Warum man von der Stasi nichts über die Stasi erfährt
1992 gehörte ich zu den ersten DDR-Bürgern, die ihre Stasi-Akten einsehen konnten. Die Journalisten warteten vor der Tür der Behörde, für die sich der Name Gauck-Behörde erst noch einbürgern sollte. Sie bestätigten unsere Vermutungen und verbreiteten die Erkenntnisse in alle Welt.
Am nächsten Nachmittag klopfte ein Hauptmann a. D. an meine Wohnungstür. Ich hätte im Fernsehen bedauert, sagte er, dass die Stasi-Leute nicht zum Gespräch über ihre Mitverantwortung bereit wären. Nun sei er da und willens, mir Rede und Antwort zu stehen. Wir trafen uns mehrere Male. Natürlich saß meinem Gegenüber der Schock vom Ende der DDR noch in den Knochen und Sätzen. Natürlich habe die Staatssicherheit Fehler gemacht, meinte er, kleine und große. Aber er zog es vor, darüber zu reden, was er richtig gemacht zu haben glaubte: einmal habe er einen Anschlag auf einen Kindergarten verhindert. Und er habe in der DDR lebende Nazis ermittelt. Die Partei habe sich jedoch nicht immer seiner Erkenntnisse bedient. Namen von unentdeckten Nazis wolle er aber nicht nennen, von IMs schon gar nicht. Denn er habe Verantwortung gegenüber diesen Personen. Dann sprach er von Stasi-Hysterie, Hexenjagd und von seiner Arbeitslosigkeit.
Einmal stand er vor einer Pflanze, die Dank der Pflege meiner Frau bei uns besser gedieh als in seinem Blumentopf. Er wollte einen Ableger. Plötzlich drehte er sich zu mir um und fragte: "Haben Sie gar keine Angst, dass Leute wie Sie zur Rechenschaft gezogen werden, wenn etwas mit den Stasi-Akten schiefgeht?"
Die Gespräche waren insgesamt interessant und nicht unfreundlich. Aber am einer entscheidenden Stelle blieben sie ohne jedes Ergebnis: Ich erfuhr nichts Konkretes über seine frühere Arbeit. Allerdings hätte mich stutzig machen müssen, dass er aus der benachbarten Abteilung stammte, die mich einst überwacht hatte. Eine Mischung aus Lob ("mit Ihnen kann man ja reden"), verdeckten Drohungen, Anspielungen auf unentdeckte IMs und Klagen über seine Lebensperspektive verwirrten sich auf eine im Nachhinein sehr schlüssige Art und Weise. Der Mann setzte einfach die Zersetzungsmaßnahmen aus DDR-Zeiten unter veränderten Bedingungen fort.
Damit sind wir beim Personal der Behörde, die nach dem Ende der DDR gegründet wurde, um die Staatssicherheit und ihre Akten beherrschbar zu machen. Die Vermutung, dass dies mit den Mitteln der alten Bundesrepublik allein nicht gelingen würde, war völlig richtig. Denn die Beschäftigung von Stasi-Leuten an dieser Stelle war und bleibt ein Fehler. Jeder kann in "Magdalena", dem Werk des vor sechs Jahren an einer rätselhaften Blutkrankheit verstorbenen Schriftstellers Jürgen Fuchs nachlesen, wie dieser bei seinen Recherchen in der Behörde offensichtliche Manipulationen an den Akten feststellte. Fuchs glaubte, dass sie von ehemaligen Stasi-Mitarbeitern stammten.
Wie konnte sich eine neu geschaffene Behörde im vereinten Deutschland aus Gründen des DDR-Arbeitsrechts in derartige Abhängigkeiten begeben? Vermutlich im Gefühl saturierter Arroganz, die Dinge sowieso im Griff zu haben und für alle Zeiten über die Deutungshoheit zu verfügen. Auch der Hinweis auf die Loyalität dieser ehemaligen Stasi-Mitarbeiter zählt nicht wirklich, sie werden in 99,99 % der Fragen sogar überloyal sein; aus schlechtem Gewissen oder aus Dankbarkeit. Wer einmal zu dienen gelernt hat, dient halt weiter. Es kommt auf den einen Ausnahmefall an, bei dem alte Loyalitäten die neuen außer Kraft setzen. Man muss nicht einmal von Erpressbarkeit reden.
Die Wahrheit über die Stasi kann nicht mithilfe ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter zu Tage gefördert werden. Man muss sich ihre Informationen aneignen, um zu differenzierten Einschätzungen in der Lage zu sein. Es geht auch nicht um das bewusste Verschweigen von Fakten, es geht vor allem um das Abtrainieren der Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber dem alltäglichen Handwerkszeug, um Menschen zu beeinflussen.
Diese Selbstverstümmelung, die Unfähigkeit, die Wirklichkeit zu beschreiben, gehört zum Beruf. Es ist daher fast müßig, die Frage zu stellen, ob der Ex-Stasi-Offizier bei mir sich planvoll geschickt verhielt, um zu testen und herauszufinden, wie weit meine Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem Ministerium für Staatssicherheit ging. Oder ob er sich instinktiv verhielt, fast automatisch, als ob er noch im Dienst sei.
Es wäre daher gut, wenn man angesichts der Verhandlungen über die Energiezukunft Deutschlands mit Russland die Frage stellen würde, ob diese von Personen geführt werden, die schon zu DDR-Zeiten geheimdienstliche Kontakte nach Osten hatten. Aber vielleicht führt der geheimnisumwitterte Tod ehemaliger russischer Meisterspione in Großbritannien und an anderen Orten dazu, die allgemeine Sensibilität über weiter wirkendes Geheimwissen zu schärfen.
Lutz Rathenow, Schriftsteller. 1952 in Jena geboren, Studium Germanistik/Geschichte, kurz vor dem Examen wegen nicht konformer Ansichten und Handlungen relegiert, Transportarbeiter, 1977 Übersiedlung nach Ostberlin, knapp 15. 000 Seiten Stasi-Akten zeugen von Aktivitäten und Repressalien, wegen des ersten nur im Westen verlegten Buches 1980 kurzzeitig verhaftet, Lyriker, Essayist, Kinderbuchautor, Satiriker, Kolumnist, Gelegenheitsdramatiker. Zusammen mit Harald Hauswald (Fotografie) schrieb er den erfolgreichen Foto-Text-Band "Ost-Berlin - Leben vor dem Mauerfall" (Jaron Verlag, 2005, englisch/deutsch). 2006 erscheinen "Ein Eisbär aus Apolda" (Kindergeschichten), "Gelächter, sortiert" (Fußballgedichte) und wieder mit dem Kult-Fotografen Harald Hauswald "Gewendet - vor und nach dem Mauerfall. Fotos und Texte aus dem Osten" (Jaron Verlag).
Einmal stand er vor einer Pflanze, die Dank der Pflege meiner Frau bei uns besser gedieh als in seinem Blumentopf. Er wollte einen Ableger. Plötzlich drehte er sich zu mir um und fragte: "Haben Sie gar keine Angst, dass Leute wie Sie zur Rechenschaft gezogen werden, wenn etwas mit den Stasi-Akten schiefgeht?"
Die Gespräche waren insgesamt interessant und nicht unfreundlich. Aber am einer entscheidenden Stelle blieben sie ohne jedes Ergebnis: Ich erfuhr nichts Konkretes über seine frühere Arbeit. Allerdings hätte mich stutzig machen müssen, dass er aus der benachbarten Abteilung stammte, die mich einst überwacht hatte. Eine Mischung aus Lob ("mit Ihnen kann man ja reden"), verdeckten Drohungen, Anspielungen auf unentdeckte IMs und Klagen über seine Lebensperspektive verwirrten sich auf eine im Nachhinein sehr schlüssige Art und Weise. Der Mann setzte einfach die Zersetzungsmaßnahmen aus DDR-Zeiten unter veränderten Bedingungen fort.
Damit sind wir beim Personal der Behörde, die nach dem Ende der DDR gegründet wurde, um die Staatssicherheit und ihre Akten beherrschbar zu machen. Die Vermutung, dass dies mit den Mitteln der alten Bundesrepublik allein nicht gelingen würde, war völlig richtig. Denn die Beschäftigung von Stasi-Leuten an dieser Stelle war und bleibt ein Fehler. Jeder kann in "Magdalena", dem Werk des vor sechs Jahren an einer rätselhaften Blutkrankheit verstorbenen Schriftstellers Jürgen Fuchs nachlesen, wie dieser bei seinen Recherchen in der Behörde offensichtliche Manipulationen an den Akten feststellte. Fuchs glaubte, dass sie von ehemaligen Stasi-Mitarbeitern stammten.
Wie konnte sich eine neu geschaffene Behörde im vereinten Deutschland aus Gründen des DDR-Arbeitsrechts in derartige Abhängigkeiten begeben? Vermutlich im Gefühl saturierter Arroganz, die Dinge sowieso im Griff zu haben und für alle Zeiten über die Deutungshoheit zu verfügen. Auch der Hinweis auf die Loyalität dieser ehemaligen Stasi-Mitarbeiter zählt nicht wirklich, sie werden in 99,99 % der Fragen sogar überloyal sein; aus schlechtem Gewissen oder aus Dankbarkeit. Wer einmal zu dienen gelernt hat, dient halt weiter. Es kommt auf den einen Ausnahmefall an, bei dem alte Loyalitäten die neuen außer Kraft setzen. Man muss nicht einmal von Erpressbarkeit reden.
Die Wahrheit über die Stasi kann nicht mithilfe ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter zu Tage gefördert werden. Man muss sich ihre Informationen aneignen, um zu differenzierten Einschätzungen in der Lage zu sein. Es geht auch nicht um das bewusste Verschweigen von Fakten, es geht vor allem um das Abtrainieren der Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber dem alltäglichen Handwerkszeug, um Menschen zu beeinflussen.
Diese Selbstverstümmelung, die Unfähigkeit, die Wirklichkeit zu beschreiben, gehört zum Beruf. Es ist daher fast müßig, die Frage zu stellen, ob der Ex-Stasi-Offizier bei mir sich planvoll geschickt verhielt, um zu testen und herauszufinden, wie weit meine Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem Ministerium für Staatssicherheit ging. Oder ob er sich instinktiv verhielt, fast automatisch, als ob er noch im Dienst sei.
Es wäre daher gut, wenn man angesichts der Verhandlungen über die Energiezukunft Deutschlands mit Russland die Frage stellen würde, ob diese von Personen geführt werden, die schon zu DDR-Zeiten geheimdienstliche Kontakte nach Osten hatten. Aber vielleicht führt der geheimnisumwitterte Tod ehemaliger russischer Meisterspione in Großbritannien und an anderen Orten dazu, die allgemeine Sensibilität über weiter wirkendes Geheimwissen zu schärfen.
Lutz Rathenow, Schriftsteller. 1952 in Jena geboren, Studium Germanistik/Geschichte, kurz vor dem Examen wegen nicht konformer Ansichten und Handlungen relegiert, Transportarbeiter, 1977 Übersiedlung nach Ostberlin, knapp 15. 000 Seiten Stasi-Akten zeugen von Aktivitäten und Repressalien, wegen des ersten nur im Westen verlegten Buches 1980 kurzzeitig verhaftet, Lyriker, Essayist, Kinderbuchautor, Satiriker, Kolumnist, Gelegenheitsdramatiker. Zusammen mit Harald Hauswald (Fotografie) schrieb er den erfolgreichen Foto-Text-Band "Ost-Berlin - Leben vor dem Mauerfall" (Jaron Verlag, 2005, englisch/deutsch). 2006 erscheinen "Ein Eisbär aus Apolda" (Kindergeschichten), "Gelächter, sortiert" (Fußballgedichte) und wieder mit dem Kult-Fotografen Harald Hauswald "Gewendet - vor und nach dem Mauerfall. Fotos und Texte aus dem Osten" (Jaron Verlag).