Warten auf die rettende Bürgschaft

Von Jochen Stöckmann |
Dem jungen US-Journalisten Varian Fry gelingt es von 1940 an, rund zweitausend Menschen aus Südfrankreich in die Freiheit zu lotsen. Viele Künstler und Intellektuelle verdanken Varian Fry und seinen Helfern ihr Leben. Mit einer großen Ausstellung in der Akademie der Künste wird nun erstmals in der deutschen Hauptstadt an einen Mann erinnert, der auch Hunderten Berlinerinnen und Berlinern letztlich das Leben rettete.
Über die mächtigen Bergketten der Pyrenäen hinweg schaut ein junger Mann in die scheinbar unerreichbare Ferne, in der Hand hält er ein Blatt Papier. Das Schwarzweißfoto zeigt Varian Fry, seit Herbst 1940 Leiter eines amerikanischen Rettungskomitees in Marseille. Und das Blatt Papier ist eine Fluchtskizze, Orientierung für Tausende von Menschen, die über Spanien und Lissabon den Fängen der Nazis entkommen konnten:

Angelika Meyer: "Für uns sind das Dokumente, Papiere, mit denen wir uns sehr intensiv auseinandersetzen. Und von daher sind diese Papiere wie so eine Fluchtskizze damals bedeutend und heute wären sie es immer noch."

Marion Neumann: "Wir sind den Weg auch beide zusammen abgelaufen in den Pyrenäen, den Fluchtweg. Die Landschaft verändert sich natürlich innerhalb von 50, 60 Jahren. Aber sie war schon sehr detailliert und sehr gut diese Fluchtskizze."

Nach intensiven Recherchen können Angelika Meyer und Marion Neumann vom "Aktiven Museum" anschaulich machen, was den Alltag von Flüchtlingen ausmachte, was ihnen Sorgen bereitete, was sie konkret bedrohte.

Angelika Meyer: "Wo ein Flüchtling wie Iwan Heilbutt keine Papiere mehr hat, ist es nicht unbedingt der Gestapomann, sondern man ist einer Bürokratie plötzlich ausgeliefert. Man braucht jemanden, der dann sagt: 'Wir besorgen jetzt das affidavit of support in den USA.' Aber sie haben ja noch gar keinen Paß, der ist auch weg. Am nächsten Tag muss dann irgendwie Geld beschafft werden, um diesem Menschen ein Hotel zu bezahlen. Dieser bürokratische Druck der ist eigentlich unglaublich."

Weil er sich als Einzelner gegen diesen Apparat stellte, ist Varian Fry - spät genug - in den Neunzigern als "unbesungener Held" und "Engel von Marseille" gefeiert worden. Es entstand ein Mythos. Fast konnte man den Eindruck haben, der engagierte Publizist und Frankreichkenner Varian Fry habe mit seinem Emergency Rescue Committee gegen die Nazis agiert wie Humphrey Bogart in "Rick's Café".

Marion Neumann: "Ich persönlich finde es nicht schlimm, wenn man über den Film Casablanca zu dieser Geschichte kommt und anfängt neugierig weiter zu fragen. Mich würde immer interessieren, wenn jemand mit diesen Bildern kommt, was in ihm danach, wenn er die Ausstellung gesehen hat, bewegt worden ist."
Da kann die Kuratorin Marion Neumann optimistisch sein: Mit der Schilderung von 60 Einzelschicksalen wird zwar nicht der "Held" Varian Fry gefeiert, aber seine Arbeit um so mehr in den Vordergrund gestellt. Wer hat je von Fritz Heine gehört, dem Sozialdemokraten, der Visa und Lebensmittel besorgte und viele Fluchtwege persönlich auskundschaftete? Und wer wußte, dass der Schriftsteller Hans Sahl und der Sozialwissenschaftler Albert Hirschman im Büro von Varian Fry die Auswanderung ihrer Schicksalsgenossen organisierten, darunter Prominente wie Marc Chagall, Heinrich Mann oder Franz Werfel?

Auf den labyrinthisch angeordneten Schautafeln, die eine beengende Atmosphäre im Wortsinne nachstellen, tauchen aber auch anonyme Flüchtlinge auf: Eine junge Frau im fröhlich gemusterten Sommerkleid, die Handtasche ängstlich an sich gepreßt. Ein Paar mit sorgsam geschnürten Paketen unterm Arm. Eine ältere Frau, die auf dem Markt einen kümmerlichen Reisigbesen erstanden hat.

Angelika Meyer: "Das sind Fotos, die Varian Fry in Marseille gemacht hat. Und da erwartet man immer, dass man dieses Elend sieht. Wir können eben zeigen, dass die Linse auch zu einem Hoffnungsträger wird, dass man fotografiert, was man schön findet. Und man versucht einfach abzuschalten, was im Rücken sitzt. Es gibt dann auch den normalen Alltag - und das konterkarieren wir immer wieder durch die Zitate."

"Wir mussten über Niemandsland abspringen" schreibt etwa Elsbeth Weichmann, Frau des späteren Hamburger Bürgermeisters Herbert Weichmann. Das Ehepaar gehörte ebenso zu den von Varian Fry und seinem Netzwerk Geretteten wie der Architekt Konrad Wachsmann, der Kunstkritiker Paul Westheim, der Sozialphilosoph Ulrich Sonnemann. Aber nicht nur Namen tauchen auf, sondern auch Orte: Neben Schlagbäumen oder Straßencafés vor allem Schiffsanleger - und immer wieder Bahnhöfe:

Marion Neumann: "Wir wollten das ein bisschen aufblitzen lassen, dass auch diese Bahnhöfe oder überhaupt Stadtarchitektur eine gewisse Geschichte erzählen kann - ohne diese Geschichte jetzt en detail zu erzählen, weil wir ja die Geschichte von Fry und seinem Rettungskomitee erzählen wollen."

Aber wie nach jeder guten Erzählung spinnt der Leser, beziehungsweise Betrachter dieser Bildgeschichte den Faden weiter. Spätestens, wenn am Potsdamer Platz im Vorüberfahren die Bushaltestelle "Varian-Fry-Straße" auftaucht, wird er sich an die Worte der Kuratorin Marion Neumann erinnern:

"Es gibt auch heute Flüchtlinge. Diese Situation, die wir hier schildern, einen historischen Ausschnitt, das gibt es leider immer noch. Und diese Parallelen werden vielleicht gezogen, sei es ins 19. Jahrhundert oder auch ins 21. Jahrhundert. Das ist auch etwas, was wir bewußt provozieren: Dass man erkennen kann, dieses ist nicht eine Geschichte, die ist abgeschlossen, die kann man in die Schublade stecken, das hat keinerlei Auswirkungen mehr auf unser heutiges Leben. Nein, es ist immer da!"


Service:
Die Ausstellung "Ohne zu zögern - Varian Fry: Berlin - Marseille - New York" ist bis zum 30. Dezember 2007 in der Akademie der Künste in Berlin zu sehen.