Warum der Faustkeil eigentlich ein Schweizer Messer ist

21.12.2012
Der Direktor des British Museum, Neil MacGregor, ist Autor einer überaus erfolgreichen BBC-Radioserie, in der er Objekte seiner Sammlung in einem viertelstündigen Essay vorstellt. Seine Ausflüge in die Weltgeschichte starten etwa bei einem Faustkeil, bei einem alten britischen Tee-Service oder bei einer Energiesparlampe. Hanns Zischler und andere haben die deutschen Übersetzungen eingelesen.
"Was nehmen Sie mit, wenn Sie auf Reisen gehen? Die meisten von uns würden eine lange Liste erstellen, die mit der Zahnbürste beginnt und mit Übergepäck endet. In der Menschheitsgeschichte gab es die meiste Zeit jedoch nur einen Gegenstand, den man auf Reisen wirklich brauchte: einen steinernen Faustkeil. Er war so etwas wie das Schweizermesser der Steinzeit."

Solche Museumsdirektoren sollte es öfter geben: Neil MacGregor wählte 100 Objekte des British Museum aus, vom Faustkeil bis zur Energiesparlampe, und stellte sie in jeweils viertelstündigen Radioessays dem Publikum vor. Die BBC-Serie schlug ein wie eine Bildungs-Bombe.

Anschaulichkeit ist im Museum gewährleistet, im Hör-Medium wird sie zur Herausforderung, so plastisch wie möglich zu erzählen: von uralten Münzen, Skulpturen, Ikonen, von heiligen oder profanen Gegenständen oder beidem zugleich, wie bei dem schweren Steingürtel, der zum rituellen Ballspiel der Azteken gehörte. Die Eroberer waren verblüfft, bevor sie alles niedermetzelten:

"Als die Spanier eintrafen, staunten sie vor allem über den Ball, mit dem gespielt wurde, denn er bestand aus einer Substanz, die den Europäern vollkommen neu war: aus Gummi. Der erstmalige Anblick eines springenden Balles, eines runden Objekts, das sich scheinbar der Schwerkraft entzog und in die verschiedensten Richtungen prallte, muss extrem verstörend gewesen sein."

Die Objekte werden in Material und Aussehen genau beschrieben - zusätzlich hilft das Booklet der Vorstellungskraft mit kleinen Abbildungen auf die Sprünge. Es wird die Frage beantwortet, wer das Objekt einst zu welchem Zweck benutzte und dank welchen Zufalls oder welcher archäologischen Spurensuche es wiederentdeckt wurde.

Dann stellt MacGregor den historischen Kontext her und vermisst dabei mit leichter Hand ganze Epochen, skizziert ihre Grundkonflikte. So entsteht eine moderne Weltgeschichte in hundert Geschichten, die die globalen Verflechtungen sowie den Auf- und Abstieg der Mächte im Blick hat. Etwa beim Beitrag über die alte persische Münze mit dem Bildnis Alexanders des Großen. Nach Alexanders Tod zerfiel sein Herrschaftsgebiet in die Diodochenreiche, die sich untereinander bekriegten und alle den Anspruch erhoben, die wahren Erben zu sein. Einer dieser Nachfolger und Kriegsherren war Lysimachos, der die Alexander-Münze drucken ließ. Reine Symbolpolitik:

"Wir haben es hier mit einem frühen Lehrbeispiel für einen zeitlosen politischen Trick zu tun. Man mache sich die Autorität und den Ruhm eines großen Staatsmannes der Vergangenheit zunutze, um sich selbst in der Gegenwart nach oben zu katapultieren."
Der Schau- und Hörspieler Hanns Zischler wird gern gewählt, wenn eine Rolle intellektuellen Anspruch hat. Er liest Gedanken nicht nur vom Blatt, sondern vermittelt den Eindruck, er hätte sie selbst hervorgebracht. So gibt Zischler hier – mit gewissermaßen britischer Distinktion – den Museumsdirektor, erläutert religiöse Riten, Handelsbeziehungen, ein kleines goldenes Lama der Inka, einen steinernen Riesen von der Osterinsel, aber auch die Moden und den Luxus, etwa im Beitrag über den silbernen Pfefferstreuer von Hoxne, der zu einem vor Urzeiten vergrabenen Schatz gehörte:

"Um das Jahr 400 mündeten Jahrhunderte eines beispiellosen Friedens und Prosperierens in Brittanien ins Chaos. Überall in Westeuropa zerfiel das römische Reich in eine Reihe gescheiterter Staaten. In Augenblicken wie diesen ist es heikel, wenn man reich ist. Es gab keine organisierten Truppen mehr, welche die Reichen oder ihren Besitz beschützt hätten."

Begüterte auf der Flucht konnten damals ihre Reichtümer nur vergraben und hoffen, dass sie irgendwann zurückkehren und alles wiederfinden würden. Gefunden wurde der Schatz aber erst vor einigen Jahren, als ein britischer Bauer auf dem Feld einen verlorenen Hammer suchte.

Das 20. Jahrhundert mit seinen ideologischen Kämpfen und verheerenden Kriegen wird beiläufig abgehandelt – anhand eines Tellers: Porzellan aus dem russischen Zarenreich, das nach 1918 in der Sowjetunion mit revolutionären Motiven bemalt wurde, ein kurioser historischer Zwitter:

"Dieses Umfunktionieren eines Gegenstands fasziniert den marxistischen Historiker Eric Hobsbawm: 'Am interessantesten finde ich, dass man in einem Objekt das alte und das neue Regime und den Übergang von einem zum anderen sieht. Es gibt nur wenige Objekte wie dieses, an denen der geschichtliche Wandel so gegenwärtig ist.'"

Zischlers angenehme und unangestrengte, aber auch modulationsarme, etwas gravitätisch wirkende Vortragsart entspricht nicht ganz dem Temperament des Originals - Kostproben sind zu hören auf der Website von BBC Radio 4. Die eingeschalteten Kommentare von Experten, Künstlern, Schriftstellern, Archäologen werden von Schauspielern übernommen, so dass auch hier ein Stück vom leichthändigen Wissens-Parlando verlorengeht. Aber das sind kleine Einwände gegen ein großartiges Radio- und Hörbuchprojekt, das auch in der vorliegenden Fassung ein Hörerlebnis bleibt, eine außergewöhnliche Bildungsreise durch die Jahrtausende.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Neil MacGregor: Eine Weltgeschichte in 100 Objekten
Gelesen von Hanns Zischler, Rahel Comtesse, Detlef Kügow und Nico Holonics Hörverlag 2012, 20 CDs, 1350 Minuten, 49,99 Euro
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