Wandel bewältigen

Mit Paul Cézanne neues Denken lernen

04:23 Minuten
Das Gemälde "Montagne Sainte Victorie" von Paul Cézanne (1839-1906).
Paul Cézanne – ein Maler, der die Natur in Bewegung versetzt, meint Hans Rusinek. © imago / History Archive
Ein Einwurf von Hans Rusinek · 02.12.2020
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Probleme wie den Klimawandel werden wir nicht lösen können, wenn wir uns nicht von erstarrtem Denken verabschieden, meint der Philosoph Hans Rusinek. Wie wir die Welt als Werdendes und Fließendes sehen können, könne uns der Maler Cézanne lehren.
2020 war zum Abgewöhnen. Wann wird der Alltag wieder alltäglich, die Wirtschaft wieder stabil, die Arbeit wieder langweilig, wann wird alles also wieder gefixt?
Vielleicht, wenn wir verstehen, dass das wahre Problem in dieser Art zu fragen und zu denken steckt: Was es braucht, um in der Welt des Wandels zu bestehen, ja sie zu einer besseren zu formen, ist kein krampfhaftes Suchen nach Statik, sondern ein Denken in Dynamik.
Leider baut unsere westliche Weltsicht auf festen Objekten auf: Wir sehen die Welt als eine der definierten Dinge, sie besteht aus atomaren Molekülen, natürlichen Arten und klaren Kategorien. Was existiert, existiert als Objekt. So sprechen wir eben auch von unserer Identität, unserem Geschlecht oder unserer Gesellschaft. Was so ist, muss so bleiben. Sonst können wir damit nicht arbeiten. Wir reden von der guten Ordnung, den etablierten Organisationen und deren Sinn – aber nicht von Ordnen, Organisieren und Sinnstiften.

Etwas "great again" zu machen, ist der falsche Weg

Das ist schade. Wir laufen damit Menschen in die Arme, die etwas Vergangenes "great again" machen wollen, und sind oft nicht in der Lage, von unserem starren Denken loszulassen, wenn es etwa um einen neuen Umgang mit Klima und Umwelt geht. Das ist mehr als schade.
Wie also geht Andersdenken? Jemand, der die Welt im Werden und nicht im Sein sah, war der impressionistische Künstler Paul Cézanne. Auf seinem Bild vom Mont Sainte Victoire malt er nicht den Berg, die Bäume davor und dazwischen die Häuser. Stattdessen versetzt er alles in Bewegung, Grüntöne fließen in entfernte Violett- und Rosatöne. Der Berg liegt am Horizont und wird doch direkt nach vorne gebracht zu dem Spiel von Blättern und Zweigen, deren Linien seinen blauen Hang widerspiegeln. Man sieht, wie die Natur wirklich ist und nicht nur unsere Kategorien von ihr.
Wenn man so denkt, wie Cézanne malt, so die Prozessphilosophin Jenny Helin, dann geht man über die Betrachtung der Welt als einer Menge statischer, isolierter Objekte hinaus. Dann sieht man die Prozesse, aus denen sie besteht. Was existiert, existiert im Wandel. Es hat eine Ergebnisoffenheit, ist verbunden zu anderen Geschehnissen und birgt immer Potenzial, ein Mehr in der Welt als nur das, was schon da ist. Dieses Prozessdenken findet ausgerechnet in der sogenannten "harten" Naturwissenschaft immer mehr Anklang, in den Neurowissenschaften, der Quantenmechanik, der Astrophysik.
Ein solch abenteuerliches Denken befreit: Ich habe mich oft gefragt, ob ich religiös bin und wenn ja, zu welchem Verein ich denn gehöre? Eine Prozesssicht sagt mir: Es gibt Momente, nur ein paar, wo ich einer Religiosität begegne, etwa bei der Frage, wie ich heiraten möchte, und die dann auch wieder verschwindet.

Auch die Pandemie birgt eine Chance

Und genauso lassen sich dann die ganzen besorgniserregenden Zustände denken, die eben eher fließende Zusammenkünfte, Chancen und Begegnungen sind. Wie sehr ist die Klimakrise ein Prozess des Achtsamwerdens und gemeinsamen Organisierens? Wie sehr kann die Pandemie die Chance sein für ein neues Zusammenforschen, Zusammenarbeiten und Zusammenhalten? Wie sehr sind populistische Präsidenten auch die Geburt von einer neuen mutigen Generation gewesen?
Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster, sagte Antonio Gramsci treffend über seine und unsere Gegenwart. Diesen Monstern wollen wir mutig begegnen. Mit einem Blick, mit dem sich überhaupt erst reagieren lässt: gelassen, neugierig, bestimmt. Mit dem man sagen kann, dass unser Handeln nicht nur ein reflexhafter Überlebensmechanismus ist, sondern schon eine neue Art zu leben für eine Welt, die sich immer in Entstehung befindet. Eine Welt, die es nicht in den Griff zu kriegen, sondern offen wahrzunehmen gilt. Eine Welt, die nicht aus Dingen besteht, sondern eben aus Kräften, Bindungen und unzähligen Potenzialen - in der nur eines immer sicher ist, dass nichts bleibt, wie es ist.

Hans Rusinek beschäftigt sich mit Transformation der Wirtschaft und Zukunft der Arbeit als Forscher, Berater und Autor. Er promoviert in St. Gallen am Institut für Wirtschaftsethik zu Sinn und Arbeit. Als Berater hilft er Organisationen ihren größeren Sinn, ihren Purpose, zu finden und zu leben. Als Autor ist er einer der Chefredakteure von Transform, einem Printmagazin, das sich mit Fragen nach Lebensglück, Nachhaltigkeit und gesellschaftlichem Wandel beschäftigt und Träger des Förderpreises für Wirtschaftspublizistik der Ludwig-Erhard-Stiftung.

© Ulrike Schacht
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