Warum das Warten auf die große Liebe plötzlich aufgeben?

Auf den ersten Blick erzählt Andrei Makine eine überaus einfache Geschichte. Sie spielt in den 70er Jahren in der Sowjetunion: Ein junger Mann, 26 Jahre alt, kommt – fast zufällig – aus Leningrad in ein Dorf im hohen Norden, in die Gegend von Archangelsk, um dort Studien zu betreiben über Folklore, Sitten und Gebräuche, die zu verschwinden drohen. Er lernt in diesem Dorf eine sehr attraktive Frau kennen, die gut 20 Jahre älter ist als er und die ihn immer stärker anzieht.
Sie ist Lehrerin, kümmert sich darüber hinaus besorgt um die alten Frauen der Gegend, lebt aber ansonsten allein und relativ zurückgezogen. Hier liegt der Kern ihres Wesens: Sie hat sich selbst eine Art Wartegelübde auferlegt, denn ihre große Liebe galt einem jungen Mann aus dem Dorf, der kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs eingezogen wurde und im Kampf um Berlin offenbar zu Tode kam. Seine Leiche allerdings konnte nicht identifiziert werden, er wurde als „vermisst“ gemeldet.

Damals war sie 16 Jahre alt, aber auch, nachdem 30 Jahre vergangen sind und keine letztgültige Gewissheit über seinen Tod zu erlangen war, wartet diese Frau in einem buchstäblichen Sinn noch immer auf die Rückkehr ihrer großen Liebe.

Doch es schwirren auch Gerüchte durch die Gegend, der Liebesverzicht dieser schönen Frau sei womöglich nur eine Fassade, hinter der heimliche und heftige Liebesspiele aufgeführt werden. Verführt von der reifen Schönheit, aber auch von der Intelligenz dieser Frau (die in Moskau studiert hat und erst kurz vor ihrer Promotion erkannte, dass das ihr gemäße Leben in ihrem Dorf ablaufen würde), in den Bann ihrer Rätselhaftigkeit geschlagen, verliebt sich der jugend-liche Folklorist immer mehr in jene Frau, sucht die Wahrheit ihrer Existenz und schreckt dabei nicht einmal davor zurück, sie regelrecht zu verfolgen und zu be-schatten.

Diese Wahrheit wird sich ihm schließlich enthüllen, und sie wird es auf eine mehrfach ungeahnte Weise tun.

Andrei Makine inszeniert diese Liebesgeschichte auf eine geradezu perfekte Art. Bis zum Schluss baut er kontinuierlich die Spannung auf, die sich natürlich um die Frage dreht: Werden sie oder werden sie nicht? Vieles mag auf Anhieb nahelegen, dass sie „es“ tun werden, aber raffiniert bringt der Autor die hinderlichen Elemente immer wieder ins Spiel: Da ist zum einen die logischer Weise ziemlich linkische Art des jungen Mannes, sich zu nähern.

Da ist vor allem aber die große Frage, warum eine Frau, die 30 Jahre lang auf ihre große Liebe gewartet hat, dieses Warten plötzlich aufgeben sollte? Die überraschende, dabei voll überzeugende Lösung dieser Konstellationen spart der Autor – im Stil einer sehr guten Novelle – bis zum Schluss für den Leser auf.

Aber auch von der Erzähltechnik her hat Makine eine kluge Art gefunden, die-sen – wenn man will banalen – Stoff aufzuladen. Der Ich-Erzähler dieser Ge-schichte ist seinerseits inzwischen ein reifer Mann, er erinnert sich an das ver-gangene Geschehen und nimmt für die Rekonstruktion der Ereignisse seine damaligen Aufzeichnungen zur Hand und zitiert daraus. In gewisser Weise wird also auf zwei Ebenen erzählt, in deren Zwischenraum sich eine Reflexionsebene auftut, auf der die Fragen nach unserer Wahrnehmung des Anderen verhandelt werden.


Rezensiert von Gregor Ziolkowski


Andrei Makine: Die Frau vom Weißen Meer
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2007, 190 Seiten, 18,95 Euro