Warum läuft das Theater Amok?

Von Stefan Keim · 18.04.2010
Es gehört zum Grundrepertoire menschlichen Verhaltens, auszurasten, zu wüten, zu töten. Wie es der rasende Roland tat und manche Tragödienhelden bei Shakespeare. Auch zur Debatte über Amokläufen an Schulen kann das Theater einiges beitragen.
Orlando ist verwirrt, seine Triebe übernehmen das Gehirn, er verliert völlig die Kontrolle. Er ist ein mutiger Krieger, der sich weder vor Dämonen noch vor dem Gang in die Unterwelt fürchtet. Doch diese Tugenden werden zu Gefahren, sobald er dem Wahnsinn verfällt. Eine Frau weist ihn ab. Das kann er nicht ertragen, wütet, schlägt um sich, will die Welt zerhauen.

Amokläufe gibt es schon seit Jahrhunderten auf der Theaterbühne. Und erst recht in der Literatur. Denn es ist der "rasende Roland" von Ariost, dem Georg Friedrich Händel und viele weitere Barockkomponisten viele Opern widmeten. Die heißen nicht immer "Orlando", oft kommt der mittelalterliche Amokläufer auch unter anderen Titeln auf die Bühne. Auch Macbeth läuft im fünften Akt von Shakespeares Tragödie Amok, wenn alles verloren ist und der Wald von Dunsinane auf sein Schloss zu marschiert. Wilde Raserei, ein spontaner Blutrausch zählt zum Verhaltensrepertoire nicht nur stürzender Helden. Im Mittelalter galt es geradezu als besondere Fähigkeit eines Kämpfers, wenn er in der Schlacht zur Wildsau wird.

Insofern ist es keine Neuerung, dass sich einige neue Theaterstücke mit dem Amoklauf beschäftigen. Doch der Anlass ist ein anderer. Fast immer geht es um Jugendliche, die Mitschüler und Lehrer, oft auch sich selbst töten. Emsdetten, Winnenden, Erfurt - den Orten, an denen so etwas geschehen sind - werden nun schon immer mit den Bluttaten verbunden. Wobei der Begriff "Amoklauf" streng genommen nicht richtig ist. Denn diese Menschen haben ihre Taten fast immer sorgfältig geplant, mit kühlem Kopf und völlig gewissenlos. Andererseits müssen sie sich schon in einem emotionalen Ausnahmezustand befinden. Diesem spüren die meisten Theatertexte nach und versuchen zu begreifen, wie es dahin kommen konnte. Meistens liefern sie nur Ansätze, Ideen, Stimmungen, aber mehr ist auch nicht zu erwarten.

"Amoklauf, mein Kinderspiel" von Thomas Freyer steht seit einigen Jahren regelmäßig auf den Spielplänen. Es ist in der Nachwende-Gesellschaft verortet. Drei Jugendliche finden keinen Platz im Leben, die Veränderungen lösen Angst aus, die schließlich in Wut umschlägt. Eine politische Deutung, die jedoch etwas kurz greift. Denn die Pubertät ist immer eine gefährliche Zeit, in der sich der Mensch definieren muss, und die Geborgenheit einer sicheren wirtschaftlichen und sozialen Existenz für die Zukunft gibt es überall nur in den seltensten Fällen. Das Jugendtheater hat sich schnell mit dem Thema beschäftigt. Vor sechs Jahren gab es sogar eine Aufsehen erregende Ringuraufführung in Düsseldorf, Rostock und Dresden. Der sonst eher als Drehbuchautoren tätige Felix Huby hat zusammen mit Boris Pfeiffer den Roman "Ich knall euch ab" des Amerikaners Morton Rhue bearbeitet. Durch Rückblenden während einer Feierlichkeit zum Gedenken an die Opfer wird der Amoklauf rekonstruiert. Die dramaturgische Konstruktion überzeugt, das mosaikartige Zusammensetzen einer Geschichte, die Fragment bleiben muss. Simon Stephens hingegen setzt in seinem neuen Stück "Punk Rock", das am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg läuft, nicht auf Distanz, sondern auf Direktheit. In diesem Text kommen nur Jugendliche vor, die oft klischeehaft gezeichnet sind.

Die härteste Konfrontation des Publikums mit einem Amokläufer haben der schwedische Dramatiker Lars Norén und die Schauspielerin Anne Tismer gewagt. Das Solostück "20. November" bezieht sich konkret auf den Amoklauf im westfälischen Emsdetten. Aus den Internet-Notizen des Täters hat Norén sein Stück gebaut. Anne Tismer steht im Kapuzenshirt vor dem Publikum, stößt und zischt die Sätze hervor. "Ihr seid nicht unschuldig", sagt sie, "ihr habt diesen Krieg angefangen, ihr!" Ihr ganzer Körper ist mühsam gebändigte Wut, sie wirkt, als wolle sie gleich auf die Zuschauer los gehen. Anne Tismer zeigt einen Menschen, der sich zum Äußersten getrieben fühlt, der nur noch kaputt machen will, dem jede Hoffnung, jede Freude verloren gegangen ist.

Den Gegenentwurf zu diesem Stück liefert Juli Zeh mit ihrem vor einer Woche in Düsseldorf uraufgeführtem Stück "Good Morning, Boys and Girls". Sie nimmt keinen einzelnen Fall als Vorbild, sondern denkt mehrere zusammen. Ihr geht es nicht um die Psychologie eines Individuums, sondern um den Amoklauf als gesellschaftliches Phänomen. Deshalb wirkt ihr Stück – unterstützt von der abstrahierenden Inszenierung von Stephan Rottkamp – nicht direkt emotional. Es ist ein Gedankenspiel, das eine erschreckende These hervorbringt.

Es gibt eine Figur namens Amok, die aus verschiedenen Figuren spricht. Auf der Bühne ist es ein Kind mit Maske und weißem T-Shirt, das in einem Pappkarton sitzt. Wer in seine Nähe kommt, hat eine verzerrte Stimme. Dieser Amok – den man auch als eine böse Parodie des antiken Liebesgottes Amor lesen kann – kann jeden befallen. Es gehört zum Grundrepertoire menschlichen Verhaltens, auszurasten, zu wüten, zu töten. Wie es der rasende Roland tat und manche Tragödienhelden bei Shakespeare. Hier ist der Punkt, an dem das Theater viel zur Debatte beitragen kann. Der Ausbruch von Gewalt mag zwar im Augenblick unvorstellbar sein, es ist aber kein neues Phänomen. Menschen laufen manchmal Amok.