Warum wir einen gesetzlichen Mindestlohn brauchen

Von Elisabeth Niejahr |
Als Angel Merkel kürzlich in Berlin auf einer großen Unternehmertagung des Deutschen Industrie- und Handelskammertages auftrat, überraschte sie ihre Zuhörer. Man hatte einen Vortrag vor allem über die frisch beschlossenen Steuerentlastungen für die Wirtschaft erwartet. Normalerweise bringt so etwas viel Beifall, und der Finanzminister hatte die neuen Pläne der Großen Koalition gerade erst angekündigt.
Stattdessen sprach die Kanzlerin ein anderes, aus Sicht der Wirtschaft viel heikleres Thema an: Sie warb um Verständnis für die Einführung von Mindestlöhnen. Es müsse doch in Deutschland möglich sein, von der eigenen Arbeit zu leben, sagte sie. Der Applaus der Bosse blieb an dieser Stelle ziemlich verhalten.

Merkels Auftritt zeigte: Offenbar ist die Einführung von Mindestlöhnen in der Bundesregierung beschlossene Sache. Offiziell wollen sich Union und SPD erst Ende des Monats festlegen, und während die Sozialdemokraten sogar Unterschriften für die Mindestlohn-Einführung sammeln lassen, kommt aus der Union auch einiger Widerstand. Doch alles spricht dafür, dass es zu einer Einigung kommt.

Die Strategen der SPD glauben zu recht, dass sie mit dem Mindestlohn-Thema nur gewinnen können: Entweder die Union geht auf ihre Forderungen nach branchenbezogenen Mindestlöhnen ein. Das wäre ein großer Erfolg für die Sozialdemokraten. Oder es gäbe keine Einigung. Dann hätte die SPD ein populäres Wahlkampfthema, für das sie sogar gemeinsam mit den Gewerkschaften gegen CDU und CSU kämpfen könnte.

Und die Unions-Strategen? Sie glauben, dass die SPD mit genau diesen Überlegungen recht hat. Deshalb ist die Neigung in der Parteiführung recht groß, der Einführung von Mindestlöhnen zuzustimmen. Ihre Bedingung ist dabei, dass nicht etwa der Gesetzgeber einen Mindestlohn festlegt, sondern die Tarifpartner Löhne aushandeln, die dann für allgemeinverbindlich erklärt werden.

Genau das ist die größte Schwäche der Regierungspläne: Die Einführung von Mindestlöhnen kann für Deutschland sinnvoll sein, aber nur wenn zwei Bedingungen erfüllt sind. Erstens muss die Politik sie festlegen, nicht Gewerkschaften und Arbeitgeber, zweitens müssen die Mindestlöhne niedrig sein.

Warum ist das so? Wenn die Tarifparteien entscheiden, werden die Mindestlöhne immer in den Regionen und den Branchen besonders hoch sein, wo die Gewerkschaften gut organisiert sind. Das hat mit den Bedürfnissen der Arbeitnehmer jedoch nichts zu tun, im Gegenteil. An den oft als Beispiel herangeführten niedrigen Löhnen von Friseuren in Thüringen, die weniger als vier Euro pro Stunde bekommen, würde sich nichts ändern – schließlich handelt es sich um Tariflöhne. Ein gesetzlicher Mindestlohn hingegen würde für alle gelten.

Er ist allerdings für die Politik heikler – die Regierung, insbesondere die Sozialdemokraten dort, würde ständig gedrängt, den Lohn heraufzusetzen. Und die Linkspartei würde jede Festlegung übertrumpfen. Davor haben viele Sozialdemokraten Angst.

Denn der zweite Punkt, der auf den es ankommt, damit Mindestlöhne nützen und nicht schaden, ist die Höhe. Es stimmt ja, was momentan viele Ökonomen sagen: Mindestlöhne von acht, neun oder zehn Euro würden Beschäftigungschancen von denjenigen vernichten, die sie besonders dringend brauchen: Den Geringqualifizierten.

Wer den neuen Mindestlohn nicht erwirtschaften kann, wird arbeitslos – und wer Mindestlöhne fordert, die gegenüber dem Status Quo der geringsten Branchenlöhne deutliche Verbesserungen bedeuten, nimmt in Kauf, die Arbeitslosigkeit in Problemgruppen zu erhöhen und zu zementieren. Bei einem niedrigen Mindestlohn von beispielsweise vier Euro fünfzig ist das anders. Damit können sich auch viele Wirtschaftswissenschaftler anfreunden.

Und noch eine dritte Forderung sollte ein neues Mindestlohn-Gesetz möglichst erfüllen: Es sollte mit einer Abschaffung der Mini-Jobs verbunden werden, also der so genannten geringfügigen Beschäftigung. Momentan fallen für solche 400-Euro-Stellen weniger Steuern und Sozialabgaben an als für reguläre Jobs.

Der Staat subventioniert auf diese Weise mit Milliardenbeträgen Arbeitgeber, die oft genug reguläre Arbeitsplätze in Mini-Jobs aufspalten. Und er hilft Hunderttausenden von Rentnern, Studenten und Hausfrauen, deren Einkommen eigentlich gesichert ist, die mit ihrem Minijob nur hinzuverdienen und die solche Hilfe eigentlich nicht brauchen.

Diese sehr populäre Regelung abzuschaffen erfordert allerdings Mut, der momentan in beiden großen Regierungsparteien fehlt. Doch bei dem geplanten Mindestlohn-Gesetz wird sich zeigen, ob es Union und SPD vor allem um eine sinnvolle Neuordnung des Niedriglohnsektors geht – oder ob der Wahlkampf schon begonnen hat.