Warum sich Menschen für Kinder entscheiden

Christiane Dienel im Gespräch mit Matthias Hanselmann · 30.07.2013
Ab 1. August können daheim erziehende Eltern Betreuungsgeld beantragen - doch das Interesse ist noch gering. Die Entscheidung für Kinder hänge eben nicht vom Geld ab, meint die Familienforscherin Christiane Dienel. Wichtiger sei es, in die Zukunft vertrauen zu können - zum Beispiel durch eine feste Partnerschaft und einen stabilen Sozialstaat.
Matthias Hanselmann: So gut wie keiner will die sogenannte Herdprämie, wertfreier auch Betreuungsgeld für daheim erziehende Eltern genannt. In den meisten Bundesländern ist das Interesse an diesen 100 bis 150 Euro monatlich tatsächlich so gut wie nicht vorhanden. Beispiele: Thüringen null Anträge, Mecklenburg-Vorpommern 44 Anträge, und in Bayern, wo der Familienzuschuss umfangreich beworben wurde, sind es bisher schlappe 500 Interessenten. Im Moment kann man also sagen, das Betreuungsgeld ist ein Flopp.

Was ist los mit den Deutschen und ihrem Nachwuchs? Am Wochenende hat sich der ehemalige CDU-Minister für Arbeit und Sozialordnung, Norbert Blüm, mit einem Essay in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" zu Wort gemeldet. Er beklagt darin, dass die Familie der Ratio der Wirtschaft untergeordnet würde und stellt fest, mit einem homo oeconomicus lasse sich keine Ehe gründen.

Ist es tatsächlich allein das Geld, das Paare davon abhält, Kinder in die Welt zu setzen? Wie wichtig sind staatliche Zuschüsse für unsere Familien und diejenigen, die eine gründen wollen? Darüber sprechen wir jetzt mit Christiane Dienel. Sie ist Familienforscherin und Historikerin, Volkswirtschaftlerin und seit 2011 Präsidentin der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst, Hildesheim, Holzminden, Göttingen. Und, nicht zu vergessen, sie ist dreifache Mutter. Willkommen, Frau Dienel!

Christiane Dienel: Ja, hallo, guten Tag!

Hanselmann: Norbert Blüm beklagt, wie gesagt, dass mit einem homo oeconomicus sich keine Ehe gründen ließe. Er meint also, mit einem Partner oder einer Partnerin, die nur aufs Geld schaut. Was meinen Sie, schauen die meisten Paare in Deutschland zu sehr aufs Geld und entscheiden dann erst, ob ein Kind sozusagen drin ist, man es sich leisten kann?

Dienel: Also ich glaube, im Kern seiner Argumentation hat Herr Blüm etwas ganz Wahres hier angesprochen, nämlich, dass am Ende die Entscheidung für Ehe, für Familie, für Kinder eben nicht vom Geld abhängt und der Staat da auch ganz machtlos ist, wenn er versucht, mit finanziellen Hilfen etwas zu verändern.

Hanselmann: Sie sagen "am Ende" – warum am Ende?

Dienel: Na ja, weil natürlich in der praktischen Lebensplanung die Frage, kann ich mir dies oder jenes leisten, erst mal eine Rolle spielt und weil sicherlich für Paare, die sich auf das Abenteuer Partnerschaft und Ehe einlassen, die Frage der finanziellen Ressourcen eine Rolle spielt. Aber bei der Entscheidung für Kinder, ist mein Eindruck, ist das dann eben nicht mehr so. Denn anders wäre es ja kaum zu erklären, dass die Bundesrepublik Deutschland mit einem der leistungsfähigsten Kinderfinanzierungssysteme eine so niedrige Geburtenrate hat, die ja auch sich überhaupt nicht beeindrucken lässt von Kindergelderhöhungen, Betreuungsgeld oder Erziehungsgeld.

Hanselmann: All diese Dinge haben ja nicht zu einer größeren Lust auf Kinder beigetragen. Was genauer macht es Paaren offensichtlich so schwer, sich für ein Leben mit Kindern zu entscheiden in dieser unserer immer noch Wohlstandsgesellschaft?

Dienel: Ich bin überzeugt davon, dass die Hauptgründe, warum sich Menschen für Kinder entscheiden, tatsächlich eben nicht in der wirtschaftlichen Situation liegen, sondern in der Frage, was man sich von der Zukunft erwartet und ob man sich traut, diese Zukunft anzugehen. Also letztlich das, was Vertrauen stiften kann. Dazu gehört eben eine feste Partnerschaft und gehört insofern ganz sicher die Ehe, weil die Ehe natürlich dieses Dauer-Versprechen noch überzeugender transportieren kann als eine Partnerschaft, die nicht rechtlich abgesichert ist. Dazu gehören sicher auch alle anderen Dinge, die einem Zukunftshoffnung geben können: Ein stabiler Sozialstaat, der verlässlich funktioniert, gute Infrastrukturen, Kinderbetreuung, Schulen, die nicht gleich wieder geschlossen werden. Sicherlich auch Dinge wie Freundschaft, Verwandtschaft und auch Glaube.

Hanselmann: Herr Blüm beklagt die Familie der Zukunft als ein rein ökonomisches und Vernunftsprojekt. Ich will das noch mal ein bisschen genauer schildern, auch für unsere Hörerinnen und Hörer. Da wird es eine elternfreie frühkindliche Erziehung geben, da werden Mama und Papa nur ersatzweise im Spiel sein. Den Löwenanteil der Erziehung würden Erziehungsprofis übernehmen, die Eltern würden als Amateureltern immer unwichtiger, sagt Blüm, und darauf liefe unsere gegenwärtige Familienpolitik hinaus. Und: Die Arbeitgeber reiben sich jetzt schon die Hände, denn sie können dann ja Männer und Frauen beschäftigen, ohne sich weiter um die Familien kümmern zu müssen. Geht unsere Familienpolitik wirklich in diese oder in eine ähnliche Richtung?

Dienel: Das ist eine spannende Frage. Ich habe den Eindruck, dass Herr Blüm da doch sehr, sehr weit weg ist von der Lebenswirklichkeit heutiger Familien. Ich würde gerade die Gegenthese wagen. Ich denke, dass heutige Familien, auch mit beiden erwerbstätigen Eltern am Ende mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen, intensiver etwas mit ihnen zusammen unternehmen als die, sagen wir mal, 1950er-Familie in Westdeutschland.

Und wenn Sie mir ein persönliches Beispiel erlauben, mein Vater, Jahrgang 1920, also ungefähr die Zeit, in der auch Herr Blüm seine Familie gestaltet hat, kam um fünf Uhr nach Hause, und dann musste ich das Wohnzimmer verlassen. Und es war nicht so, dass er sich dann mit mir unterhalten hätte. Also ich glaube, dass heutige Väter, und zwar ganz unabhängig davon, ob ihre Kinder in der Kita sind oder nicht, sich viel mehr einbringen in das Familienleben, und dass die Gesellschaft auch ein viel höheres Engagement von Eltern erwartet, tatsächlich Gespräche mit den Kindern zu führen, mit ihnen etwas zu unternehmen, viel mehr in Urlaub zu fahren als früher.

Insofern, dieses Schreckbild, dass Kinder plötzlich nicht mehr in ihren Familien sind und nur in der Kinderbetreuung, das ist, denke ich, etwas, was die heutige Familienrealität überhaupt nicht beschreiben kann.

Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton, wir sprechen mit Christiane Dienel. Sie ist Hochschulpräsidentin und Familienforscherin. Frau Dienel, Sie haben es eben angesprochen, Ihre private Späre. Wie haben Sie denn als dreifache Mutter Arbeit und Familie zusammengebracht? Welche Schwierigkeiten gab es für Sie dabei?

Dienel: Ich hab das, ehrlich gesagt, nie als große Schwierigkeiten empfunden. Ich habe immer voll gearbeitet, habe auch noch ein relativ junges Kind, unserer Jüngster ist erst sechs. Wir haben uns immer stark beruflich engagiert, aber gleichzeitig eben diese Intensität des Familienlebens durch viele Rituale, gemeinsame Dinge, sagen wir mal, gepflegt. Ich glaube, viele Sachen, die Herrn Blüm auch sehr gefallen würden. Die wirklich nichts mit Berufstätigkeit und Kinderbetreuung zu tun haben. Also zusammen singen, musizieren, backen, kochen, alle diese Dinge, die man sich vorstellt in einer, sagen wir mal, schönen Familie, die fanden bei uns genauso statt, und das ist genau das, was ich auch erlebe bei heutigen Frauen und Männern. Sie haben eigentlich einen ganz hohen Anspruch an ihr Familienleben, und wenn sie das irgendwie hinkriegen, lösen sie den ein, und zwar ganz unabhängig davon, wie viel sie arbeiten oder nicht arbeiten.

Hanselmann: Dennoch ist es nach wie vor sehr oft der Fall, dass der Mann deutlich mehr verdient als die Frau. Wie würden Sie denn ein solches Paar dazu motivieren, Freude und Stress mit Kindern besser untereinander aufzuteilen?

Dienel: Tja, die spannende Geschichte ist ja, Herr Blüm argumentiert ja auch, das Ehegattensplitting, das abzuschaffen sei so was wie der Sargnagel für die Familie. Und das ist ja tatsächlich geradezu Unsinn. Wenn ich da wieder auf mich schaue, wir haben immer ungefähr gleich viel verdient, über das Ehegattensplitting haben wir nicht einen Euro vom Staat bekommen. Und ich glaube, ungleiches Einkommen in Familien wird nach und nach weniger werden. Frauen sind qualifizierter, arbeiten mehr Stunden, und wir leben in einer Welt, wo es eine Familie der Gleichheit gibt, wo gleichberechtigte Partner miteinander aushandeln, wie sie Familie leben wollen. Da lässt sich die Zeit nicht zurückdrehen, sondern es geht wirklich darum, diese Art von Familie möglich zu machen, und dazu braucht es natürlich dann auch Kinderbetreuung.

Hanselmann: Die Fachhochschule, der Sie vorstehen, die Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim, Holzminden, Göttingen, wurde schon als besonders familienfreundlich ausgezeichnet. Wodurch ist sie das eigentlich? Wie haben Sie das hinbekommen?

Dienel: Wir haben uns schon seit sehr vielen Jahren, ganz von Anfang an, kann man sagen, diesem Thema verschrieben. Wir haben eine eigene Krippe eingerichtet für die Studierenden und die Beschäftigten der Hochschule. Wir haben alle unsere Studiengänge teilzeitstudierbar gemacht und eine Menge anderer Maßnahmen. Mobile Kinderbetreuung selbst für Wochenendseminare und Ähnliches mehr. Eigentlich ging es darum, wirklich Kinder haben als absolute Normalität im Hochschulalltag zu etablieren. Und das hat auch wirklich sehr gut funktioniert. Ich denke, dass es für unsere Studierenden ganz klar ist, wenn sie einen Kinderwunsch haben, das gefährdet in keiner Weise ihr Studium. Und natürlich steckt da auch eine Menge drin an Beispiel. Im Studium zu erleben, dass man diese Dinge miteinander vereinbaren kann, um dann sein eigenes Leben entsprechend zu gestalten und auch später als Vorgesetzter zum Beispiel im eigenen Betrieb oder im Betrieb, wo man beschäftigt ist, darauf zu achten, dass Vereinbarkeit von Familie und Beruf eben nicht nur ein Schlagwort ist.

Hanselmann: Sie haben vorhin gesagt, die Männer haben sich früher so gut wie gar nicht in den aktuellen Familienablauf eingeklinkt, das sei heute anders. Können Sie denn erkennen, dass der Trend nach wie vor zum Umdenken geht, besonders bei den jungen Männern, dass sie für gewisse Zeit zu Hause bleiben und sich das dann, wenn schon nicht ökonomisch, dann wenigstens emotional lohnt?

Dienel: Ich denke, das ist ganz offensichtlich, und das hängt natürlich auch mit ökonomischen Bedingungen zusammen. In dem Maße, wie Frauen sich stärker beruflich engagieren, ist es auch nicht mehr so zwingend, dass ein junger Vater in Vollzeit die ganze Zeit arbeiten muss, kann man sich eher einen Ausstieg leisten. Und die gesellschaftliche Akzeptanz ist ja jetzt doch schon sehr, sehr groß geworden. Es gibt nur noch wenige Umfelder, sagen wir mal, große Konzerne, aber selbst da nicht, wo es als nicht akzeptabel gilt, wenn ein Mann kurzfristig auch ausscheidet. Was nach wie vor nicht akzeptiert ist, denke ich, ist so langjährige Teilzeittätigkeit von Männern. Das schadet der Karriere. Da muss man aber auch klar sagen, das schadet der Karriere von Frauen natürlich ganz genauso.

Hanselmann: Man bekommt manchmal das Gefühl, wenn man von Liebe redet, von Bindung und Freude am Kind, dass man dann sofort in die konservative Ecke gestellt wird. Müsste sich nicht auch da etwas grundlegend ändern?

Dienel: Das ist so leicht gesagt. Ich weiß nicht genau, ob man das politisch ändern kann, vermutlich nicht. Ich habe aber schon den Eindruck, dass funktionierende Partnerschaften, Ehen, die halten, dass die ganz viel davon haben, dass sie wissen, dass ihre Ehe am Ende ganz stark auf einem gemeinsamen Wertefundament gegründet ist, einem Akzeptieren der jeweils anderen Persönlichkeit und eben ein bisschen jenseits der Wirtschafts- und Konsumgesellschaft stattfindet. Und da hat Herr Blüm am Ende auch recht.

Hanselmann: Frau Dienel, Sie haben den Überblick. In welchem Land in Europa wird Ihrer Meinung nach die beste Familienpolitik betrieben nach all den Kriterien, die wir jetzt in diesem kurzen Gespräch genannt haben?

Dienel: Die beste Familienpolitik – ich glaube, die oft zitierten skandinavischen Länder haben eine ausgezeichnete Familienpolitik, was die Qualität der Infrastrukturen für Kinder betrifft. Und die frauengerechteste Familienpolitik gibt es vielleicht in Frankreich, weil da tatsächlich, sagen wir mal, Kinderbetreuung nicht nur als Service für Eltern gedacht ist, sondern wirklich als Angebot eines staatlichen Erziehungssystems. Und für eine Selbstverständlichkeit: Frausein und Kinderhaben zusammengehört.

Hanselmann: Vielen Dank an Christiane Dienel und schöne Grüße in Ihr Urlaubsland Österreich!

Dienel: Tschüss!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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