Warme Zeichen in einer kalten Welt

Von Gerd Brendel |
Die "Free-hugs"-Bewegung kommt nach Deutschland, war vor kurzen in der Zeitung zu lesen. Es geht um Menschen, die ein Zeichen setzen wollen in der kalten Welt, in dem sie auf Plätzen überall in der Welt jedem eine Umarmung zum Nulltarif anbieten. Die lettischen Künstlerin und Bühnenbildnerin Monika Pormale hatte die Idee schon vor drei Jahren, als sie in Riga "Hug-Ins" als lebende Bilder inszenierte.
"”Ich bin ein reines Kind vom Land, naiv, emotional und romantisch.""

Das Selbstbild vom reinen Kind aus der lettischen Provinz: Man nimmt es der 32-jährigen Monika Pormale sofort ab, trotz schwarzem Rollkragenpullover und strohblonder Kurzhaarfrisur: Der sanfte Blick und die schwere Figur passen nicht zum Intellektuellen-Kostüm. Wie ein verlässlicher Leuchtturm steht sie mitten im aufgekratzten Premierenpublikum und erklärt die riesigen Fotos mit den einander umarmenden Paaren vor typisch West-Berliner Kulisse:

"”Das Motiv stammt aus Vladimir Sorokins Buch "Eis.""

In Vladimir Sorokins postsowjetischen Bestseller von 2003, einer Mischung aus Thriller, Science-Fiction und Satire auf faschistische Übermenschen-Theorien schlagen die blondhaarigen und blauäugigen Mitglieder einer geheimnisvollen Sekte ihren Mitmenschen mit Hämmern auf die Brust, wie ein Glöckner seine Glocken anschlägt. Die meisten überleben die Prozedur nicht, die wenigen, deren Herz in Schwingungen gerät und so anfängt zu "sprechen", werden umarmt und so in die geheimnisvolle Sekte aufgenommen. Das ist der Moment, den Pormale in ihrer Bild-Installation umgesetzt hat:
Von ihren Fotomodellen verlangte Pormale nichts weiter, als die Bereitschaft einen wildfremden Menschen zu umarmen. Mitmachen konnte jeder, der die Anzeigen in Zeitungen und im Netz gelesen hatte.

"Wir hatten es über Internet gesehen, und dann haben wir gesagt können wir ausprobieren."

So wie Michael und Susanne. Der Arzt und die PR-Journalistin meldeten sich für das Foto-Shooting im Foyer des Festspiel-Theaters. Vorher kannten sie sich nur flüchtig, seit jenem Sommernachmittag sind sie ein Paar.

"Es war ein sehr heißer Tag. Wir hatten über 30 Grad. Was ich aber sehr schön finde, es ist ne Umarmung ... und man weiß natürlich nicht, ob es diese Umarmungen noch gibt, und es ist schön, dass wir für uns diese Umarmung noch wiederholen können."

Jetzt hängt das Bild überlebensgroß an der Stirnseite des Foyers. Das Foto verdoppelt den Raum wie ein Spiegel: Nur dass sich im Foyer auf dem Bild kein Premierenpublikum drängelt, sondern ein Dutzend lächelnder Paare mit geschlossenen Augen in den Armen hält.

"”Was soll man diese Installation groß erklären. Alles ist klar. Von einer fremden Person für ein paar Sekunden umarmt zu werden und diese Wärme für einen Augenblick einzufangen.""

Die Sehnsucht nach den einfachen Dingen lässt die Künstlerin Monika Pormale seit ihrer Kindheit nicht mehr los. Sie wächst auf dem Lande bei Riga auf. Ihre Eltern arbeiten in der Dorf-Kolchose.

"”Als komplettes Kind der Sowjetunion wuchs ich so glücklich auf, wie man es sich nur vorstellen kann. Ohne einen blassen Schimmer von den Dingen hinter der schönen Fassade.""

Die schöne Fassade: Das ist der organisierte Schulalltag, Nachmittage mit den Jungpionieren, Abenteuerspiele im nahen Wald. Die Dinge dahinter verschweigen die Eltern:

"”Das war normal: In jeder lettischen Familie gab es Onkel oder Tanten, die man deportiert oder nach Sibirien verbannt hatte.""

Früh erkennt die Mutter Monikas künstlerische Begabung - am Klavier. Aber statt für eine Laufbahn als Pianistin interessiert sich die Tochter für bildende Kunst, für Kunst, die einfache Gefühle vermittelt, die nicht irgendwo losgelöst von konkreten Räumen und Menschen existiert.

"Ich wollte immer Dinge in Räumen gestalten, von abstrakter Kunst halte ich nichts, deswegen fing ich an, mich für Bühnenbild zu interessieren."

Und so zieht das "Landkind" Monika Anfang der 90er Jahre nach Riga um an der Kunstakademie Bühnenbild zu studieren. Es sind stürmische Jahre:

Die "singende Revolution" bringt die morsche Sowjetfassade zum Einsturz, die sangesfreudigen Letten wählen ihre erste postsowjetische Regierung und Monika entdeckt zum ersten Mal das künstlerische Potential von Menschenansammlungen:

"”Auf einem dieser riesigen Chorfeste kam mir die Idee mit diesen Menschenmasse eine Installation zu machen: Ich wollte ein riesiges lebendes Bild schaffen, aber kein Helden-Porträt oder eine Landschaft, sondern was politisches: Eine durchgestrichene US-Flagge oder ein durchgestrichenes McDonald-Symbol.""

Aber kein Chor lässt sich zur Mitwirkung überreden. Mittlerweile hätte Pormale keine Probleme, genug Freiwillige zu finden. Sie hat Karriere gemacht. Gemeinsam mit dem Regisseur Alvis Hermanis entwickelt sie Theaterinstallationen, die in ganz Europa gastieren. Immer geht es Monika Pormale auch um die Welt vor den Theatertüren, egal ob sie Programmhefte von einer Altersheim-Bewohnerin zeichnen lässt, oder für das Projekt "riga dating agency" heiratswillige Lettinnen für Galerien im Westen fotografiert.

"”Diese Projekt ‚Riga dating agency’ nenne ich gerne: Kunst zum verlieben.""

Aber eigentlich trifft das auf alle Projekte von Monika Pormale zu: Und wie steht es um ihr eigenes Herz? Hat sie selbst eines gefunden, das ihre Sprache spricht? Zwischen Riga und Gastspielreisen scheint dafür wenig Zeit zu bleiben: Seit einem Jahr ist sie mit einem Kollegen aus Wien befreundet: Ein "Experiment" nennt Pormale die Beziehung. Oft sehen sich die beiden nicht. Aber vielleicht müssen das Menschen mit "sprechenden Herzen" auch nicht: Einmal erzählt Monika Pormale habe sie selbst an ihrer eigenen Installation teilgenommen und einen wildfremden Menschen umarmt:
Nach ein paar Sekunden habe sie nicht nur ihren eigenen Herzschlag, sondern auch den Herzschlag der anderen Person gespürt.

"”Ich gehöre zu Sarokins Blondmenschen-Sekte.""

Sagt Monika Pormale lacht und zündet sich eine Zigarette an. Dabei sind ihre blonden Haare gar nicht echt.