Wanderung durch die Zeit

Von Jochen Meißner · 31.05.2006
Die Künstlerin und Musikerin Michaela Melián hat den 55. Hörspielpreis der Kriegsblinden erhalten. Sie wurde in Berlin für das Hörspiel "Föhrenwald" geehrt. Die Jury würdigte damit die künstlerische Darstellung der Geschichte des gleichnamigen NS-Zwangsarbeiterlagers nahe München sowie eine sorgfältige Vorrecherche. Melián erzählt die Geschichte der Siedlung nicht linear, sondern verschränkt die Perspektiven und Zeitebenen.
"Danziger Freiheit - Independence Place - Kolpingplatz. Elsässer Str. - Illinoisstr. - Andreasstr., Adolf-Hitler-Platz - Roosevelt-Square - Seminarplatz."

Es ist keine Wanderung durch den Raum, sondern eine durch die Zeit, die Michaela Melián in ihrem ausgezeichneten Debüt-Hörspiel "Föhrenwald" unternimmt. "Föhrenwald" das ist, besser das war, der Name einer Siedlung in den Isarauen bei München.

"Irgendwann 1938 wird den Grundseigentümern im Rathaus mitgeteilt, dass ihre Grundstück benötigt würden, dass sie ihre Grundstücke nicht mehr betreten dürften. Ein hoher Zaun wird herumgezogen und 1940 ist dann da das Lager Föhrenwald. Wohnbaracken aus Stein berechnet für 4500 ledige Arbeitskräfte."

"Der Lageplan zeigt einen gemischten Wirtschaftbetrieb, da hier mehrere Tausend männliche und weibliche Gefolgschaftsmitglieder unterzubringen sind. Durch eine Achsenstraße und niedere Holzzäune geteilt ist eine geschlechtermäßige Trennung der Lagerinsassen erzielt. Das Lager ist in allen seinen Anlagen eingerichtet im Betrieb und zeigt das Wohnen des deutschen Arbeiters im Großdeutschen Reich."

Von den Nazis ursprünglich als Arbeitersiedlung für eine nahe gelegene Munitionsfabrik geplant, wurde sie schnell zum Stacheldraht-umzäunten Lager für Zwangsarbeiter.

Der Stacheldraht blieb auch nach 1945, als die Amerikaner Föhrenwald als Auffanglager für so genannte Displaced Persons, zumeist Juden, nutzten. Erst 1955 wurde das Lager aufgelöst und die Häuser von Spätaussiedlern bezogen. Seit 1957 ist selbst der Name getilgt. Die Siedlung heißt nun Waldram.

"Ich erinnere mich an Föhrenwald in schwarz-weiß, es war ja alles sandig nur Kies und Steine, keine Grün. - Die Menschen im Lager hatten Zeit. Jeder im Lager kannte jeden, und es wurde beobachtet, wer durch das Tor hinausging oder hereinkam. - Die Leute aus Föhrenwald durften das Lager schon verlassen, das war unangenehm, weil man hat sie so angeschaut. Das sind die vom KZ. Immer ist man der Fremde geblieben. - Föhrenwald war für uns eine Insel, es war nicht Deutschland."

Michaela Melián, Jahrgang 1956, bildende Künstlerin und Musikerin in der Münchner Band F.S.K. erzählt die Geschichte der Siedlung nicht linear, sondern verschränkt die Perspektiven und Zeitebenen. Wie eine Archäologin legt die Autorin die Schichten frei, aus denen Geschichte besteht. Dennoch ist "Föhrenwald", eine Produktion der Abteilung Hörspiel und Medienkunst des Bayerischen Rundfunks, kein Feature, sondern der akustische Teil einer mobilen Installation, bei der sich Ton- und Bildspur einer rotierenden Diaprojektion überlagern.

Michaela Melián: "Die konzeptionelle Ausgangsidee für 'Föhrenwald' war, eine immaterielle Skulptur zu erstellen, die nur aus Licht und Ton quasi flüchtig entsteht und genau wie die erzählte Geschichte für einen gewissen Zeitraum einen bestimmten Raum besetzt. Für diese Grundkonzeption hat sich die Zusammenarbeit mit dem Radio als öffentliches Medium und Raum geradezu angeboten."

Anna Dünnebier: "Der hörbare Teil einer multimedialen Installation in einem begehbaren Raum, die aus Zeichnungen besteht, welche als Dias projiziert werden aus Stimmen und Musik. Eine Installation, die man begehen und sehen muss preiswürdig für Blinde? Ja schon, denn das Hörspiel allein ist so stark, dass es ohne die Bilder in der Lage ist sichtbar zu machen. Aus Sprache und Tönen entstehen Bilder im Kopf."

Das sah nicht nur Anna Dünnebier, die Juryvorsitzendes des Hörspielpreises der Kriegsblinden, so. Bei den ARD-Hörspieltagen im letzten Jahr bekam das Stück den Publikumspreis, gegen scheinbar leichter konsumierbare Hörkunst.

"Föhrenwald" war nicht das einzige Stück, das die Jury, die zur einen Hälfte aus Kriegsblinden und zur anderen aus Fachkritikern besteht, in die engere Wahl zog - nicht einmal das einzige Stück aus der bildenden Kunst. Das Hörspiel "Sowieso der Apparat erwürgt dem Zeit oder Katastrophale Gespräche mit der Amme" basiert auf einer Maschineninstallation des Berliner Künstlers Peter Dittmer. Diese so genannte "Amme" hat im schriftlichen Dialog mit den Ausstellungsbesuchern eine eigene Sprache entwickelt, die sich wenig um Grammatik schert. Damit war das Stück auch ein Kandidat für einen Preis, den Michaela Melián zutreffend so charakterisiert:

"Dieser Preis steht für mich wie kaum ein anderer symbolisch für einen klassischen Kulturbegriff der Bundesrepublik Deutschland, für Aufklärung und Avantgarde. Vielen Dank."

Der Bund der Kriegsblinden will den Preis, trotz sinkender Mitgliederzahlen - der Verband besteht noch aus circa 1100 Kriegsblinden und 1600 so genannten Zivilblinden - so lange es geht fortführen. BDK-Vorsitzende Dieter Renelt:
"Der Namen gebende Träger des Hörspielpreises der Kriegsblinde, der Bund der Kriegsblinden Deutschlands, hat gestern hier in Berlin sein 90-jähriges Bestehen gefeiert. 55 Jahre lang, also fast zwei Drittel dieser Zeit, hat der Hörspielpreis in unserem Verbandsleben eine herausragende Rolle gespielt. Das soll auch so bleiben."

Garant dafür ist die Filmstiftung Nordrhein-Westfalen, die seit 12 Jahren den Hörspielpreis der Kriegsblinden maßgeblich trägt. Und der wird trotz aller Umbenennungsdiskussionen wahrscheinlich auch in Zukunft so heißen, sagt der Geschäftsführer der Filmstiftung NRW Michael Schmidt-Ospach, weil sich der Name im Laufe der Geschichte zu einem eigenen Label entwickelt habe. Aber, so droht Jürgen Thormann in der Rolle der Amme:

"Einen kaputten Debakel ist natürlich immer möglich."