Warum wir Gnade brauchen

Erlösung vom Diktat der Selbstausbeutung

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Reproduktion des historischen Gemäldes: “Der Apostel Paulus”, Rembrandt, um 1630, Kunsthistorisches Museum Wien.
Auf Gnade sei jeder Mensch angewiesen, so sah es der Apostel Paulus, weil niemand leben könne, ohne Schuld auf sich zu laden. © akg images / Kunsthistorisches Museum Wien / Rembrandt
Von David Lauer · 20.12.2020
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Gnade ist eigentlich keine philosophische Kategorie, vor allem nicht in unserer ganz auf Freiheit und Autonomie zielenden Tradition. Warum wir sie dennoch gerade heute brauchen, auch jenseits von Weihnachten, verrät David Lauer.
"Gnadenbringende Weihnachtszeit": Worte, die seit der Kindheit vertraut sind, kaum noch beachtet, selbst bei den Gelegenheiten, zu denen sie gesungen oder wenigstens halbverschämt mitgenuschelt werden.
Aber was soll das eigentlich sein: Gnade? Es mag zuerst den Anschein haben, als sei die Philosophie die falsche Ansprechpartnerin für diese Frage. Gnade ist zuvörderst ein theologischer Begriff.

Kein Mensch kann unschuldig bleiben

Gnade ist die Antwort des Apostels Paulus auf die Frage, wie sich der Mensch erfolgreich für sein Tun, für sein Leben rechtfertigen kann – vor Gott, vor seinem Gewissen. Die erschütternde Einsicht lautet, dass dies unmöglich ist. Es ist unmöglich, weil kein Mensch auf dieser Welt leben und unschuldig bleiben kann. Das gilt für den größten Menschenfreund ebenso sehr wie für den schlimmsten Massenmörder. Die Unterschiede der Schuld sind lediglich graduell.
Die Erlösung von Selbstverurteilung, Selbstzweifel, Selbstmitleid und Selbsthass kann daher nie aus eigener Kraft hervorgehen, sondern nur aus Gnade. Und Gnade kann man sich nicht verdienen. Gnade wird, ihrem Begriffssinn nach, geschenkt und passiv empfangen.
Gnade ist das, was Jesus von Nazareth im Gleichnis vom verlorenen Sohn zum Ausdruck bringt: Das unverbrüchliche Versprechen, dass du, was immer du dir hast zuschulden kommen lassen, in Liebe angenommen sein wirst. Du kannst dich nicht rechtfertigen für das, was du getan hast – und du musst es auch nicht.

Gnade durchkreuzt das Prinzip ausgleichender Gerechtigkeit

Das Problem mit der Gnade ist, dass sie mit jeder rationalistischen Auffassung von ausgleichender Gerechtigkeit bricht. Sie durchkreuzt die landläufige Auffassung der Gerechtigkeit als messbare Äquivalenz, als quasi ökonomischer Ausgleich zwischen Leistung und Lohn, Vermögen und Verdienst, Schuld und Strafe.
Die Gnade ist nicht berechnend und nicht berechenbar. Sie ist eine Gabe, ein Ereignis – bedingungslos, im buchstäblichen Sinne grund-los, um nicht zu sagen: sinnlos. Deshalb ist sie, wie Paulus im Ersten Korintherbrief beinahe selbstironisch anmerkt, "den Griechen" (und damit meint er: den Philosophen) eine "Torheit".
David Lauer steht für ein Porträt-Bild vor einem grauen Hintergrund.
"Komm. Es ist gut." - In einer Zeit, die den einzelnen immer mehr Selbstverantwortung zugesteht und zumutet, lernen wir die erlösende Kraft der Gnade neu zu schätzen, meint David Lauer.© © Fotostudio Neukölln / Gunnar Bernskötter
Paulus hingegen deutet die Gnade als eine "Befreiung zur Freiheit". Was dieser visionäre Gedanke bedeutet, können vielleicht wir Spätmodernen erst vollständig abschätzen. Wir sind die Erben einer Tradition, die – von Kant bis zum Existenzialismus – die Freiheit des Subjekts auf seine Fähigkeit zur Selbstrechtfertigung gebaut hat. Frei zu sein heißt in dieser Tradition nichts anderes, als autonom zu sein – sich selbst zu verwirklichen, indem man sich selbst das Gesetz gibt, nach dem man lebt.
Mit dieser Freiheit geht jedoch der Imperativ einher, sich unaufhörlich vor sich selbst rechtfertigen zu müssen für alles, was man tut oder nicht tut. Paulus lehrt, dass dies niemandem gelingen kann.

Wenn Freiheit in Entfremdung und Zwang umschlägt

In den letzten Jahren haben sich soziologische und sozialphilosophische Analysen darin überboten, die Pathologien unserer Zeit auf diese permanente Überforderung des Subjekts zurückführen, auf die Unterwerfung immer größerer Teile der Lebensführung unter das rücksichts- und, ja, gnadenlose Diktat der kompetitiven Selbstvermessung, der Selbstvergleichung, der Selbstoptimierung, der Selbstausbeutung. So verwandelt sich die stolze Freiheit zur Selbstrechtfertigung in Entfremdung und Zwang.
Zur Freiheit von dieser Ökonomie der Selbstrechtfertigung kann uns Gnade befreien – Gnade, die sich in der liebenden Geste von jemandem äußert, der sagt: Komm, es ist gut.
Hier liegt der Grund, warum das Denken des Paulus in der Philosophie derzeit von niemandem so ernst genommen wird wie von atheistischen Marxisten wie Slavoj Žižek und Alain Badiou. Ein philosophisches Denken der Gnade ist aktueller denn je, auch über die Weihnachtszeit hinaus.

David Lauer ist Philosoph und lehrt an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Philosophie des Geistes- und der Erkenntnistheorie. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

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