Wandel der Geschlechterrollen trifft vor allem Männer

Moderation: Holger Hettinger |
Die beiden Autoren Barbara Sichtermann und Ingo Rose gehen davon aus, dass der Wandel des Rollenverständnisses eher Männer trifft, da "Frauen Veränderungen gewohnt" seien. Die Zunahme von Gewalt unter Jungen sei ein Zeichen für die Verunsicherung, die die Auflösung der klassischen Muster ausgelöst habe.
Hettinger: Sex ist unser Leitmotiv im heutigen Radiofeuilleton am 20. März, dem Frühlingsanfang. Zu Beginn dieser Stunde sprechen wir mit den Publizisten Barbara Sichtermann und Ingo Rose darüber, inwieweit die Sexualität von Männern und Frauen in Zeiten eines geänderten Rollenverständnisses andere Erscheinungsformen, andere Regeln gefunden hat. Barbara Sichtermann und Ingo Rose haben ein Buch geschrieben, "Männer am Rande des Nervenzusammenbruchs" heißt es. Darin werden die Konsequenzen beschrieben, die aus der Neubewertung von gesellschaftlicher Macht entstehen. Die beiden sind ein Paar und sie sind jetzt im Studio von DeutschlandRadio Kultur, schönen guten Morgen.

Sichtermann/Rose: Guten Morgen.

Hettinger: Frau Sichtermann, aus etlichen Studien von Verhaltensforschern und Sexualwissenschaftlern wissen wir, dass Sex und Partnerwahl sehr stark von Instinkten und anderen vordefinierten Faktoren abhängt. Wie kann es sein, dass solch ein wohlerprobtes, ein solch traditionelles System aus dem Tritt kommt, sobald eine Änderung im Geschlechterverständnis wirksam wird?

Sichtermann: Wie wohlerprobt das so ist, niemand weiß das genau. Sexualität ist immer kritisch gewesen, anfällig dafür, dass Menschen aus der Bahn fliegen, dass sie sich vielleicht sogar um eine neue Identität bemühen müssen. Es ist immer das Medium, in dem wir uns neu erschaffen können, aber und sogar im Extremfall, natürlich auch fertig machen. Also kann man nicht sagen, es war früher alles prima, und jetzt läuft es plötzlich aus dem Ruder.

Zumal die alten Muster, von denen sie gesprochen haben und die heute von Hirnforschern und Neurobiologen noch mal erhoben werden, dass es die tatsächlich noch gibt, die Programme aus der Steinzeit, die lenken uns ja nicht mehr, die sind zwar da, und sie sorgen sozusagen für die Grundorientierung, also dass Männer Frauen wollen und Frauen Männer wollen, aber die kulturellen Vorgaben sind inzwischen so differenziert und so mächtig in unserer Gesellschaft, dass sie diejenigen sind, die uns dann doch im Einzelnen und Konkreten lenken und deshalb kann natürlich auch eine Neuberwertung der Rollen von Männern und Frauen auf dem Feld der Sexualität eine Menge durcheinander werfen.

Hettinger: Also dieser kulturelle Kontext, die Rahmenbedingungen, in denen sich Männlein und Weiblein begegnen, die sind andere geworden. Was war denn das entscheidende Moment, was dazu geführt hat, dass der Mann jetzt anscheinend verunsichert ist, in diesen modernen Zeiten?

Sichtermann: Es ist so, dass Sexualität tatsächlich, ob uns das gefällt oder nicht, sehr stark durchzogen ist mit Ansprüchen in Richtung auf Macht, Herrschaft. Da gibt es auch oben/unten, da gibt es Kämpfe und in dem Moment, in dem das Geschlecht, das über Jahrhunderte, Jahrtausende das mächtigere war, Macht abgeben muss an die Frauen, einsehen muss, dass die männliche Herrschaft, wie der französische Philosoph Bourdieu es nennt, dass die wankt, dass die nicht mehr in dieser reinen Form existiert, da wirkt sich das natürlich auf den Sex aus. Das ist doch völlig klar.

Hettinger: Dieses Verhältnis, das da wankt, ist eine gesellschaftliche Entwicklung, die gerade stattfindet oder deren Auswirkungen wir gerade zu spüren bekommen. Herr Rose, glauben Sie, dass ist jetzt hier eine Nahtstelle, in der man das besonders drastisch zu spüren bekommt, oder ist es eine langfristige Entwicklung?

Rose: Was meinen Sie jetzt mit hier? Hier in Berlin?

Hettinger: Nein, generell. Man hat so den Eindruck, man liegt so auf einer Nahtstelle, da passiert jetzt gerade was ganz Grundlegendes. Ist das jetzt einfach eine Art soziokultureller Schluckauf oder ist da ein genereller Bruch im Verständnis der Geschlechter zu orten?

Rose: Ein Schluckauf ist es ganz bestimmt nicht. Ich glaube, es ist ein genereller Bruch. Wenn ich nur an das Stichwort Identität eben denke: Die Rollenbilder, die haben sich ja für den Mann viel stärker verändert als für die Frau. Die Frauen sind die Veränderungen gewohnt, für den Mann ist das relativ neu. Therapeuten zum Beispiel sagen auch, sie beklagen, dass die Gewalt unter den Jungs stärker geworden ist. Also auch ein zart besaiteter Junge muss schon mehr Gewalt zeigen, um als Mann unter seinesgleichen anerkannt zu werden. Und das ist neu für Jungs. Dann die Ansprüche, die von der Partnerschaft gestellt werden: Was ist für eine Frau ein richtiger Mann? Sie haben ja auch keine richtigen Vorbilder. Man kennt noch den Softi aus den 80ern, dann dieses ganz Harte. Sie sind verunsichert und für die Frauen trifft das eben nicht zu.

Hettinger: Man hat ja oft den Eindruck, es werden auch von mehr oder weniger selbsternannten Trendscouts auch gewisse Rollenmuster entworfen. Wenn ich zum Beispiel an diese Bild des metrosexuellen Mannes denke, also ein Mann, der zuhause eine Nagelfeile, ein Deo und einen Kamm hat - jetzt mal ganz salopp formuliert - gab es ja im Prinzip früher auch schon, Popper und solche Geschichten in den 80ern, die Mods in den 60ern, auch das waren ja gewisse Muster. Machen wir uns da vielleicht auch ein bisschen zu sehr nervös?

Sichtermann: Ich glaube, das Neue ist, dass Männer heute feminine Elemente auch öffentlich vorzeigen können. Das geht einher mit der Akzeptanz der Homosexualität, dass sie mit Schmuck, leicht geschminkt, mit Strähnchen - wie heißt dieser Fußballer, der das macht...

Hettinger: Beckham!

Sichtermann: Ja, also ich bin Fußball desinteressiert, aber ich weiß, dass es da jemanden gibt, der sich Locken dreht und sich auch so zeigt, und das große Publikum findet das irgendwie gut.

Hettinger: Die sagen ja, die haben gelernt, die versuchen jetzt auch körperliche Reize nach außen zu kehren- weibliches Attribut - das heißt, es findet auch Veränderung statt.

Sichtermann: Das ist schon neu. Das eine, was Ingo Rose eben sagte, dass vor allem in den Unterschicht-Jugendgangs immer mehr harte Männlichkeit verlangt wird, damit man sich überhaupt noch abgrenzt, und auf der anderen Seite aber das Zulassen femininer Attribute, so dass tatsächlich die Geschlechter so ein bisschen die Attribute, die Eigenschaften tauschen können, Frauen ja auch mit mehr Härte auftreten dürfen - sie spielen Fußball. Das ist noch gar nicht so lange, dass der deutsche Fußballbund das überhaupt zulässt, dass Frauen auch kicken. Insofern bewegen sich die Geschlechter auch aufeinander zu.

Hettinger: Aber dieses klassische Muster - der Mann führt Stärke vor und Macht und die Frau lockt mit körperlichen Reizen - dieses Muster hat doch anscheinend ausgedient. Was ist denn an die Stelle dieses Musters getreten?

Rose: Ich glaube nicht, dass dieses Muster ausgedient hat. Das ist so alt, dass die Frau die Blume ist, die gepflückt werden möchte, und der Mann um sie wirbt, das wird immer so bleiben. Aber das Verständnis, das Selbstverständnis, ich meine, so eine Gewaltbereitschaft, die deutet ja immer darauf hin, dass eine große Verunsicherung da ist. Das ist ja immer, um sich dann erst recht zu vergewissern, auch dass das mit Homosexuellen angeht. Also wenn wir jetzt auf Frühlingsgefühle zurückkommen, auf diese Sachen kann man immer vertrauen, vielleicht ein bisschen mehr Gelassenheit an den Tag legen.

Sichtermann: Ja, es ist so, glaube ich, dass es heute mehr bewusst inszeniert und gespielt wird, wenn die Frau noch die passive Rolle hin und wieder … sich selbst in der gefällt, in dem sie kommen lässt und der Mann so diese spezielle, virile Aktivität mit dem Werben und so, das sagen wir mal, das wird jetzt zitiert eigentlich aus der Geschichte. Es ist auch nicht mehr konkurrenzlos, es gibt auch Rollentausch.

Hettinger: Eine Eigenschaft von hohem Anziehungsvermögen ist Ihnen zufolge die männliche Schüchternheit. Wieso ist so etwas in unseren lauten, schnellen Zeiten so attraktiv?

Sichtermann: Schüchternheit ist eigentlich ein Tribut, so verstehe ich es, an die Macht des Eros, die eben so groß sein kann, dass sie auch Ängste erzeugt, dass sie diejenigen, die in diesen Bannkreis eintreten, so sehr fasziniert, dass man sozusagen seine tägliche Arbeit darüber vernachlässigt. Also es wird einem ja manchmal der Boden unter den Füßen weggezogen und wenn man so etwas spürt in der Begegnung mit dem anderen Geschlecht, dass das auf einen zukommen kann, dann ist es nur richtig, langsam vorzugehen, sich selber zwischendurch auch mal zu sammeln, nicht mit der Tür ins Haus zu fallen, die Angebetete oder den Angebeteten - also die schüchterne Frau haben wir ja auch, auch die ist sozusagen ein klassischer Typus - sich selbst und dem Objekt der Begierde Zeit zu lassen, möglichst viel Zeit zu lassen und in dieser Zeit entfalten sich dann auch alle Reize.

Hettinger: Das ist doch aber ein Luxus in diesem Zeitalter in der viel Anbahnung in irgendeiner Form anonymisiert geschieht über Internet, Chatrooms, über Partnerbörsen, die rein virtuell bestehen. Woher soll diese Zeit, die Muße kommen?

Sichtermann: Die muss da sein. Ich meine, die war ja immer da und letzten Endes sind wir doch auf der Welt, um unser Glück zu suchen und das erotische Feld ist dabei ganz besonders wesentlich. Wenn wir das abschieben in so ein Effizienzaufrechnen, so Kalküle, in diese Eheanbahnung oder ins Internet, dann sind wir schön doof, dann bringen wir uns nämlich - vor allem, weil da ja schon klar ist, worum es geht: Man sucht einen Partner, man will mit jemanden ins Bett gehen, oder jemanden heiraten oder so, also dieses ganze Vorfeld, wo alles noch unklar ist, wo man wirbt, vielleicht auch mit versteckten Mitteln, wo man sich immer noch Rückzüge offen halten muss, wo man sich selber so verwandeln kann auch, durch die Begegnung mit einem anderen Menschen, das wird zugeschüttet. Ich kann die Leute nicht verstehen, die das freiwillig machen.

Hettinger: Also ist der Weg schöner, als das Ziel? Ist dieser Status des Indifferenten, des Tastenden besser als der Streit nachher, wer die Kaffeetassen spült?

Sichtermann: Das ist ganz gut gesagt. Der Weg ist in diesen Dingen wirklich das Ziel.

Hettinger: Barbara Sichtermann und Ingo Rose waren das über Männer und Frauen in Zeiten eines geänderten Geschlechterverhältnisses. Die beiden haben ein Buch geschrieben, es heißt "Männer am Rande des Nervenzusammenbruchs" und dieses Buch ist nun in der Edition Ebersbach erschienen.