Warum brüllst du denn immer so, Rolf?

Von Thomas Gross · 22.04.2005
Der Todestag des Kult-Dichters Rolf Dieter Brinkmann jährt sich zum 30. Mal. Pünktlich hierzu erscheinen zum Teil bisher unveröffentlichte Originalaufnahmen des Lyrikers. Es lohnt sich hinzuhören, denn Brinkmann war ein furioser, seiner Zeit weit vorauseilender Wortartist.
Gern wüsste man, wie er in dem Moment aussah, als er die Bühne erklomm. Ob er seinen berüchtigten Konfirmandenanzug trug, den Schlips und das weiße Hemd, dessen Manschetten stets so unversöhnlich aus den Jackenärmeln hervorschauten. Ob er gar im Trench erschien, mit dem er vor Jahren durch das verhasste Rom gegangen war, ganz eiskalter Engel aus alten Gangsterfilmen.

Man weiß es nicht, weil nur die Tonspur zum Ereignis erhalten geblieben ist. "Ladies and gentlemen, Rolf Dieter Brinkmann", sagt jemand lässig in den aufbrandenden Applaus hinein. So werden nicht Schriftsteller angekündigt, sondern Rockstars.

Vielleicht hatten die Studenten in Cambridge Wind bekommen vom wilden Mann aus Germany, der gegen "alte Dichter" und literarische Konventionen zu Felde zog. Vielleicht ist sogar das eine oder andere Gedicht auf den Lehrplan gesetzt worden, von progressiven Professoren im ansonsten der Tradition verpflichteten englischen Unistädtchen. Brinkmann jedenfalls hatte die Einladung zum Cambridge Poetry Festival gern angenommen: endlich eine Chance, aus der Versenkung aufzutauchen, in die er nach Anfangserfolgen als Lyriker, Übersetzer und Herausgeber amerikanischer Underground-Literatur geraten war, endlich eine Gelegenheit, ein bisschen Geld zu verdienen und gleichzeitig die Poeme seines kurz vor der Veröffentlichung stehenden Bandes "Westwärts 1 & 2" vor Publikum zu erproben. Einfach "wie Songs" sollten sie sein, heißt es im Vorwort. Einfach klangen sie in Wahrheit nie. Aber dass sie dem Rock 'n' Roll abgelauscht waren, lässt sich noch heute hören.

"Präsenz" nennt die Bühnensprache das Phänomen, das jede weitere Lieferung aus dem Nachlass Rolf Dieter Brinkmanns nicht wie ein Stück Literatur, sondern wie einen Comebackversuch aus der Gruft der Archive wirken lässt.

Sofort ist er wieder da, der vertraute Sound: intensiv, oft penetrant, ein wenig bellend. Er will und will nicht veralten, weil - "jetzt und jetzt und jetzt und jetzt2 - selbst dort, wo Vergangenes beschrieben wird, nur der Moment zählt. Das gilt auch und insbesondere für das Paket mit "Originaltonaufnahmen" aus der letzten Schaffensphase. 30 Jahre, nachdem er im Londoner Stadtteil Bayswater von einem Auto umgefahren wurde, singt Rockin' Rolf Dieter, Heiner Müller zufolge das einzige Genie unter den jüngeren bundesrepublikanischen Literaten, noch einmal den Blues vom Kriegskind, das im Kartoffelkeller seiner norddeutschen Heimat vor den Bomben der zukünftigen Sieger zitterte. Noch einmal beschwört er das Elend einer Generation herauf, die in ihrer Jugend das lastende Klima der Adenauer-Ära mit all ihren Verboten und Verdrängungen erlebte. Und noch einmal schlägt er sich mit der ihm eigenen Verve "westwärts": auf die Seite der Gegenwartsmächte Rock und Film.

Neu an den pünktlich vor dem 30. Todestag (23. April) erschienenen Tonaufnahmen sind nicht die Themen. Man kennt sie allesamt aus dem wüsten Textstrom, der seit Ende der 70er mal als ausufernde Lebenscollage (Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand), mal als Korrespondenzband (Briefe an Hartmut) und mal aus Mischung aus beidem (Rom, Blicke) posthum herausgegeben wurde. Neu ist die Rückkehr des Worts zum Klang. Erstmals lässt sich akustisch mitverfolgen, was diesen Arbeiten schon immer nachgesagt wurde: dass sie mehr sein wollen als buchstäbliche Niederschrift, dass sie herausdrängen aus dem Raum der Abstraktion. Nichts anderes hatte das Auditorium in Cambridge in Begeisterung versetzt: die physische Präsenz eines Autors in seinem Text. Während "The Last One", der Mitschnitt der letzten Lesung, sich allerdings noch als Live-Performance einer schriftlichen Vorlage interpretieren lässt, zeigen die fünf weiteren CDs des unter dem Titel Wörter Sex Schnitt zusammengestellten akustischen Nachlasses, wie den Gedichten Lockerungsübungen vor offenem Mikrofon vorausgingen. Eine Stimme, ein Tonband - mehr braucht es dazu nicht. Mit rudimentärsten Mitteln über ein paar Zetteln improvisiert, entsteht 1973 in einer schäbigen Kölner Wohnung etwas, das hierzulande erst in den Neunzigern zum Volkssport wurde: spoken word poetry. Aber der besonderen Art.

Wer am aufgenommenen Wort die professionelle Produktion schätzt, wer wohlklingende Sprecherstimmen hören möchte, die bei den alltäglichen Verrichtungen nicht stören, wird mit diesem Erzeugnis kaum glücklich werden.

Brinkmann ist ein entschiedener Anhänger des Nichtprofessionellen. Bandrauschen, Huster, Versprecher - alles, was bei der Aufbereitung des lautlichen Ausgangsmaterials gewöhnlich weggeschnitten oder unterdrückt wird, ist hier willkommenes Gestaltungsmittel. Statt fremdbestimmten Standards nachzukommen, geht es darum, die "ungeheure Anstrengung eines Schriftstellers, gegen die Überlieferung anzugehen", hörbar zu machen. Also werden, wie William Burroughs es gefordert hat, die eigenen Wörter zerschnitten, Leerstellen gelassen, neue Passagen eingefügt - wird auf Stichwörter hin frei assoziiert und aus dem Bauch geplaudert. Wenn die Aufnahme mitten im Satz abreißt: auch nicht schlimm. Der Bayerische Rundfunk, der das Material sichtete, hat gut daran getan, alles (von einigen juristisch notwendigen Kürzungen abgesehen) so zu belassen, wie es auf 29 Spulen festgehalten war. Ohnehin hält dieser Schriftsteller nicht viel von Redakteuren, sie sind für ihn bloß wahlweise traurige oder hinterlistige Verwalter von Aufnahmemaschinen, deren eigentliche Qualitäten als Produktionsmittel ihnen verborgen bleiben. Erst in seiner Obhut wird das Tonbandgerät zum Komplizen bei der Bezeugung dessen, was "tatsächlich geschieht".

Das kann das Geräusch kochenden Wassers sein oder das Kichern des sprechbehinderten Sohnes, die Stille im Zimmer oder das eigene Atmen. Radikal wie immer, horcht Brinkmann den Bewegungen seiner Lunge hinterher, aus denen das Sprechen aufsteigt, keucht, rülpst, flüstert und schreit. Er verwickelt seine Frau Maleen in Dialoge über Dichtung ("ist mir egal"), Sex und Schlittschuhlaufen, improvisiert schmatzend zu Jazzklängen ("Hm, Kotelett mit Nuss ist guuuut"), er führt das Medium an seine Grenzen, indem er die Lautstärkeregler bis zum Anschlag aufdreht, und zieht furchterregend den Nagel übers Mikro, was eine Art Scratch-Geräusch ergibt. "Heftiges Sprechen" nennt er diese Erkundung der Möglichkeiten von Brustkorb, Stimme und Technik.

Andere Tracks dokumentieren Gänge durch die Kölner Innenstadt, bei denen es zu aktionistischen Interviews mit Unbekannten kommt ("Wann haben Sie das letzte Mal gefickt?"), meist aber der monologische Kommentar vorherrscht, wobei die ewig gleichen Ärgernisse registriert werden: "fette, schlampige, schweinsfüßige Kölnerinnen", stinkende Pkw, ein Häufchen Hundescheiße auf dem Pflaster, das der Autor lautstark verflucht. Die Strategien, dem gedrückten Alltag durch experimentellen Umgang mit Bandmaschinen zu entkommen, sind vielfältig, doch alle Anstrengungen dienen einem einzigen Ziel: die "Atmosphäre eines lebendigen Körpers" zu vermitteln.

Es ist eine Ästhetik der physischen Verausgabung, die im akustischen Medium neu durchgespielt wird. Wenn die Kräche im Hause Brinkmann überhand nehmen, wenn der Kontostand mal wieder nichts Gutes verheißt, wenn Brinkmann des Nachts wie ein böses, krankes Kind an den Knöpfen seines Geräts herumdreht und, oft unter Zuhilfenahme von Rauschmitteln, die Grenzen des dabei möglichen Ausdrucks erreicht sind, scheint plötzlich jener psychedelische Zustand auf, den Jim Morrison in seinem Gassenhauer "Break On Through To The Other Side" besungen hat: Die Zwänge setzen aus, und die Wahrnehmung wird für einen Moment frei.

Noch einmal offenbart sich in schöner Deutlichkeit, dass Brinkmanns gesamtes Werk auf der Variation zweier Schlüsselszenen beruht. Die eine spielt in einem ländlichen Kino in dem Augenblick, in dem das Licht ausgeht und der Projektor an, die andere, hier maßgebliche, in einer Eisdiele der 50er Jahre, in die Rock-'n'-Roll-Musik hereingeweht kommt. Damals erlöste sie von den Schrecknissen einer Kindheit in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs.

Heute ist sie zumindest noch für die eine oder andere Sekundenekstase gut. Dass diese an Klangvorbildern geschulte Form der Produktion etwas Avantgardistisches hat - der akustische Nachlass dokumentiert dies noch konkreter als die Text- und Briefkonvolute. Nach allen erdenklichen Richtungen hin öffnen sich für popsozialisierte Ohren Fluchtlinien. War das da nicht eben ein ziemlich interessanter noise? Kennt man nicht vieles von späteren Low-Fi-Alben und Bootlegs? Das atemlose Sprechen greift den "Howl" der Beat-Generation auf, die Lust am Laut Momente konkreter Poesie. Zugleich nimmt die Technik, wiederkehrende Klangfragmente in den Wortstrom einzumontieren, das Sampling der elektronischen Musik vorweg, und die Neigung, das Sprachmaterial heftigst zu rhythmisieren, erinnert an HipHop. In den Momenten, in denen sich die Stimme ganz den Verlockungen der Lautmalerei hingibt und, begleitet von einer Art wiederkehrendem Schaben, einen Silben-Singsang gegen die Übermacht der "kulturellen Wörter" in Anschlag bringt, treffen sich das Älteste und das Neueste: Kinderreim und Human Beatbox. Von den poetologischen Passagen, die es auch gibt, ganz zu schweigen. Sie gehen der Spur nach, die die neuartigen Wunschmaschinen im Subjekt hinterlassen, erinnern an Abflüge vor rotierenden Plattentellern. Und an böse Abstürze in die verwaltete Welt.

Kein deutscher Schriftsteller hat seine Arbeit so konsequent darauf eingestellt, dass längst nicht mehr alle Macht in der Kultur vom geschriebenen Wort ausgeht. Die Soundmimetik, die Ersetzung von Sinn durch Sinnlichkeit, die Erforschung von Oberflächenreizen, last, but not least der Hang zur Selbststilisierung - praktisch alles, was später unter dem Signet "Popliteratur" zum saisonalen Hit wurde, ist hier bereits abgebildet. Was Brinkmanns literarischem Approach völlig fehlt, ist Heiterkeit. Der Nachlass in seiner Gesamtheit: eine humorfreie Zone. Mit deutscher Gründlichkeit wird das Geschäft der Befreiung in Angriff genommen, entsprechend unentspannt ist das Ergebnis. Zeitgenossen, die dem großen Negator im dunklen Anzug vor die Füße liefen, haben das zu spüren bekommen. In Rom, wohin ein Stipendium der Villa Massimo ihn führte, gab er auf Empfängen und Abendgesellschaften konsequent die Axt im Walde. Legendär auch der Auftritt in der Berliner Akademie der Künste, wo Brinkmann, lange vor Martin Walsers "Tod eines Kritikers", drohte, Marcel Reich-Ranicki mit einem Buch niederzumähen. Selbst Maleen, die ihrem cholerischen Lebenspartner meist mit mädchenhafter Duldsamkeit zu begegnen pflegte, fragt an einer Stelle der Tonaufnahmen: "Warum brüllst du denn immer so, Rolf?"

Gute Frage: Warum brüllt der Rolf immer so? Weil Rock-'n'-Roll-Lieder die Wunden einer verlorenen Jugend lindern, aber nicht heilen können. Weil der Versuch, die autoritären Strukturen der Nachkriegsgesellschaft mit antiautoritären Mitteln aufzubrechen, selbst etwas Autoritäres mit sich herumschleppt. Weil die deutsche Neigung, sich immerzu nur als Opfer zu sehen, nicht als Täter, noch diesen einsamen Befreiungsversuch dominiert.

Rolf Dieter Brinkmann: kein Mensch, dem man ein politisches Amt anvertrauen möchte. Ein furioser, seiner Zeit weit vorauseilender Wortartist aber, das war er. Jetzt warten wir nur noch auf die Herausgabe der experimentellen Super-8-Filme: RDB auf DVD, das müsste noch mal ein interessantes Paket ergeben.

Rolf Dieter Brinkmann: The Last One
Autorenlesungen vom Cambridge Poetry Festival 1975
Intermedium Rec. 022, 1 CD, 59 Min.
19,90 Euro


Wörter Sex Schnitt
Originaltonaufnahmen 1973
(Hg. Herbert Kapfer/Katharina Agathos)
Intermedium Rec. 023, 5 CDs mit Booklet
385 Min., 49,90 Euro
Mehr zum Thema