Waren, aber keine Wärme

14.03.2012
In zwei- bis vierseitigen, so poetischen wie kraftvoll bildhaften Kurzessays versucht die Erzählerin, den "Erhalt meiner Instinkte" zu sichern. Sie kritisiert ihre neue Heimat, die Schweiz, scharfsinnig in Grund und Boden. Dennoch erzählt Irena Brežná eine glückende Integrationsgeschichte.
Der Beamte in der "leuchtenden Fremde" nimmt dem Flüchtlingsmädchen die "Flügel und Dächlein" in ihrem Namen und dessen "runde, weibliche Endung". Die Eltern schweigen auf seine Frage, woran sie glaubten. Sie aber sagt: "An eine bessere Welt."

Leider findet sich das Mädchen in Irena Brežnás "Die undankbare Fremde" in einer "vorrevolutionären Vergangenheit" wieder. Die Slogans an den Wänden rufen nicht zur Veränderung, sondern zum Kauf einer Matratze auf. Sie versprechen Fürsorge und verschweigen, dass für sie bezahlt werden muss. Menschenmassen fehlen auf den Straßen, auch die Frauen. Es gibt in der Fremde, die als die Schweiz erkennbar ist, viele Waren, aber keine Gemeinschaft, keine Wärme und Nähe und keinen gemeinsamen Feind Obrigkeit.

Die Schweizer sind tatendurstig, sie träumen nicht und werden durch den Zufall verunsichert. Geselligkeit pflegen sie als nahtlose Fortsetzung der Arbeit. Privat wie der Besitz ist auch der Körper: Niemand lässt sich gern beschenken oder nimmt andere in den Arm. Ein neuer unsichtbarer eiserner Vorhang ist aufgespannt zwischen dem neuen Land und der Fremden.

In vielen zwei- bis vierseitigen, so poetischen wie kraftvoll bildhaften Kurzessays versucht die Erzählerin, den "Erhalt meiner Instinkte" zu sichern. Sie kritisiert das neue Land scharfsinnig in Grund und Boden. Dazwischen stehen, von fern an Michael Schischkins Roman "Venushaar" erinnernd, ebenso kurze, kursiv gesetzte Szenen, in denen eine Dolmetscherin, offenbar das einstige Flüchtlingskind, zwischen Emigranten und Behörden vermittelt. Den ausländischen Dieben, Betrügern, Selbstmördern, Depressiven, Invaliden und Krebskranken ist aus unterschiedlichsten Gründen nicht geglückt, was der Heranwachsenden am Ende gelingt: eine neue Identität auszubilden und in der Schweiz anzukommen.

"Die undankbare Fremde" ist wie Melinda Nadj Abonjis Roman "Tauben fliegen auf" eine glückende Integrationsgeschichte. Irena Brežná hat keinen Roman verfasst, auch wenn der Verlag das behauptet. Der Wechsel von essayistischen und erzählenden Passagen, von damals und heute, von unnachgiebigem Beharren auf der Wahrheit kindlicher Erfahrung im Sozialismus sowie zwischen grausamen Lebensgeschichten und dem kalkulierten Behördenzugriff kontrastiert schroff verschiedene Fremdheiten. Dieses Hin- und Herspringen löst die anfängliche absolute Distanz des Flüchtlingskindes auf, und am Ende steht die neue Patchwork-Identität als "Emigrazia".

Viele der Kurzessays sind erhellend, auch wenn Brežná manchmal zu selbstverliebt zwei Sphären miteinander kurzschließt und vom Speisen in Restaurants zum "knusprigen Spiel der Demokratie" gelangt. Problematisch ist die Erzählperspektive: Die Ich-Erzählerin ist dem Mädchen und der Heranwachsenden intellektuell und sprachlich weit überlegen, deren verzweifeltes, aber alsbald nur noch selbstgerecht wirkendes Festhalten an den sozialistischen "Instinkten" sie rechtfertigt.

Schade, dass Brežná, 1950 in der Tschechoslowakei geboren und 1968 emigriert, meinte, von einer Entwicklung erzählen zu müssen. Die vielfach ausgezeichnete Reporterin und Verfasserin autobiographischer Romane hätte nur ihren Fähigkeiten zur scharfsinnigen Poetisierung von Alltagssituationen vertrauen sollen.

Besprochen von Jörg Plath

Irena Brežná: Die undankbare Fremde
Galiani, Berlin 2012
141 Seiten, 16,99 Euro