegen ist sie derzeit krankgeschrieben: ein Burn-out. Michael drückt die zwölfjährige Tilda herzlich an sich. Er genießt solche Augenblicke. Sie geben ihm Kraft, wenn plötzlich die Dämonen zurückkehren, wie zuletzt vor zwei Jahren. „Ich hatte 2019 einen großen Rückfall", erinnert er sich. Ausgelöst wurde der durch Handwerker, die vor der Tür standen.
"Die Familie hatte morgens das Haus verlassen, ganz normal. Und zwei Minuten nach sieben klingelt es an der Haustür und ich denke: Mensch, die haben die Schulsachen vergessen! Ich mach die Tür auf. Da stehen zwei Männer vor mir, Handwerker, die aber erst zu neun Uhr bestellt waren. Der eine hat eine Ähnlichkeit im Gesicht auch mit dem langen Bart, der mich sofort an ein Ereignis erinnern ließ im Einsatz. Mit letzter Kraft konnte ich die Tür zuschlagen. Dann war es auch schon passiert.

Dann bist du drin, du bist in dem Film drin, du hast auch keine Chance, ich habe auch gar nicht wahrgenommen, wo ich eigentlich bin, sondern hab dann hinter der Tür gesessen und habe versucht, die Tür verzweifelt zuzuhalten. Ich bekam immer weniger Luft. Atemnot, Schweißausbrüche. Das habe ich fast 20 Minuten genau.

Michael Gebel

"Die haben natürlich mehrfach an der Tür geklingelt." Schließlich habe er sie reingelassen. "Ich habe mich bewaffnet, das haben die nicht mitbekommen, ich habe so ein relativ großes Messer von der KSK und das habe ich hier drin im Schrank, und habe versucht, ständig Kontakt zu halten mit Claudia, am Telefon: Dann: nicht schlafen, nervös werden, ungerecht werden, laut werden. Die merkten schon, da geht wieder irgendein Prozess bei mir los. Dann habe ich mir sofort Hilfe geholt.“

Fluchtreflex beim Geruch von Lammfleisch

Zehn Monate dauert es, bis Michael sich einigermaßen wieder fängt. Vieles, was er gesehen hat, habe ihn abstumpfen lassen, sagt er und erzählt davon, wie er die Überreste eines abgestürzten Kampfpiloten geborgen habe – nur noch sein Fuß war da.
Bis heute ergreift er die Flucht, wenn er Lammfleisch riecht – es erinnert ihn an den Geruch verbrannter menschlicher Körper. Die Wohnungstür ist hinter Claudia und der Tochter ins Schloss gefallen. Es ist still geworden, der Kaffee in Michaels Tasse ist kalt. Auch wenn er mittlerweile von seinen Dämonen erzählen kann – letztlich ist er doch mit ihnen allein.
„I don’t know how to thank this person. He is a great human being. He helped us in every step of our lives", sagt Nazar von seinem Versteck in Afghanistan aus. Und meint damit Thomas Riske.
Es ist eines der wenigen Telefonate zwischen den beiden. Dass Nazar den Anschlag von Kabul überlebt hat, erfährt der Berliner noch am Abend des 26. August. Doch der Fluchtversuch hat für den Afghanen und seine Familie schlimme Folgen.
Bundeswehrsoldaten des Wachbataillons gehen durch das Regierungsviertel zum Reichstagsgebäude zum Großen Zapfenstreich zum Ende des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr.
Auf dem Weg zum Großen Zapfenstreich zum Ende des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr.© picture alliance / dpa / Kay Nietfeld
„Nach dem Anschlag flohen wir von dem Gate und liefen einer Talibanpatrouille in die Arme. Sie schlugen Menschen mit ihren Stöcken und Gewehren. Ich wurde auch geschlagen, mein Sohn wurde getreten. Irgendwie haben wir es geschafft, zu entkommen. Mit Thomas' Hilfe konnten wir dann hierhin, nach Mazar el Sharif fliehen. Doch meine Frau war im vierten Monat schwanger, sie hat das Baby verloren. Ihr geht es aktuell sehr schlecht, sie hat infolge der Schläge Nierenprobleme und viel Blut verloren, sie ist sehr schwach.“

Nazar lebt von Thomas Hilfe

Von Berlin aus organisiert Thomas Riske medizinische Hilfe: Ärzte, die nur anhand von Bildern Ferndiagnosen stellen. Er schickt Geld und sucht weiter nach Fluchtmöglichkeiten für die afghanische Familie. „Wir sind gerade an einem sicheren Ort. Ich teile alle meine Erlebnisse mit Thomas. Ich habe sonst niemanden mehr auf der Welt, ich vertraue sonst niemandem mehr, sogar meiner Familie nicht.
Was auch immer passiert. Wir gehen kaum raus, zweimal die Woche kaufe ich Lebensmittel. Ohne Thomas wäre es für uns nicht möglich, zu überleben. Wir haben den Schmuck meiner Frau verkauft. Als ich auch noch mein Handy verkaufen wollte, hat Thomas uns Geld geschickt. Wir leben jetzt von seiner Hilfe.“
Unter den Taliban werde das Netz bald zusammenbrechen, erklärt Thomas. Und weiß, dass es dann so gut wie unmöglich sein wird, Nazar und seiner Familie zu helfen.

Veteranentreff vorm Kanzleramt

Der 13. Oktober: Vor dem Reichstag findet am Abend ein Großer Zapfenstreich statt. Soldat:innen sollen heute für ihren Einsatz am Hindukusch geehrt werden, das Kapitel Afghanistan dadurch – mit Verzögerung – einen angemessenen Abschluss finden. Nur ausgewählte Gäste sind geladen, der Bereich rund um das Regierungsviertel ist weiträumig abgesperrt.
Direkt gegenüber dem Bundeskanzleramt haben sich an diesem sonnigen Nachmittag Einsatzveteranen aus der ganzen Republik versammelt. Auf dem Geländer der Treppe, die vom Biergarten hinunter zur Spree führt, stehen Soldatenstiefel. Als Symbol dafür, dass die ehemaligen Einsatzkräfte öfter gehört werden wollen – nicht nur bei offiziellen Veranstaltungen wie dem Zapfenstreich gegenüber.
Auf einem Geländer stehen zwei Paar robuste Stiefel, im Hintergrund ist das Bundeskanzleramt zu sehen.
Zuletzt hat Dunja Neukam ihre Stiefel in Afghanistan getragen.© Deutschlandradio / Kai Adler
Eines der Stiefelpaare auf der Treppe gehört Dunja Neukam. „Meine Stiefel waren in der Kiste in der Tüte drin", erzählt sie. "Ich habe die so, wie ich sie damals ausgezogen habe im Einsatz, in die Tüte reingetan und zugemacht, dann nicht mehr angeguckt.“ Ob das einen Grund habe. Sie wisse es nicht genau, meint Neukam. "Auf jeden Fall ist noch Blut drauf, vom Schockraum.“
Dunja Neukam ist eine sportliche Frau mit weichen, offenen Gesichtszügen und einem warmen Lächeln. Viele Jahre über war sie immer wieder in Afghanistan im Einsatz – zunächst als Intensivkrankenschwester, dann als psychologischer Feldwebel.

War es das wert?

Während vor dem Reichstag, auf der anderen Seite der Spree, der Zapfenstreich an zwei Soldaten gemeldet wird, wird hier draußen über den missglückten Abzug diskutiert. Er habe bei vielen Wunden aufgerissen, auch bei ihr selbst, sagt Dunja Neukam.
„Da sind mir natürlich meine ganzen gefallenen Kameraden eingefallen, die ich persönlich gut kannte, zum Beispiel die Kameraden, die bei dem Busanschlag 2003 ums Leben kamen. Wir waren ganz eng, und dann fallen diese Dinge ein und dann überlegt man: War es das denn wert, dass die da gefallen sind, dafür?“
Männer und Frauen, bekleidet mit weißen Warnwesten, stehen an einem Geländer gelehnt. Im Hintergrund ist das Bundeskanzleramt zu sehen.
Am Tag des Zapfenstreichs treffen sich einige Veteranen in Berlin. Sie diskutieren über den Afghanistan-Abzug.© Deutschlandradio / Kai Adler
„Es ging dort ja auch um demokratisierende Prozesse. Dass das jetzt am Ende alles so schnell und Holter-di-Polter wieder in Talibanhand ist, das haben wir nicht verstanden“, ergänzt Michael Gebel und macht eine ausladende Handbewegung hin zum Kanzleramtsgebäude.
„Als Soldat erfüllen wir einen Auftrag. Wir sind Erfüllungsgehilfen der Politik. Die Politik gibt uns vor, was wir machen sollen, und wir setzen um. Aber den Rückhalt, den sie uns versprochen haben, den vermissen wir halt sehr.“

Tausende Ortskräfte halten sich weiter versteckt

Von den insgesamt knapp 25.000 Menschen, denen von Deutschland eine Zusage zur Aufnahme erteilt wurde, sind am 8. Dezember gerade einmal rund 7000 Ortskräfte evakuiert. Tausende halten sich weiter versteckt, fürchten ihre Hinrichtung durch die Extremisten.
Christian Szafran war einer der wenigen, der am offiziellen Zapfenstreich vor dem Reichstag teilgenommen hat.
„Was für mich sehr besonders an diesem Zapfenstreich war, ist, dass es der erste Zapfenstreich war, der nicht an irgendeinen Verteidigungsminister gemeldet wurde, sondern er wurde wirklich an zwei Soldaten gemeldet. Ich persönlich fand den Zapfenstreich, der hat in meinem Kopf so ein bisschen die Wogen geglättet. Das, was in Wünsdorf schiefgelaufen ist, haben sie dann vielleicht an dem Tag ein bisschen wieder rausgerissen. Ich will nicht sagen: wiedergutgemacht. Aber sie haben sich Mühe gegeben. Und es war ein angemessener Rahmen für 20 Jahre Einsatz.“

Nazars Flucht wird immer unwahrscheinlicher

Mitte Dezember. Vier Monate sind seit dem Abzug vergangen. In Afghanistan haben die Taliban alle Errungenschaften der vergangenen 20 Jahre zunichtegemacht. Viele Menschen wurden ermordet, Frauen tragen wieder Burka, Mädchen dürfen nicht mehr zu Schule gehen. Im Winter droht Afghanistan zudem eine Hungersnot.
Nazar und seine Familie hoffen immer noch auf eine Flucht, doch die wird immer unwahrscheinlicher. So soll Nazar zur Passbehörde gehen und sich einen Pass ausstellen lassen – die aber wird von den Taliban geführt, die über die biometrischen Daten die Identität aller Afghanen feststellen können. Da könnte sich Nazar auch gleich den Taliban ausliefern.
Vor einem Holzkreuz steht ein Paar robuste Stiefel, befüllt mit Kieselsteinen. Daneben steht eine Kerze und ein Vase mit Blumen.
Im Kreuzgarten beim Veteranenfrühstück: Erinnerung an gefallene Soldatinnen und Soldaten.© Deutschlandradio / Kai Adler
Thomas Riske steht weiterhin in Kontakt mit ihm. Weiß aber langsam auch nicht mehr weiter. „Ich hatte mich auch mal erkundigt, ob ich selbst runterkommen könnte, als letzte Verzweiflungstat. Wenn man ihn gar nicht mehr anders erreichen könnte, war ich am Überlegen, selbst runter zu fliegen und ein Satellitentelefon oder Ähnliches dazulassen."
Das Problem sei nur: "Danach wäre er vermutlich verbrannt, wenn jemand mitkriegt, dass der sich mit einem Westler getroffen hat. Mehr eine Verzweiflungstat wäre das als ein wirklicher Plan. Was auch immer geht.“

Aufgeben ist keine Option

Es ist früher Abend, der Arbeitstag geht zu Ende, Thomas holt seine Kinder von der Kita ab. Später wird er sich wieder an den Rechner setzen und bis nachts mit Nazar und seinem Netzwerk an Helfern chatten. Zumindest funktioniert das Internet, noch.
„Ich fühle mich diesen Leuten wirklich sehr, sehr verbunden inzwischen. Sie fühlen sich mir verbunden, die bezeichnen mich inzwischen als ihren deutschen Bruder, weil ich mehr für sie getan habe als ihre gesamte Familie bis jetzt, in dieser Krise.“
Mehr auch als die deutsche Regierung. Thomas Riske fühlt sich verantwortlich. Winterlicher Nieselregen schlägt ihm ins Gesicht. Denkt er daran, aufzugeben? „Und was passiert dann?“, will er wissen. Er sei doch der Einzige, der die Familie noch retten könne. „Das Prinzip Hoffnung“, sagt er. Sein Lächeln wirkt erschöpft und bemüht. Er schüttelt den Kopf. „Nein. Aufgeben ist keine Option.“

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