Wanderbühne in Wien

Von Stefan May |
Seit mehr als einem halben Jahrhundert existiert in Wien eine Besonderheit des Theaterlebens: Das Volkstheater in den Bezirken, das sich als Gegenstück zum Burgtheater versteht. Seit 1954 tingelt das Ensemble durch Wien und spielt an ganz verschiedenen Orten.
Der Festsaal im Obergeschoss des Christian Broda-Bildungsheims in Wien-Penzing: Vergilbte Wände, in die Jahre gekommener Stuck, an der Hinterwand ein gemaltes Motiv der Arbeiterbewegung. Es ist kurz vor 18 Uhr, Leitern stehen umher, die Dekoration auf der Bühne, eines in den Zuschauerraum ragenden Guckkastens, ist fast fertig. Vier Männer hängen Türflügel ein, bohren Schrauben fest. Für Lichtmeister Bernhard Fürnkranz ein idealer Job:

„Es ist einfach eine Herausforderung, weil jede Bühne anders ist, und jedes Bühnenbild natürlich nicht dort so aufgebaut werden kann wie es original ist, und das macht eigentlich den Reiz aus, auf Tournee zu gehen.“

19 Uhr, in der benachbarten Kirche wird der Abend eingeläutet. Im Foyer liegen in der Vitrine eines Wirtshaustresens belegte Brote, darüber stehen Doppelliterflaschen mit Rot- und Weißwein. Seit zehn Jahren betreut Franz Kopecek die Gastronomie in diesem SPÖ-Lokal.

„Zu einem Theater gehört ein bisschen auch ein Buffet dazu. Die Gattin macht ein paar Brötchen und Schmalzbrot und Aufstrichbrot und Schinkenbrot. Und ich kaufe halt den Wein im Supermarkt und verkaufe ihn da dann.“

Inzwischen ist Doris Weiner, die Tourneeleiterin, eingetroffen. Sie breitet eine rote Samtdecke über das Garderobenpult, klappt Informationstafeln auf. Seit sechs Jahren macht sie diesen Job, fährt jeden Tag zu einer anderen Spielstätte, geht auf Tuchfühlung zu den 7000 Abonnenten.

Von Klassikeraufführungen hat sich das Repertoire gewandelt zu einem Spielplan, den Weiner als „Unterhaltung mit Haltung“ bezeichnet. In der kommenden Saison stehen Ben Johnsons „Volpone“, Ibsens „Nora“, die „Kaktusblüte“ und Sean O’Caseys „Das Ende vom Anfang“ auf dem Programm. Heute Abend werden die „Memoiren der Sarah Bernhardt“ von John Murell mit zwei Publikumslieblingen des Hauses gegeben: Erni Mangold und Erich Schleyer. Eines ist für das Publikum laut Doris Weiner stets gleich geblieben:

„Nicht wir müssen zu den Schauspielern, sondern die Schauspieler kommen zu uns. Das ist eine ungeheure Freude für die Leut’. Also: Mangold kommt nach Penzing zu mir. Und dann ist sie da vorne im Foyer, und dann kann man „Guten Abend, Frau Mangold“ sagen. Das ist ja in einem großen Theater nicht möglich.“

Aber auch den Schauspielern macht es laut Weiner Spaß, hin und wieder auf dieser Wanderbühne mitmachen zu können:

„Es ist ganz was anderes als im großen Haus. Es ist mühsamer, aber nun ist ja der Schauspieler eigentlich ein Thespiskarrenfahrer im Grunde seines Herzens. Und das Umstellen auf ganz verschiedene Spielstätten und auch jeweils ein anderes Publikum, das macht ja Spaß. Auch das aus dem desillusionierenden Ambiente Theaterillusion schaffen – was Schöneres gibt’s ja gar nicht.“

An rund zwei Dutzend verschiedenen Orten in ganz Wien ist eine Produktion pro Monat zu Gast. Und so sammeln sich im Lauf der Jahrzehnte bei dieser tingelnden Kultureinrichtung viele Anekdoten an:

„Die Kolleginnen, die heute auch schon zum Teil nicht mehr leben, haben mir also erzählt, es gab dann Spielstätten, wo es keine Toilette gab, wo man also hinter dem Haus auf die Wiese gehen musste, das ist nicht mehr. Es gibt Anrufe von verzweifelten Kolleginnen: Ich stehe jetzt da, wo muss ich hin? Früher gab’s zwei Fälle, die habe ich selber miterlebt, wo Kolleginnen in die falsche Spielstätte gefahren sind und mit dem Taxi sich das gerade noch ausgegangen ist.“

Das Foyer füllt sich. Es sind überwiegend ältere Besucher. Man hat sich ein wenig schick gemacht für diesen etwas aus der Zeit gefallenen Anlass, begrüßt die Nachbarn aus dem Kiez, bestellt ein belegtes Brot und ein Achterl Wein. Die Techniker stehen an den Eingängen zum Saal und verteilen Programme an die meist treuen Besucher, so wie an jene Dame, die schon seit 25 Jahren Abonnentin ist:

„Es sind immer sehr gute Stücke, und ich finde, es ist toll, dass man mit wenig Ausstattung so tolle Sachen aufführt.“

Ein Mann mittleren Alters hat sein Abonnement kürzlich als Weihnachtsgeschenk erhalten:

„Ich werde es mir auf alle Fälle behalten. Die Atmosphäre ist da natürlich heimeliger und privater als in einem großen Theater, keine Frage. Man trifft immer dieselben, ist recht angenehm, ja.“

Einer anderen Dame gefällt vor allem die Mischung der Stücke:

„Es ist meistens ein Singstück dabei, was auch immer sehr gut ankommt, es sind ganz wenige echt tragische Sachen dabei, aber das wird dann so über die Bühne gebracht, dass man nicht wirklich traurig nach Hause geht, sagen wir so.“

Es ist kurz nach halb acht, die 250 Plätze sind ausverkauft. Doris Weiner betritt die Bühne, und gibt die gewohnten Hinweise zum Programm. Denn das Theater in den Bezirken hat eine nicht zu unterschätzende Schuhlöffelfunktion, um eher Kulturfernen den Zutritt zu Wiens Theaterlandschaft zu erleichtern: Die sechste Vorstellung des Abonnements findet im Haupthaus statt, und es gibt diverse Sondervorstellungen und Gutscheine für Aufführungen im Burgtheater oder in der Volksoper oder in einem der Kellertheater.

Dann geht das Licht aus, der Vorhang geht auf und das Spiel der exzentrischen Schauspielerin Sarah Bernhardt und ihres devoten Dieners Pitou beginnt. Nach eineinhalb Stunden fällt der Vorhang der Vorstadtbühne. Viel Applaus für die zwei Publikumslieblinge, die Zuschauer nicken ihren Sitz- und mitunter Wohnungsnachbarn anerkennend zu, dann machen sie sich auf den Heimweg.

Noch haben die letzten nicht den Saal verlassen, da werden schon Leitern aufgestellt, und der Abbau beginnt. Bühnenbild und Kostüme werden noch am Abend ins Volkstheater gefahren, morgen Nachmittag wird wieder gestartet. Spielort ist die Per-Albin-Hansson-Siedlung in Wien-Favoriten.