Warum Halbgötter in Weiß auf die Straße gehen

Moderation: Holger Hettinger |
Seit drei Tagen streiken die Ärzte der Berliner Charité, der größten Universitätsklinik Europas. Prof. Rolf Wienau, Medizinhistoriker am Institut für Geschichte der Medizin an der Charité, spricht von einem gewandelten Berufsbild. Ärzte begriffen sich inzwischen als Dienstleister, die über die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit ausgenutzt würden.
Hettinger: Das, was da geschieht, ist ein ganz normaler Arbeitskampf, so wie ihn normalerweise Bergarbeiter oder LKW-Fahrer führen. Streikende Ärzte, dieses Bild deutet darauf hin, dass etwas passiert sein muss im Selbstverständnis der Mediziner, denn Ärzte begreifen sich als ganz besonderen Stand und Teil des Berufsethos ist auch, dass man so ziemlich alles mitmacht, was der Beruf an Mühen mit sich bringt. Was genau passiert ist im Selbstbild der Ärzte, das wollen wir nun klären im Gespräch mit Prof. Rolf Wienau vom Institut für Geschichte der Medizin an der Berliner Charité. Herr Prof. Wienau, ein sehr schönes, pathetisches Synonym für den Arzt ist ja die Bezeichnung "Halbgott in Weiß". Solch ein Begriff kommt einem heutzutage vor wie aus einer fernen Welt. Welche Bestandteile prägen denn das Selbstbildnis von Ärzten heute?

Wienau: Ganz sicher nicht mehr das Bild vom "Halbgott in Weiß". Das gilt auch für die Chefärzte. Große Kliniken - und die Charité ist die größte Klinik, die größte Universitätsklinik in Europa -, große Kliniken sind Dienstleistungsunternehmen geworden, in denen die Ärzte nicht mehr primär dem Gedanken "Heilen und Helfen" - der spielt sicher eine Rolle, und die sind ihm verpflichtet -, dass der im Hintergrund steht, sondern im Vordergrund steht die Frage: Wie kann man eine optimale Versorgung in - sagen wir es vorsichtig - suboptimalem Umfeld für die Patienten erbringen? Das bringt mit sich, dass Assistenzärzte vor allen Dingen sich zu Recht als Dienstleister begreifen, die häufig über die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit ausgenutzt werden. Nein, ausgenutzt ist falsch, aber die bis an die Grenzen und über die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit hinausgehen. Und insofern ist es ein neues Bild vom Arzt, der sozusagen Gesundheitsdienstleistender ist und nicht mehr der Hausarzt, wie das früher war, der über das Wohl und Wehe einer ganzen Familie wachte. Familien sehen diese Ärzte in der Klinik nicht mehr, die sehen einzelne Patienten.

Hettinger: Also das sind junge Menschen, die am Limit arbeiten?

Wienau: Ja.

Hettinger: Warum spielen denn ausgerechnet beim Ärzteberuf die angenommenen Eigenschaften "edel", "hilfreich" und "gut" eine so große Rolle?

Wienau: Na, die werden natürlich seit Jahrhunderten dem Arzt zugeschrieben. Ganz viele junge Studenten haben, kommen auch in das Studium hinein mit dieser Vorstellung, Helfer zu sein. Das ändert sich - und ich kann mich an meine eigene Assistentenzeit erinnern -, das ändert sich zumindest in der Assistentenzeit, wenn man denn einen Tagdienst hatte und dann noch einen Nachtdienst drauf und wieder einen Tagdienst, da denkt man zumindest darüber nach. Das ist eine Belastung, wie sie kaum in einem anderen Beruf je auftritt.

Hettinger: Diese Belastung geht einher mit einem großen Durchhaltewillen, einem großen Behauptungsvermögen der Mediziner. Irgendwie scheint das ja an irgendeiner Stelle eingeimpft zu werden? An welcher denn?

Wienau: Ja, das ist sicher so. Und wer heute Medizin studiert, der tut das ganz sicher nicht mehr, weil er das große Geld erwarten kann. In den Praxen ist das sicher genauso wenig zu verdienen, wie als Assistenzarzt in der Klinik. Nein, das ist schon eine besondere - Begabung, hätte ich beinahe gesagt -, eine besondere Charaktereigenschaft, dieses auf sich zu nehmen, um eben Patienten zu betreuen, ihnen zu helfen, sie zu heilen.

Hettinger: War denn früher alles besser im Ärzteberuf?

Wienau: Es war anders. Es war sicher nicht besser. Ich habe eben die Zeit angesprochen, als ich Assistenzarzt war, das war in den 60er Jahren: Wenn ich Wochenenddienst hatte, habe ich einen Freitag normal Dienst gehabt, habe Samstag Nachtdienst gehabt, habe den Samstag, den Samstag und den Sonntag unter Umständen dann noch als Diensthabender drangehängt und am Montagmorgen auch noch Dienst gehabt. Ob das für die Patienten immer zuträglich war, darüber kann man nachdenken.

Hettinger: Welche historischen Wurzeln hat denn dieses Ärztebild vom "Halbgott in Weiß"?

Wienau: Ich denke, es hat - die Wurzeln liegen darin, dass über Jahrhunderte sich ein Verhältnis zwischen Arzt und Patient entwickelt hatte, das wir als paternalistisch bezeichnen. Also die Übernahme der Verantwortung für Wohl und Wehe der Patienten durch den behandelnden Arzt. Das setzt natürlich auch voraus, dass der behandelnde Arzt den Patienten wirklich kannte, seine Lebensumstände kannte, und in einer paternalistischen Art und Weise entscheiden konnte - oder, wenn Sie wollen, sich anmaßte, zu entscheiden -, was für das Wohl des Patienten das Beste sei, der selber sozusagen seine Gesundheit in die Hände des Arztes, des Hausarztes, des behandelnden Arztes gab.

Hettinger: Das ist ja ein Bild aus einer Zeit, als der Patient quasi seine Sorge, aber auch seinen Wunsch nach Gesundheit abgeladen hat beim Arzt. Mittlerweile hat sich das Verhältnis ja ein bisschen umgedreht: Wir sind ja ein Volk von kleinen Medizinexperten, durch Presse, durch entsprechende Sendungen - seien sie jetzt aufklärerisch oder im Serienbereich à la Stefan Frank. Der Patient hat sich ja auch gewandelt. Dadurch auch der Arzt?

Wienau: Der Patient hat sich gewandelt, aber nicht so stark, wie es häufig dargestellt wird. Viele Patienten sind auch heute noch so strukturiert, dass sie ihre, die Sorge für ihre Gesundheit bei ihrem Arzt abladen und sagen: Du bist verantwortlich, du weißt wie das geht, du wirst mich richtig beraten, du wirst das Richtige machen. Was ich aber für wichtig halte, ist, dass die Autonomie des Patienten in einem solchen Gespräch mit dem Arzt nicht zu kurz kommt. Das ist schwierig, weil es immer ein Ungleichgewicht ist. Der Arzt ist - trotz aller Serien und trotz aller Illustrierten -, der Arzt ist eben doch der besser Informierte. Und es ist ein Ungleichgewicht und ein solcher Dialog ist schwierig. Aber ich denke, er ist führbar und er wird wahrscheinlich in Zukunft stärker geführt werden müssen. Es werden immer weniger Patienten sein, die sagen: Mach du mal, sondern, die das mit ihrem Arzt diskutieren wollen. Und ich denke, die Autonomie des Patienten ist schon eine wichtige Sache.

Hettinger: Diese Autonomie kann aber auch dazu führen, dass man eine gewisse Konsumhaltung einnimmt. Man liest vom Gerät xy, das ganz wunderbar sein soll bei diesem Krankheitsbild, und fordert diese Behandlung ein - und der Arzt hat überhaupt keine Möglichkeit mehr, zu entscheiden, ist das jetzt sinnvoll oder nicht. Also da hat sich ja auch das Kräfteverhältnis ein bisschen umgekehrt?

Wienau: Ja, also ich denke, das ist immer eine Sache, die ausgehandelt werden muss im Gespräch zwischen Arzt und Patient. Sicher wird der Patient nicht über einzelne Behandlungsschritte und über Instrumente und ähnliches entscheiden können. Aber der Arzt muss versuchen, es ihm, sozusagen, mit ihm eine Entscheidung zu finden. Das ist schwierig. Und Hans Jonas hat das ja in seiner Verantwortungsethik beschrieben und ich denke, das ist auch das, was in der Medizin eine Rolle spielen muss: Dass man Werte gegeneinander abwägt, mit dem Patienten und dem Arzt zusammen, und dass man dann gemeinsam zu einer Entscheidung kommt.

Hettinger: Wie wichtig ist denn eigentlich diese gute alte Ärzteromantik für den Patienten? Einerseits scheint man noch eine gewisse Sehnsucht zu haben nach der guten alten Weißkittelwelt, wenn man sich so durch die Fernsehserien drückt. Andererseits gibt es ja viele Patienten, die gerade angesichts des Ärztestreiks sagen: Ich habe da volles Verständnis dafür, die machen sich ja kaputt.

Wienau: Also ich denke, diese romantische Welt der, ja, des Hausarztes oder des Chefarztes, welchen immer Sie wollen, aus welcher Serie, die gibt es in der Praxis so schon lange nicht mehr. Also zumindest seit 30 Jahren nicht mehr, sondern das ist ein knochenharter Job vom jüngsten Assistenten bis zum Chef hinauf.

Hettinger: Ist die Ärzteschaft nicht auch ein bisschen selbst verantwortlich für dieses doch etwas angekratzte Image? Wenn man so Standespolitiker hört, die reden von "Budgets", von "Deckelung", von "Punktwert" - die Medizin kommt doch da kaum vor?

Wienau: Sie kommt zumindest in öffentlichen Reden weniger vor. Wobei sicher eine große Rolle spielt, dass heute viele Praxen ja am Existenzminimum existieren, weil der Punktwert immer weiter abgesunken ist, und das dazu führt, dass etwa in Brandenburg jetzt Kassenarztsitze nicht mehr besetzt werden können, weil einfach der Verdienst so gering ist, dass man sagt: Soll ich das wirklich tun? Nein ich denke, dass sehr viel Verständnis dafür in der Bevölkerung da ist, das hat sich ja auch in allen Umfragen im Interview gezeigt. Aber es ist doch etwas anderes noch, was eine Rolle spielt. Ich habe ein Zitat gefunden, das aus dem Enquete, äh, das sich auf die Enquete, auf die Ethik und Recht in der modernen Medizin bezieht, von Linus Geisler: "Arbeitslast und unzureichende Bezahlung scheinen - obwohl wichtige Faktoren - das Problem nicht vollständig zu erklären. Als Schlüsselfaktor wertet eine Untersuchung des British Medical Journal "einen Wandel zwischen Beruf, Patienten und Gesellschaft", der ursächlich dafür verantwortlich ist, dass der Beruf heute nicht mehr dem entspricht, was die Ärzte sich ursprünglich erwartet hatten."

Hettinger: Vielen Dank, Prof. Rolf Wienau!