War es eine Revolution?

Von Bernd Wagner · 30.11.2010
Der Fall der Mauer ging als "friedliche Revolution" in die Geschichte ein. Die Menschen wollten ihre Freiheit in Form von Institutionen und einer Verfassung sichern. 20 Jahre danach stellt sich die Frage: Ist die Bezeichnung "Revolution" tatsächlich berechtigt?
Als sich im Dezember 1989 Ceaucescu vor seinem zur Kundgebung versammelten Staatsvolk im Hubschrauber retten musste und wenig später Aufständische das Bukarester Fernsehstudio besetzten, empfanden das die Millionen Zuschauer als einen Höhepunkt der Revolution, die die kommunistischen Regimes in Mittel- und Osteuropa hinweggefegt hatten.

Mazowiecki bei der Vereidigung zum Premierminister vor dem Sejm, der Tanz der Berliner auf der geöffneten Mauer, der Wenzelsplatz in den Händen der Prager - all das waren augenfällige Symbole für Ereignisse, die wir als "friedliche" oder "samtene", in jedem Fall aber als Revolution bezeichnen. Der inzwischen mehr als 20-jährige Abstand auf das Geschehen erlaubt uns, die Frage nach der Berechtigung dieser Bezeichnung neu zu stellen.

Am Anfang der Moderne standen zwei Revolutionen, von denen die amerikanische fast vergessen ist und die französische von 1789 unser Bild von einer Revolution bis heute bestimmt. All ihre Charakteristika schienen auch für das sozialistische Lager zweihundert Jahre später zuzutreffen. Eine Staatsgewalt, die jede Autorität verloren hatte; verelendete oder zumindest ob ihrer Ohnmacht verzweifelte Massen, die die Gefolgschaft verweigerten und die herrschende Macht zu ständig neuen Zugeständnissen zwangen; die Selbstorganisation der bisher Beherrschten in neuen Parteien, Bürgerforen und Gesellschaften, die später, in der Regel durch freie Wahlen, selbst die Regierungsgewalt übernahmen.

An diesem Punkt aber hörten die Gemeinsamkeiten auf. Während in Frankreich eine radikalere Fraktion nach der anderen die Macht übernahm und die Revolution schließlich an Terror und napoleonischer Diktatur erstickte, schien die osteuropäische den Weg der amerikanischen zu gehen. In ihr hatte von Beginn an nicht der Akt der "Befreiung" im Vordergrund gestanden, sondern die Sicherung der Freiheit in Form von Institutionen und einer entsprechenden Verfassung.

Ist dieser Weg erfolgreich zu Ende gegangen worden? Von Deutschland wissen wir, dass der Diskussion um eine neue Verfassung schnell ein Ende durch Beitrittsverhandlungen und die Übernahme des Grundgesetzes im Rahmen der Wiedervereinigung bereitet wurde. In seinen östlichen Nachbarstaaten war die Situation nur insofern anders als das Muster für eine rechtsstaatliche Neuorganisation nicht im eigenen Lande bereitlag, sondern durch Rückgriffe auf die Vergangenheit und personelle und ideelle Hilfe von außen beschafft werden musste.

Der Geist des Neubeginns aber, von der jede wirkliche Revolution getragen werden muss, war damit bald verschüttet. Die alten Kader, die bereits als Mitarbeiter der Geheimdienste die oppositionellen Parteien unterwanderten, haben sich oder ihre Nachfolger an den Spitzen der neuen Staatswesen etabliert. Ob ihre Parteien sich nun sozialdemokratisch oder sozialistisch nennen, sie wechseln sich im Regierungsgeschäft regelmäßig mit neoliberal oder nationalkonservativ gesinnten Parteien ab, die von dem emanzipatorischen Geist der achtziger Jahre ebenso wenig wie ihre ehemaligen Gegner bewahrt haben.

Wie im 19. und Anfang des 20. Jahrhundert hat die letzte europäische Revolution auf den Trümmern eines Imperiums Nationalstaaten gegründet oder restauriert, die allerdings bald Teil eines übergreifenden - recht anonymen - Gemeinwesens, der Europäischen Union geworden sind. Die immer geringer werdende Wahlbeteiligung zeigt, wie wenig die Bevölkerung mit einer Demokratie anzufangen weiß, die so repräsentativ geworden ist, dass sie fast nur noch in den Medien stattfindet. Arbeitslosigkeit, Korruption und ein über die Ideale der Revolution triumphierender Materialismus treiben große Teile der Jugend über die Grenzen, weil sie im eigenen Lande keine Zukunft mehr sieht. Eine Revolution aber, die keine Zukunft begründet, muss zumindest als unvollendet gelten.

Bernd Wagner, Schriftsteller, 1948 im sächsischen Wurzen geboren, war Lehrer in der DDR und bekam durch seine schriftstellerische Arbeit Kontakt zur Literaturszene in Ost-Berlin. 1976 erschien sein erster Band mit Erzählungen, wenig später schied er aus dem Lehrerberuf. Von Wagner, der sich dem Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns anschloss, erschienen neben einem Gedichtband mehrere Prosabände und Kinderbücher. Als die Veröffentlichung kritischer Texte in der DDR immer schwieriger wurde, gründete Wagner gemeinsam mit anderen die Zeitschrift "Mikado". Wegen zunehmender Repression der Staatsorgane siedelte er 1985 nach West-Berlin über. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen "Die Wut im Koffer. Kalamazonische Reden 1-11" (1993) sowie die Romane "Paradies" (1997), "Club Oblomow" (1999) und "Wie ich nach Chihuahua kam". Zuletzt erschien "Berlin für Arme. Ein Stadtführer für Lebenskünstler".