"Warum entdecken, wenn man die tötet, die man entdeckt?"

11.04.2012
Orsenna schreibt über Christopher Kolumbus und lässt dessen jüngeren Bruder Bartholomäus erzählen. Der half seinem Bruder über Jahre bei den Reisen und Orsenna erzählt so eindringlich, dass der Leser diese Orte sogar riechen kann.
Er ist ein Multitalent: Erik Arnoult, geboren 1947 in Paris, promovierter Ökonom, Mitglied des französischen Staatsrats und der Académie française. Arnoult schrieb über Bankwesen und Staatsgeschäfte, er war der Ghostwriter von Mitterrand; die meisten Texte allerdings verfaßt er unter Pseudonym, und diese Texte - Sachbücher, Drehbücher, Prosawerke - sind die erfolgreichsten. Erik Orsenna nennt sich der Schriftsteller; 1988 bekam er für einen Roman den Prix Goncourt. In jüngerer Zeit erkundete Orsenna den Weg der Baumwolle ("Weiße Plantagen"), er sang das "Lob des Golfstroms", er skizzierte die Antarktis ("Großer Süden") und "Die Zukunft des Wassers". Orsenna liebt das Meer, er mag Seefahrer, vor allem seefahrende Forscher, die etwas riskieren; auf seinem Sitz in der Académie saß vor ihm Jacques Yves Cousteau.

Nun hat der Seefahrer Orsenna ein Buch über seinen berühmtesten Kollegen geschrieben. Christoph Kolumbus, Cristóbal Colón. Und da Orsenna ein guter Erzähler ist, wählte er einen verblüffenden Blickwinkel. Eine Randfigur berichtet, Bartolomeo Kolumbus (geboren 1461 in Genua, gestorben 1515), der jüngere Bruder des Entdeckers.

Der reale Bartolomeo, ein Kartenzeichner, half dem Bruder in Lissabon über Jahre hinweg, die Fahrten gen "Indien" zu planen; er war auf der zweiten Reise in die Neue Welt dabei, wurde Vizegouverneur der Insel Hispaniola, gründete dort 1498 die Siedlung Santo Domingo.

Orsenna beschreibt die Gestalt so eindringlich, dass sie plastisch wird. Er betritt mit uns die Biographie der Brüder, ihre Kindheit, wir verfolgen ihren Plan; Orsenna malt das alte Lissabon, malt Hispaniola, wir hören, riechen, schmecken jene Orte. Und was der Ich-Erzähler dort erlebt haben will, belegt der Autor mit Zitatnachweisen und Bibliographie.

Orsenna ist ein maßvoller Kritiker unserer Zivilisation. Ein Abenteuerbuch zu schreiben, war ihm zum Glück nicht genug; der Roman erhielt eine deftig kritische Grundierung. Weil die Kritik aber aus der Geschichte wachsen sollte, erzählt uns der Romancier ein Märchen: Sein Protagonist Bartolomeo fällt ein strenges Urteil über das Amerika-Projekt. Christoph Kolumbus - im Roman ist er ein Täter, abwesend, schweigend, uneinsichtig. Der jüngere Bruder aber, gequält vom Gewissen, wird zum Mahner und Warner. "Warum entdecken, wenn man die tötet, die man entdeckt?", fragt er. Und: "Was ist Gold, Cristóbal? Das, worauf alles hinausläuft?" Es sind die richtigen Fragen, doch liegen sie längst im Mainstream der Lateinamerika-Forschung; Orsennas Provokation ist nur Inszenierung.

Die Story von der Wandlung des Helden verpackt Erik Orsenna in eine Beichte: 1511, gegen Ende des Lebens, diktiert der fiktive Bartolomeo seine Geschichte einem Dominikaner und dessen Schreiber. Jener Beichtvater, behauptet Orsenna, heißt Bartolomé de Las Casas, und dieser Dominikaner, der authentische Las Casas (1484-1566), sollte zum schärfsten Kritiker der spanischen Conquista werden. In Lateinamerika hat er bis heute einen weit besseren Ruf als jener Genueser Seefahrer namens Cristóbal Colón.

Besprochen von Uwe Stolzmann

Erik Orsenna: "Cristóbal oder Die Reise nach Indien"
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Verlag C.H.Beck, München 2012
318 Seiten, 19,95 Euro
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