Wanderer zwischen Ost und West

Moderation: Vladimir Balzer |
Der Schriftsteller Landolf Scherzer hat seine Wanderung entlang der alten innerdeutschen Grenze zwischen Thüringen und Bayern und Hessen in seinem Buch "Der Grenzgänger" festgehalten. Sein Erlebnis am Tag der Deutschen Einheit: Bei seiner Lesung in Thüringen brachten Bayern Soljanka zum Kosten mit.
Balzer: 15 Jahre sind es nun, das ist der Moment, wo die Kindheit zu Ende geht. 15 Jahre deutsche Einheit - runde Geburtstage sind ja dazu da, Bilanzen zu ziehen, auch wenn man mit 15 noch relativ jung ist. Gestern wurde jedenfalls gefeiert - der Tag der Deutschen Einheit, wenn auch jeder auf seine Weise: Freunde besuchen, ins Kino gehen oder bei trübem Wetter einfach zu Hause bleiben. Bevor heute Morgen wieder der ganz normale Alltag beginnt, wollen wir jetzt mit einem reden, der sich viel Arbeit gemacht hat im Vorfeld des gestrigen Einheitstages. Richtig anstrengend war das, was der Schriftsteller Landolf Scherzer auf sich genommen hat. Er ist 440 Kilometer gelaufen entlang der alten innerdeutschen Grenze zwischen Thüringen, Bayern und Hessen, 15 Etappen, Dutzende Menschen auf beiden Seiten hat er getroffen und aufgeschrieben hat er seine Reise in dem jetzt erschienenen Buch "Der Grenzgänger". Zuvor ist Landolf Scherzer bekannt geworden mit literarischen Reportagen, festgehalten in Büchern wie "Der Zweite" und "Der Letzte". Guten Morgen, Landolf Scherzer!

Scherzer: Guten Morgen!

Balzer: Herr Scherzer, wie haben Sie denn den Tag der Deutschen Einheit verbracht?

Scherzer: Na ja, Sie haben es schon angedeutet. Wir haben ja gestern die deutsche Einheit gefeiert, und es ist immer so ein Unterschied, ob man die deutsche Einheit feiert oder ob man die deutsche Einheit lebt. Nun gehen wir wieder zum Deutsche-Einheit-leben über. Ich habe also versucht, gestern beides zu machen, gefeiert und gelebt, das heißt, ich hatte zwei Lesungen aus diesem neuen Buch, Burglesung einmal auf der Feste Heldburg in Thüringen und dann bei Pößneck hier auf der Burg Ranis, aber das Schöne daran war, dass auf dieser Feste Heldburg, das wurde organisiert von einer Buchhändlerin aus Coburg, also aus Bayern. Die Bayern haben sich aber gleich beschwert, wir sind nicht Bayern, sondern wir sind Franken. Die hat das also organisiert, und die sind dann rübergekommen nach Thüringen mit dem Shuttlebus, die Westdeutschen, und haben die Buchlesung auf der Feste Heldburg gemacht.

Balzer: Also die Westdeutschen wurden rübergekarrt in den Osten?

Scherzer: Na ja, rübergekarrt, das ist schon wieder so ein Slogan. Sie sind rübergefahren mit einem Bus und sind dann auch wieder, nachdem sie dann nach der Lesung die Feste Heldburg angeschaut hatten, wieder zurückgefahren. Aber das Schöne, ich weiß ja nicht, was Sie mich noch fragen wollen, aber wenn ich noch sagen darf, das Schöne daran war, wie gesagt, das hat eine westdeutsche Buchhändlerin organisiert, hat auch die Bücher mitgebracht und so in den Osten - und das war das Bedeutende - sie hat, das ist so'n bisschen deutsche Einheit, ihre beste Freundin in Coburg besitzt ein Kochbuch aus der DDR "Bei Freunden zu Gast", wo also auch sowjetische Rezepte drin seien, und sie hat für diesen Tag mitgebracht eine Soljanka. Also die Bayern haben eine Soljanka gekocht und haben sie mit in den Osten gebracht und haben den ostdeutschen und westdeutschen Zuhörern anschließend eine Soljanka kredenzt. Das war für mich deutsche Einheit.

Balzer: Haben sie Sie mit dieser Soljanka beeindruckt?

Scherzer: Ja, natürlich. Sie war auch ziemlich gut. Das war schon etwas, denke ich mir, wenn die Bayern mit einer Soljanka aus Bayern nach Thüringen rüberkommen.

Balzer: Das heißt, man hat gedacht, dass man in Ostdeutschland vor allem noch Soljanka isst?

Scherzer: Ja, natürlich.

Balzer: Sie sind ja im Grunde, wenn man so will, eine fiktive Grenze entlanggelaufen zwischen Ost und West, in Thüringen an Bayern und an Hessen vorbei. Formal gibt es sie ja längst nicht mehr, aber ist sie vielleicht dann doch viel realer, als wir glauben wollen?

Scherzer: Na ja, es wächst zu. Man kann also den Kolonnenweg, die einstige "Autobahn der Grenzer" kaum noch erkennen. Teilweise sind die Gitterplatten, auf denen die Grenzer entlangfuhren, auch schon weggeräumt, weil DDR-Bürger kurz nach der Wende sie brauchten, um ihre Gartenwege zu befestigen. Also die Natur hat das alles wieder geheilt, aber ansonsten ist die Grenze natürlich in Auffassungen rechts und links, in Vorurteilen, in vielen Klischees ist sie noch da, und je näher manchmal die Menschen sind, näher zusammenleben, umso entfernter sind sie, hatte ich den Eindruck.

Balzer: Also umso näher sie zusammen sind, umso entfernter sind sie?

Scherzer: Ja, ich kann es an einem Beispiel machen: Neustadt in Bayern und Sonneberg in Thüringen. Beide – sieben Kilometer sind die Rathäuser entfernt, und es gab da nach der Wende Bestrebungen, ein gemeinsames großes, neues Schwimmbad. Es hat jeder seins hingeklotzt, es hat jeder sein Gewerbegebiet, die stoßen aneinander an der Grenze, die haben kaum noch Platz, aber jeder baut seins. Also es war eigentlich zur Mauereröffnung 15 Jahre, also im vergangenen Jahr, war es so weit, dass die Politiker aus Neustadt in Bayern sich weigerten, an der gemeinsamen Feier teilzunehmen in Sonneberg, was jahrelang war. Also so weit ist man da aus ökonomischen Gründen auseinander gerückt.

Balzer: Wie ist es zu erklären? Sind es noch alte Vorurteile oder einfach neue Konkurrenz?

Scherzer: Das ist natürlich auch historisch belegt. Sonneberg war ständig die berühmte Spielzeugstadt, wo die Verleger saßen, die Fabrikanten saßen. In Neustadt in Bayern waren die Heimarbeiter, die also mit der Kiepe dann die Zulieferer waren für Sonneberg, und nach dem Krieg, nach der Mauer, nach der Abtrennung war natürlich Neustadt dann die Quaste im bayerischen ... (Ortsname schwer verständlich - die Redaktion) und wurde gefördert, und nach der Wende war dieses dann wieder da, dieses bange, in die Bedeutungslosigkeit zurückzufallen. Es gibt also ökonomische Probleme. In beiden Orten sind die Arbeitslosigkeiten in Zwischenzeit gleich hoch, so dass also soziale Probleme entstanden sind, und mit den sozialen Problemen braucht man auch so etwas wie einen Schuldigen, der dafür schuldig ist, dass man eigentlich nicht so gut lebt, wie man leben möchte.

Balzer: Das heißt, man hat eigentlich ähnliche Probleme auf beiden Seiten?

Scherzer: Natürlich, man hat ähnliche Probleme, aber man macht auch dafür Schuldige, ja, natürlich.

Balzer: Und die werden jeweils auf der anderen Seite gesucht?

Scherzer: Ja, und da ist es leider noch so, dass in Neustadt sehr, sehr viele Türken leben, so dass dieses Ausländerproblem von den Ostdeutschen nach dort transportiert wird und sagt, mit diesem Türkenstadt, mit diesem Neustadt wollen wir nichts zu tun haben, das sind die eigentlichen, und die Türken sagen, die Ostdeutschen kommen und nehmen uns die Arbeit weg hier. Also da gibt es ein soziales Problem, was dann zu diesem Ost-West-Konflikt führt, der eigentlich kein Ost-West-Konflikt mehr ist. Es wäre auch ein sozialer Konflikt zwischen zwei benachbarten Städten.

Balzer: Andrerseits sind ja viele Ostdeutsche nach der Wende in den Westen gegangen, auch in die Grenzregionen, und haben dort die Wirtschaft auch florieren lassen.

Scherzer: Ja, aber die ersten Grenzwanderer, die ich traf in der Nähe von Gräfenthal, waren Radfahrer aus Ludwigstadt im Bayrischen, und ich fragte, wie geht es ihnen 15 Jahre später? Dann sagten sie, uns geht es beschissen, es geht schlechter als denen im Osten, bei uns ist die Grenzlandförderung weggefallen im Westen, bei uns in Bayern, das heißt, die Betriebe in Ludwigstadt haben dichtgemacht, sind fünf Kilometer rübergegangen nach Spechtsbrunn im Thüringischen und haben mit der Ostförderung die Betriebe dort wieder neu aufgebaut.

Balzer: Das heißt, gejammert wird eigentlich auf beiden Seiten, oder?

Scherzer: Ich weiß nicht, ob das ein Jammern ist. Es ist einfach ein Artikulieren über Zustände.

Balzer: Das heißt, all das, was ja Politiker gerne in Sonntagsreden beschwören, also all die emotionalen und ideellen Werte der deutschen Einheit, die spielen bei solchen ganz praktischen Problemen, wirtschaftlichen Problemen, einfach keine Rolle mehr?

Scherzer: Ich denke, dass dieses Ökonomische und die sozialen Probleme, dass sie im Moment den Vorrang haben und alle anderen Klischees - natürlich man findet noch Antikommunismus, schlimmste Vorstellungen, was da mal im Leben in der DDR gewesen ist, andrerseits findet man noch diese angelernten Dinge über die Scheußlichkeiten des Kapitalismus, die es da teilweise auch noch gibt -, also diese Klischees sind auch schon noch da, diese ideologischen Klischees, aber die Konflikte, wie sie heute entstehen, kommen aus den sozialen Spannungen, also zumindest das, was ich an der Grenze gefunden habe.

Balzer: Das klingt eigentlich nach einem sehr negativen Bild, was Sie da gewonnen haben in Ihrer Wanderung.

Scherzer: Ich meine, es ist kein ganzes Bild. Es ist ein Bild, man könnte fast sagen, Impressionismus, sehr viele Tupfer, sehr viele Farbtupfer, und ich wehre mich auch gegen diese Frage, da ein Fazit ziehen zu müssen. Das wollte ich Ihnen sagen am Anfang, gerade mit diesem es wurde zwar die Einheit gefeiert, aber in meinem Bereich, wo also 40 Westdeutsche zu einer Lesung nach Thüringen rüberfahren, um sich dort umzuschauen, das sind Dinge, wo das eine Gemeinsamkeit inzwischen gibt und wo es auch eine Normalität gibt. Es gibt Schulklassen aus Thüringen, die im Schwimmbad in Mellrichstadt in Bayern ihren Schwimmunterricht machen. Es gibt gemeinsame Radwege, es gibt einen gemeinsamen Winterdienst zwischen Dörfern aus Osten und Westen, ganz abgesehen von den Verwandten, die nach 40 Jahren wieder zusammengekommen sind und jetzt endlich wieder ihren Geburtstag zusammen feiern können. Also ich denke schon, da gibt es eine ganze Menge Gemeinsamkeiten, aber Sie brauchen doch nur in diese Gesellschaft zu schauen, was es da an Unterschieden in den eigenen Bundesländern gibt, an Differenzen in der Zwischenzeit, und all diese Differenzen, die sich da eben abspielen oder aufzeigen, die sind, sobald Sie sich rechts und links der Grenze befinden, automatisch Grenzkonflikte oder Ost-West-Konflikte und keine sozialen Probleme mehr.

Balzer: 440 Kilometer sind Sie gelaufen - ich habe es gesagt - in Thüringen entlang der Grenze zu Bayern und zu Hessen. Wussten Sie eigentlich immer, wo Sie waren?

Scherzer: Nee. Erstens, wie gesagt, ist der Kolonnenweg sehr oft schon weg, und dann macht die Grenzen natürlich Ausbuchtungen, Kurven, so dass man sie kaum noch verfolgen kann. Die letzten 40 Kilometer ist Günter Wallraff mitgelaufen, wir sind also zu zweit und haben das aus der Ost- und Westbrille betrachtet, diese Dinge. Wir haben uns da oft verlaufen, und dann gab es auch kuriose Dinge. Wir sind in ein Dorf gekommen, und Wallraff und ich haben gewettet: Ist das ein Ostdorf oder ein Westdorf an Details, also wenn da eine schöne Natursteinplatte unter der Bank drunter war, eine teure, sagte Wallraff natürlich "West", und wenn es dann irgendwo ein zerfallenes Gebäude am Dorfeingang gab - ich habe immer links am ersten Haus geklingelt, völlig unvorbereitet - verfallenes Gebäude, sagte Günter "Ost". So haben wir oft gewettet, und auch da, wo vorne links ein Gebäude zerfallen war, das war dann auch schon manchmal Westen. Also so groß sind die Unterschiede nun nicht mehr, dass man dann einfach sofort vom Anblick her erkennen kann, in welchem Dorf man sich befindet.

Balzer: Abschließend noch ein kurzes Wort, was hat Ihnen eigentlich Hoffnung gemacht bei Ihrer Wanderung?

Scherzer: Hoffnung hat mir die Ehrlichkeit der Leute gemacht rechts und links der Grenze, dass sie im Gegensatz zu Politikern Klartext geredet haben, also die haben mir nicht die Hucke voll gelogen, sondern die haben ihre Befindlichkeit erzählt, und ich glaube, so eine Bestandsaufnahme, wenn Leute ehrlich darüber reden, wie sie denken, wie sie fühlen, das ist das Erste, um Dinge verändern zu können. Das hat mir Hoffnungen gemacht.

Balzer: Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!