Warum?
Eltern kennen die Phase in der Entwicklung ihrer Kinder, wenn fast jeder Satz mit "Warum?" beginnt. Die Neugierde der Kleinen stellt das Wissen der Eltern auf eine harte Probe und bringt die Erwachsenen selbst zum Denken. In "Welche Farbe hat die Zeit?" nimmt Marco Wehr den kindlichen Wissensdurst zum Ausgangspunkt für einen anregenden philosophischen Exkurs.
Für Marco Wehr sind Kinder ein intellektuelles Abenteuer, da sie mit ihren Fragen Erwachsene zum Denken und an die Grenzen des Wissens bringen. Folglich widmet der Physiker und Philosoph das erste Kapitel seines Buches der Kunst des Fragens, die Erwachsene nicht selten verlernt haben, Kinder jedoch oft meisterhaft beherrschen: Warum heißt der Stuhl "Stuhl" und nicht "Kum"? Bin ich die Einzige, die keine Gedanken lesen kann? Welche Farbe hat die Zeit?
Die weiteren Kapitel des gut 200-seitigen Essays gehen intensiver auf folgende Fragekreise ein: Was ist im Leben – mit oder ohne Kinder – planbar, was den Mächten des Zufalls unterworfen, und wie vernünftig ist es, angesichts dessen vernünftig zu sein? Was hat kindlicher Anfängergeist mit praktischer Meisterschaft zu tun? Was kann man von Kindern lernen im Umgang mit und im Verständnis von Zeit? Und warum sind Säuglinge so unglaublich tollpatschig und lebensuntüchtig?
Neben vielen Fragen enthält das Buch zahlreiche gut verständliche Theoriestücke. Die Beschäftigung mit Chaostheorie und Quantenmechanik etwa ist Wehrs Ausführungen zufolge mehr als ein intellektuelles Glasperlenspiel. Konsequenzen aus diesen Theorien sowie praktische alltägliche Erfahrungen mit seinen Kindern, die der Autor als liebenswerte Zufallsgeneratoren erlebt, nähren den Verdacht, dass das Chaos allgegenwärtig zu sein scheint. Wie ein Putzeimer zum Schwimmbad, so Wehr, verhält sich die Vernunft zum Chaos: Man mag damit schöpfen, aber das Becken bleibt im Grunde stets gleich gefüllt.
"Planbarkeit [ist] nicht nur in der Familie, sondern auch in vielen anderen Bereichen des menschlichen Lebens eine Illusion ..., ein Narkotikum gegen die Angst vor dem Ungestalteten. ... Offensichtlich ziehen wir ... den Irrglauben, das Schicksal beeinflussen zu können, der ernüchternden Einsicht vor, in vielen Bereichen des Lebens nur Spielball des Zufalls zu sein."
Mit seinen Reflexionen und Exkursen verdeutlicht der Autor eindrucksvoll und lebensnah, wie grundsätzliches Denken in den Lebensalltag einbrechen kann: Wer hat denn Recht, was die Gestaltung des kommenden Tages anbelangt – der Wuppertaler Opa mit der Maxime "Erst denken, dann handeln" oder der Großvater in Berlin mit der Parole: "Erstens kommt det anders und zweetens als de denkst?"
Manfred Geier, dessen Gespräche mit dem achtjährigen Toni nebst Notizen über Philosophen und philosophische Themen man in "Was konnte Kant, was ich nicht kann?" nachlesen kann, und Manfred Frank, dessen Vorlesung bei der Tübinger Kinder-Uni unter dem Titel "Warum bin ich Ich?" veröffentlicht wurde, wenden sich an Leser zwischen 8 und 80 Jahren. Wehrs Ausführungen hingegen sind nur für erwachsene Leser gedacht. Sie stellen keine streng philosophische Abhandlung im engeren Sinne dar, eher Gedankenwege und Denkanleitungen, die das Leben schreibt, sprich: vorgibt, wenn man sich denn mit offenen Augen, vorurteilsfrei und staunend darauf einlässt.
"Wir müssen wie die Kinder lernen, um auf einer höheren Ebene wieder wie Kinder zu werden!"
Das klingt nicht ganz neu, ist aber eine wichtige Einsicht – zum Beispiel für den Instrumentalunterricht, in Wehrs Augen oft ein "schmerzhafter Initiationsritus". Die Grundsatzfrage lautet: Ist Üben an sich interessant oder nur Mittel zum Zweck? Im Rückgriff auf Erkenntnisse der Hirnforschung und auf Kleists Marionettentheater-Aufsatz legt Wehr dar, dass es beim Üben um das geht, was hereinkommt, nicht um das, was herauskommt. Wer mit der rechten Einstellung übt, entkommt dem vicious circle, dem Teufelskreis von Angst, Stress und Frust und erlebt den sich selbst verstärkenden Kreisprozess als virtuous circle.
Wehr, auch als Berufstänzer aktiv, legt ein in doppelten Sinne lesenswertes Buch vor: Es ist gut, ja flott geschrieben, und lässt neben verbalen Pirouetten sowie gedanklichen Sprüngen zwischen diversen Wissenschaften ein großes Maß an Liebe zur Lebensweisheit – auch Philosophie genannt – erkennen, nicht zuletzt genügend Bodenhaftung.
Rezensiert von Thomas Kroll
Marco Wehr: Welche Farbe hat die Zeit?
Eichborn Verlag, Berlin 2007
244 Seiten, 16,90 Euro
Die weiteren Kapitel des gut 200-seitigen Essays gehen intensiver auf folgende Fragekreise ein: Was ist im Leben – mit oder ohne Kinder – planbar, was den Mächten des Zufalls unterworfen, und wie vernünftig ist es, angesichts dessen vernünftig zu sein? Was hat kindlicher Anfängergeist mit praktischer Meisterschaft zu tun? Was kann man von Kindern lernen im Umgang mit und im Verständnis von Zeit? Und warum sind Säuglinge so unglaublich tollpatschig und lebensuntüchtig?
Neben vielen Fragen enthält das Buch zahlreiche gut verständliche Theoriestücke. Die Beschäftigung mit Chaostheorie und Quantenmechanik etwa ist Wehrs Ausführungen zufolge mehr als ein intellektuelles Glasperlenspiel. Konsequenzen aus diesen Theorien sowie praktische alltägliche Erfahrungen mit seinen Kindern, die der Autor als liebenswerte Zufallsgeneratoren erlebt, nähren den Verdacht, dass das Chaos allgegenwärtig zu sein scheint. Wie ein Putzeimer zum Schwimmbad, so Wehr, verhält sich die Vernunft zum Chaos: Man mag damit schöpfen, aber das Becken bleibt im Grunde stets gleich gefüllt.
"Planbarkeit [ist] nicht nur in der Familie, sondern auch in vielen anderen Bereichen des menschlichen Lebens eine Illusion ..., ein Narkotikum gegen die Angst vor dem Ungestalteten. ... Offensichtlich ziehen wir ... den Irrglauben, das Schicksal beeinflussen zu können, der ernüchternden Einsicht vor, in vielen Bereichen des Lebens nur Spielball des Zufalls zu sein."
Mit seinen Reflexionen und Exkursen verdeutlicht der Autor eindrucksvoll und lebensnah, wie grundsätzliches Denken in den Lebensalltag einbrechen kann: Wer hat denn Recht, was die Gestaltung des kommenden Tages anbelangt – der Wuppertaler Opa mit der Maxime "Erst denken, dann handeln" oder der Großvater in Berlin mit der Parole: "Erstens kommt det anders und zweetens als de denkst?"
Manfred Geier, dessen Gespräche mit dem achtjährigen Toni nebst Notizen über Philosophen und philosophische Themen man in "Was konnte Kant, was ich nicht kann?" nachlesen kann, und Manfred Frank, dessen Vorlesung bei der Tübinger Kinder-Uni unter dem Titel "Warum bin ich Ich?" veröffentlicht wurde, wenden sich an Leser zwischen 8 und 80 Jahren. Wehrs Ausführungen hingegen sind nur für erwachsene Leser gedacht. Sie stellen keine streng philosophische Abhandlung im engeren Sinne dar, eher Gedankenwege und Denkanleitungen, die das Leben schreibt, sprich: vorgibt, wenn man sich denn mit offenen Augen, vorurteilsfrei und staunend darauf einlässt.
"Wir müssen wie die Kinder lernen, um auf einer höheren Ebene wieder wie Kinder zu werden!"
Das klingt nicht ganz neu, ist aber eine wichtige Einsicht – zum Beispiel für den Instrumentalunterricht, in Wehrs Augen oft ein "schmerzhafter Initiationsritus". Die Grundsatzfrage lautet: Ist Üben an sich interessant oder nur Mittel zum Zweck? Im Rückgriff auf Erkenntnisse der Hirnforschung und auf Kleists Marionettentheater-Aufsatz legt Wehr dar, dass es beim Üben um das geht, was hereinkommt, nicht um das, was herauskommt. Wer mit der rechten Einstellung übt, entkommt dem vicious circle, dem Teufelskreis von Angst, Stress und Frust und erlebt den sich selbst verstärkenden Kreisprozess als virtuous circle.
Wehr, auch als Berufstänzer aktiv, legt ein in doppelten Sinne lesenswertes Buch vor: Es ist gut, ja flott geschrieben, und lässt neben verbalen Pirouetten sowie gedanklichen Sprüngen zwischen diversen Wissenschaften ein großes Maß an Liebe zur Lebensweisheit – auch Philosophie genannt – erkennen, nicht zuletzt genügend Bodenhaftung.
Rezensiert von Thomas Kroll
Marco Wehr: Welche Farbe hat die Zeit?
Eichborn Verlag, Berlin 2007
244 Seiten, 16,90 Euro