Wahrheitsfindung in der Mathematik

Wann ist ein Beweis richtig?

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Eine Person schreibt eine mathematische Formel an eine weiße Tafel. © dpa / pa / Constantini
Von Agnes Handwerk · 11.06.2015
Zwei spektakuläre Fälle in der Mathematik zeigen, dass die Verifizierung eines Beweises durch eine wissenschaftliche Community an ihre Grenzen stoßen kann.
Auf der Liste der ungelösten Probleme in der Mathematik steht sie ganz oben: die abc-Vermutung. Und einer ist überzeugt, den Beweis erbracht zu haben: der japanische Mathematiker Shin'ichi Mochizuki.
Doch ein Beweis erhält erst Gültigkeit, wenn er von der Gemeinschaft der Mathematiker anerkannt wird. Das ist bisher nicht geschehen.
Darauf wartet Mochizuki seit drei Jahren und stellt nun die Frage, warum sich bisher nur wenige Mathematiker mit seiner "Inter-universalen Teichmüller Theorie" befasst haben. Einer von ihnen ist Minhyong Kim, Professor für Arithmetische Algebraische Geometrie an der Universität Oxford. Er gehört zu einer kleinen Gruppe von Mathematikern, die daran arbeiten, die Richtigkeit des Beweises zu prüfen und zu erklären:
"Mochizuki versucht, ein relativ unkonventionelles Verständnis von Zahlen zu entwickeln. Addieren und multiplizieren, das was wir normalerweise mit Zahlen machen, das überträgt er auf eine viel abstraktere Struktur. Vereinfacht ausgedrückt geht es darum, mit Zahlen viel flexibler umzugehen als bisher."
"Ich kann dazu nichts sagen, weil ich es nicht verstehe. Ich verstehe auch nicht die Idee dahinter. Er hat tausend Seiten aufgeschrieben, mit denen man ein halbes Jahr seines Lebens verbringen soll. Und ich habe nicht vor, ein halbes Jahr meines Lebens damit zu verbringen, weil ich noch was anderes zu tun habe und auch andere Verpflichtungen."
... sagt dagegen Gerd Faltings. Gerd Faltings ist einer der geschäftsführenden Direktoren des Max-Planck-Instituts für Mathematik in Bonn und forscht selbst auf dem Gebiet der Algebraischen Geometrie. Er kennt Mochizuki. Sogar sehr gut, denn er hat ihn 1992 an der amerikanischen Universität Princeton promoviert.
Shin'ichi Mochizuki ist ein anerkannter Mathematiker. Trotzdem stößt er mit seinem Beweis auf Unverständnis. Hat er sich verrannt? Oder zeigt sich in seinem Fall ein blinder Fleck in der mathematischen Community?
"Ich habe festgestellt, dass ich da nicht weiterkomme und dann habe ich es aufgegeben. Soll ich Schuldgefühle haben? Nein, hab ich nicht!"
Gerd Faltings hat 1983 selbst einen wichtigen Beweis erbracht. Er war 29 Jahre alt und Professor an der Universität Wuppertal, als er mit seiner 17-seitigen Schrift über "Endlichkeitssätze für Abelsche Varietäten über Zahlkörpern" Mathematikgeschichte schreibt:
"Leute haben dann versucht, das zu verstehen und fanden das plausibel und ordentlich. Das Manuskript wurde oft kopiert und Leute in Paris, Amerika, Cambridge, England oder Moskau haben das durchgelesen. Und dann ist es akzeptiert worden."
Der Bonner Mathematiker Gerd Faltings
Der Bonner Mathematiker Gerd Faltings© dpa / picture alliance
Der Beweis der Mordell-Vermutung besagt, dass auf bestimmten algebraischen Kurven nur eine endliche Zahl von Punkten mit rationalen Koordinaten liegen kann. Für seine bahnbrechende Arbeit erhält Gerd Faltings 1986 die Fields-Medaille, eine der höchsten Auszeichnungen in der Mathematik. 2014, zum Kolloquium anlässlich seines 60. Geburtstages, kommen viele seiner Weggefährten; auch Shin'ichi Mochizuki ist eingeladen. Er hatte jedoch keine Lust:
"Er ist sehr selbstbewusst und er findet: Das ist jetzt niedergeschrieben und andere Leute haben die Verpflichtung, das zu lesen."
Als Mochizuki 2012 seinen Beweis ins Netz stellt, wird das kurz darauf als eine Sensation gehandelt. Die New York Times titelt: "Die ABC-Vermutung vor dem Durchbruch". Doch dann verstummen die euphorischen Stimmen. Mathematiker versuchen, den Beweis zu verstehen. Bis auf einen sehr kleinen Kreis um Mochizuki geben alle auf. Auch Gerd Faltings:
"Passieren müsste, dass eine größere Reihe von Leuten sagen würden: Wir verstehen das. Nicht numerisch, sondern in dem Sinne, dass man das glaubt, dass sie sich das überlegt haben und nicht sagen, sie verstehen das, sondern können es auch erklären, wie es gehen soll."
Das muss keine anerkannte Autorität sein, ergänzt Christian Blohmann, der als Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Mathematik arbeitet:
"Die meisten Vorträge werden nicht bis ins letzte Detail ausgeführt, aber das Versprechen ist, dass man es könnte. Dass wenn ich jetzt frage: Dieses Detail habe ich nicht verstanden, dann muss der mir das erklären können. Und wenn er das nicht kann, dann tut sich da u. U. eine Beweislücke auf. Und es gibt kleinste Beweislücken, die ganze Beweise geschrottet haben."
Dafür gibt es ein legendäres Beispiel. Als der Mathematiker Andrew Wiles nach jahrelanger Arbeit seinen Beweis in einem Vortrag in Cambridge darlegt, stellt sich heraus, dass es eine Lücke gibt. Ein Alptraum für den Wissenschaftler. Er schottet sich von der Community ab und arbeitet vollkommen zurückgezogen mit Richard Taylor weiter. Nach knapp einem Jahr kann er den endgültigen Beweis des Fermatschen Satzes präsentieren. Diese "Sternstunde der Mathematik" wird zu einem großen Ereignis in der Community und findet ein breites Medienecho.
Geniale Ideengeber und strenge Prüfer
Am Max Planck-Institut für Mathematik werden Auseinandersetzungen über die Richtigkeit einer Beweisführung in Workshops, auf Colloquien und der jährlichen Arbeitstagung geführt. Es geht nicht um so große Probleme wie die abc-Vermutung. Aber jeder Wissenschaftler, so Christian Blohmann, arbeitet hier an einem Forschungsvorhaben und somit auf neuem und ungesichertem Terrain:
"Deshalb sind die Mathematiker oft unzufrieden mit den Leuten. Die präsentieren mal ihre Ideen und haben eine schöne Konstruktion und überlassen die Schweißarbeit den anderen. Es darf nicht zu viele Mathematiker geben, die einfach eine Idee präsentieren. Wenn das überhand nehmen würde, würde das ganze Verfahren, Wahrheit zu sichern, zusammenbrechen. Es kann geniale Ideengeber geben, aber es muss auch genug Leute geben, die das alles streng prüfen."
Dieses Argument kennt Shin'ichi Mochizuki und schreibt in seinem "Progress Report" vom Dezember 2014, er habe 20 Jahre als Autor, Gutachter und Herausgeber zahllose mathematische Arbeiten geprüft und beurteilt. Genau das möchte er nun auch für sich einfordern:
"Leider scheint es vor allem unter den Forschern außerhalb von Japan deutlich negative Stimmen und feindliche Reaktionen zu geben. Man weigert sich, auf die Theorie sorgfältig und systematisch von Anfang an einzulassen."
Mochizuki hat in Princeton studiert. Während er in den 1990er-Jahren noch an Kongressen und Symposien überall auf der Welt teilnahm, verlässt er Kyoto seit mehr als 15 Jahren nicht mehr. Auf seiner Website gibt er sich eigenwillig den frei erfundenen Titel "Inter-universal Geometer" in Anlehnung an seinen Beweis, der "Inter-Universal Teichmüller Theorie". Sein Beweis umfasst über 500 Seiten. Mindestens ein halbes Jahr müsse sich ein Mathematiker Zeit nehmen, um seine Theorie zu verstehen, erklärt er. Aber das ist noch nicht alles. Er fordert von seinen Kollegen, bisherige Gewissheiten aufzugeben.
Die größte Hürde besteht nicht darin, sich neues Wissen anzueignen. Vielmehr müssen die Forscher ihre bekannten Denkmuster aufgeben, auf die sie sich jahrelang verlassen konnten, und wie ein Student oder Anfänger vollkommen unvoreingenommen, und lediglich mit einfachen logischen Überlegungen, an die Sache herangehen.
"Mathematik machen" ist eine große Herausforderung, die sich allein im abstrakten Denken abspielt. Wie auf anderen Wissenschaftsgebieten herrschen aber auch hier Leistungsdruck und Konkurrenz. Und es besteht ein Gegensatz zwischen dem Kreativen, dem freien ungebundenen Denken, und dem Normativen, den Regeln der Community. Auch deshalb gibt es immer wieder herausragende Mathematiker, die ihren ganz eigenen Weg gehen wollen – wie Grigorij Perelman. Schon seinen Beweis der Poincaré-Vermutung hat er nicht an eine Fachzeitschrift geschickt, wie es die Regel ist, sondern ins Internet gestellt. Nach seinem spektakulären Erfolg weigerte er sich, die Fields-Medaille anzunehmen und das Preisgeld von einer Million Dollar, das die Clay-Stiftung ausgelobt hatte. Ohne weitere Erklärung zog er sich aus der Community zurück.
Am Max-Planck-Institut für Mathematik in Bonn kommen die Wissenschaftler nachmittags zu einer zwanglosen Teerunde zusammen. Das hat Tradition und geht auf das Math Department an der Universität Princeton zurück. Es wird inzwischen an vielen Forschungsinstituten gepflegt, um die Kommunikation untereinander zu beleben und der Vereinzelung und Vereinsamung etwas entgegenzusetzen. Der Aufbruch zu neuen Ufern ist oft das Werk von Einzelnen. Aber jeder baut auf den Erkenntnissen des anderen auf.
Mathematik ist eine beweisende Wissenschaft und die mathematische Community ist stolz auf ihre Tradition des "strengen Beweises". Keine andere Wissenschaft beruht auf einem Fundament, das bis in die griechische Antike − zu Archimedes und Pythagoras zurückreicht.
Das führt aber auch dazu, dass die eigenen Methoden der Wahrheitsfindung viel weniger reflektiert werden als in anderen Wissenschaften.
Blind für die sozialen Bedingungen
In der Soziologie spielt der Methodenstreit über die Frage, wie sich wissenschaftliche Objektivität definiert, eine zentrale Rolle. Der Einfluss des Subjektiven wird negiert, erklärt Christian Schneickert. Er arbeitet am Sozialwissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität in Berlin und bezieht sich mit seiner Analyse auf den französischen Soziologen Pierre Bourdieu:
"Bourdieu zählt die Wissenschaften zu den Feldern kultureller Produktion und sagt, die Felder der kulturellen Produktion sind in gewisser Weise blind für ihre sozialen Bedingungen und zwar deshalb, weil sie immer dieses Prinzip, diese "Illusio" der Interesselosigkeit vertreten müssen. In den Wissenschaften existiert der Glaube daran, dass es in diesem ganzen Betrieb darum geht, Wahrheit zu finden. Das macht den Betrieb und alle Akteure blind dafür, dass es soziale Beziehungen, auch Ungleichheit gibt, das ungünstige Effekte auf das eigentliche Ziel hat, nämlich die Wahrheitsproduktion."
Norbert Schappacher ist Professor für Mathematik an der Universität Straßburg. Er hat über den Einfluss sozialgeschichtlicher und politischer Entwicklungen auf die Mathematik geforscht – im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In diesem Zusammenhang hat er sich mit dem Fall Kurt Heegner befasst; der neuerdings im Zusammenhang mit Mochizuki genannt wird. Heegner hatte einen Beweis erbracht, der zuerst nicht anerkannt wurde. Irrt sich die Community im Fall von Mochizuki wieder? Die Zeitgenossen von Heegner haben seine Herangehensweise nicht verstanden, erklärt Norbert Schappacher:
"Heegner hatte diesen Gedanken, diophantische Gleichungen durch Modulfunktionen zu lösen. Heute ist uns dieser Gedanke vertraut. Das ist ein Gedanke, der zu der Zeit, als er erschien, nur von ganz wenigen Mathematikern erfasst werden konnte. Heegner hatte eine neue Art, Dinge anzuschauen, eine neue Technik, um diophantische Gleichungen aus ihrer Vereinzelung zu erlösen und sie in eine ganz große reichhaltige, technisch ausgebaute Theorie einzubauen. Das ist das Verdienst von Heegner. Heute ist uns das vertraut. Aber das liegt an der nachhaltigen Arbeit von mittlerweile zwei Generationen von Mathematikern."
Kurt Heegner stirbt 1965. Ein Jahr später wird die Richtigkeit seines Beweises erkannt. Samuel Patterson, emeritierter Professor für Mathematik, studiert an der Universität Cambridge, als er das erste Mal von Heegner hört:
"Das so genannte „Klassenzahl- 1-Problem" wurde von Harold Stark und Alan Baker gelöst und dies hat sehr viel Aufregung erzeugt, denn als das Problem gelöst wurde, 1966, haben mehrere Leute erkannt, dass eine Lösung schon seit 15 Jahren existierte – nämlich die Lösung von Kurt Heegner. In dieser Zeit hatten die Leute die Spuren von Heegner völlig verloren und deshalb war er schon eine Art Legende geworden. Man wusste absolut nichts über ihn. Einige Geschichten, die ich über ihn gehört habe, sind absolut abenteuerlich und haben nichts mit der Realität zu tun gehabt."
In einer Version heißt es, Heegner lebe in einem Hotel in Ostberlin und äußere sich nicht. In einer anderen wird aus ihm ein Gymnasiallehrer. Samuel Patterson hat erstmals den Nachlass von Kurt Heegner im Universitätsarchiv Göttingen systematisch gesichtet. Wochenlang hat er Blatt für Blatt genau studiert:
"Nach dem Krieg hat Heegner ungefähr tausend Seiten mathematische Notizen gemacht und fast alles ohne Erklärung. Es sind nur Rechnungen, Rechnungen, Rechnungen. Für die Biografie war es unumgänglich, beide Seiten anzusehen und gelegentlich hat man auf einigen von diesen Blättern interessante Sachen auf der Rückseite gefunden, wo man etwas über sein Leben erfahren konnte. Das waren Entwürfe, Konzepte, getippte Briefe. Auf diese Weise konnte man etwas finden."
Eine Fotografie, Kurt Heegner ist Anfang 30, zeigt ihn mit Vollbart und im Doppelreiher. Entschlossen schaut er drein, seine Haltung wirkt selbstbewusst. Er ist ein arrivierter Wissenschaftler. In den Jahren des Ersten Weltkriegs studiert er an einer der besten Universitäten, der Berliner Universität und erhält nach seiner Promotion eine Anstellung als Ingenieur in der Forschungsabteilung eines renommierten Industrieunternehmens. Doch mit Wirtschaftskrise und Inflation endet seine Karriere dort. Er ist 39 Jahre alt, als er im Herbst 1932 seine Stellung verliert. Seinem Leben will er nun eine in seinen Augen längst überfällige Wende geben und sich vollkommen der reinen Mathematik zuwenden:
"Die größte Anziehungskraft übte auf mich Hermann Amandus Schwarz aus in der Behandlung geometrischer Aufgaben. (...) Vor allem hinterließ er mir eine Aufgabe, die mich Zeit meines Lebens beschäftigt hat."
"Den Lebenslauf haben wir gefunden auf Rückseiten von mathematischen Notizen. Es wurde als Konzept niedergeschrieben. D. h. er hat alles mit Bleistift geschrieben und nur mit Mühe konnte man im Wesentlichen diesen Lebenslauf lesbar machen."
Aufschlussreich ist auch der Schriftwechsel mit dem Redakteur der "Mathematischen Zeitschrift" Helmut Wielandt. Nach 20 Jahren Forschungsarbeit kann Kurt Heegner 1952 dort seinen Aufsatz "Diophantische Analysis und Modulfunktionen" veröffentlichen. Er beweist darin die Vermutung, die Carl Friedrich Gauß Anfang des 19. Jahrhunderts über das Klassenzahlproblem aufgestellt hat. Vor der Drucklegung hat Heegner noch eine Bitte:
"In den Gottesdiensten habe ich in der Zeit, in der ich diese Arbeit schrieb, diese Bach Kantate zwei Mal gehört. Ich war sehr krank und habe mich an dieser Arbeit wieder ein wenig seelisch aufgerichtet. Ich möchte am Eingang meiner Arbeit diesen Lobpreis auf Gottes Güte nicht missen, auch wenn dies als störend empfunden werden sollte."
Ein Gotteslob als Auftakt zu einer mathematischen Beweisführung, das geht dem Redakteur zu weit:
"In jedem Fall bitte ich Sie zu bedenken, dass es für die Schriftleitung schon aus mathematischen Gründen kein leichter Entschluss gewesen ist, Ihre Arbeit anzunehmen (wegen der für die Mathematische Zeitschrift ganz ungewöhnliche Ankündigung wesentlicher Ergebnisse ohne Beweis), und dass ihr daher daran liegt, wenigstens im Äußerlichen diese Arbeit nicht unnötig aus dem Rahmen fallen zu lassen."
Mit der Veröffentlichung seiner Arbeit ist Kurt Heegners Urheberschaft gesichert, aber noch nicht die Richtigkeit des Beweises. Damals galten die dieselben ungeschriebenen Regeln der Wahrheitsfindung wie heute, erklärt Norbert Schappacher:
"Wann gilt ein Satz als bewiesen? Oder wann gilt ein Problem wie das Gaußsche Klassenzahlproblem als gelöst? Das ist sicherlich so, dass es nur dann als gelöst betrachtet werden kann, wenn die professionelle Community der Mathematiker das anerkennt und die Anerkennung in Seminaren oder Veröffentlichungen auch offen ausspricht. Das liegt daran, dass die Mathematik eine durch und durch professionalisierte Disziplin ist. Mathematiker sind in der Regel Leute, die eine Stelle haben als Professoren oder an einer Forschungsstelle, auf jeden Fall angestellt sind, um Mathematik zu machen und diese professionelle Community gibt sich ihre eigenen Regeln, hat ihre eigenen Zeitschriften und auch die Methoden über veröffentlichte Artikel zu reden."
Nach der Veröffentlichung von Heegners Aufsatz "Diophantische Analysis und Modulfunktionen" erscheint eine vernichtende Kritik. Niemand nimmt dazu Stellung und verteidigt Heegner. Das bedeutet: Sein Beweis ist abgelehnt. Er gilt als Amateur und gerät in Vergessenheit.
Anerkennung kommt erst posthum
Kurt Heegner, ein Außenseiter: Das liegt zum einen an seiner Persönlichkeit, aber auch an den politischen Verhältnissen. 1893 in Berlin geboren, wird er in der Wirtschaftskrise 1929 arbeitslos. In der Zeit des Nationalsozialismus habilitiert er sich, erhält aber keine Stelle an der Universität, weil er kein Parteigänger ist. Den Zweiten Weltkrieg, die schweren Bombardements, erlebt er in Berlin. In der Nachkriegszeit, als Forschung und Lehre neu aufgebaut werden, findet er keinen Anschluss. Seine ganze Kraft konzentriert er auf die Vollendung seines Lebenswerks, den Beweis des Gaußschen Klassenzahlproblems, und wacht eifersüchtig darüber, dass niemand ihn um die Früchte seiner Arbeit bringt. Aber Anerkennung für seinen Beweis erhält er erst posthum.
Samuel Patterson und Norbert Schappacher konnten mit intensiven Recherchen die Biografie von Heegner und die Geschichte seines Beweises weitgehend rekonstruieren. Ein Glücksfall, dass der Nachlass zufällig in einem Schrank im Mathematischen Institut der Universität Göttingen gefunden und archiviert worden war.
Das Göttinger Universitätsarchiv verfügt über eine einzigartige Sammlung von Nachlässen von Mathematikern. Sie wurde im ausgehenden 19 Jahrhundert von dem berühmten Zahlentheoretiker Felix Klein begründet. Er ließ persönliche Dokumente, Entwürfe, Notizen, Manuskripte aus Nachlässen von Mathematikern archivieren, um den Entstehungsprozess wissenschaftlicher Arbeiten und ihren zeitgeschichtlichen Hintergrund für die Nachwelt zu erhalten. So ist es heute möglich, das was der Soziologe Pierre Bourdieu später theoretisch begründet hat, zu rekonstruieren: Die sozialen und subjektiven Einflüsse auf Wahrheitsproduktion.
Fritz Heegner, der Neffe von Kurt Heegner, ist der einzige noch lebende Zeitzeuge. Von den Mathematikern Samuel Patterson und Norbert Schappacher hat er erstmals erfahren, dass sein Onkel einen berühmten Beweis erbracht hat. Er kennt ihn aus seinen letzten Lebensjahren:
"Er hatte einen Zopf, einen langen Zopf, der mit einem Gummi zusammengehalten war. Sein Bart hing ganz runter. Asketisch, abgemagert würde ich beinahe sagen. Und wenn er durch Steglitz ging, dann sollte man annehmen, dass z. B. die Kinder ihm nachliefen und sagen: Eh, guck mal den an! Absolut nichts dergleichen! Er war der Jesus von Steglitz!"
Im Universitätsarchiv in Göttingen will sich Fritz Heegner nun selbst ein Bild von den Arbeiten seines Onkels machen.
Zum Lesesaal im ersten Stock führt eine breite Steintreppe. Es ist das alte Universitätsgebäude. In der letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat hier Georg Christoph Lichtenberg Mathematik gelehrt, ihm folgte Carl Friedrich Gauß.
Fritz Heegner hat die Behälter mit den schriftlichen Hinterlassenschaften seines Onkels vor sich. Sorgfältig abgelegt zwischen Aktendeckeln: angegilbte Briefe mit brüchigen Kanten. Hunderte von DIN A Blättern eng beschrieben mit Umformungen diophantischer Gleichungen mit p, q, x, y, z. ... Auf Grund von Papierknappheit in den Kriegsjahren hat er dafür auch große Bögen aus gewachstem Einwickelpapier benutzt. Fritz Heegner versucht, eine Verbindung zwischen den Dokumenten und seinen Erinnerungen herzustellen:
"Ein großes Staunen, dass da etwas in diesem Menschen, man kann nicht sagen verborgen ist, das war ja ganz offenkundig für jeden, der etwas davon verstand. Aber für mich, dass in dem Menschen etwas Besonderes und Ungewöhnliches und wie die Mathematiker gesagt haben, etwas Großes gewesen ist, von dem man äußerlich nichts wahrgenommen hat. Das sich Befassen mit Dingen, die absolut nirgendwo zu finden sind, die diophantischen Dinger sind nirgendwo auf der Welt zu finden. Aber bei irgendjemandem scheint das ein wirkliches Problem zu sein, ein Problem von vitaler Bedeutung."
Heegner lebt – als Punkt, Zyklus, Varietät
Heegners Beweis ist heute anerkannt, aber nach wie vor gehört er nicht zur mathematischen Community. In der Disziplin zählt allein die akademische Position. Wer außerhalb steht, gilt nicht als professionell. Zu den Gepflogenheiten der Community gehört es, herausragende Leistungen mit einem Symposium oder einer Tagung zu würdigen. Diese Ehrung wurde Kurt Heegner auch posthum nie zuteil, erklärt Norbert Schappacher:
"Das ist vielleicht die größte Referenz, die die Mathematical Community diesem einsamen Arbeiter und Mathematiker zollt: Es gibt Heegner-Punkte und dann – wie das so in der Mathematik geschieht – haben verschiedene Forscher um diesen Begriff Heegner-Punkt Verzierungen angebracht: Heegner-Zyklen, Heegner-Varietäten, die Spielarten derselben Idee sind. In dieser Form lebt Heegner in der aktuellen Forschung, die sehr aktiv ist, in der Tat weiter."
Doch sein Fall beschäftigt Mathematiker nach wie vor. In einem Internetforum wird die Frage gestellt:
"Wer waren die Gutachter, die Heegners Beweis in Zweifel gezogen haben? Hat einer von ihnen Stellung bezogen? Haben sie Heegner voll rehabilitiert?"
Parallelen zwischen Kurt Heegner und Shin'ichi Mochizuki lassen sich jedoch nicht ohne weiteres ziehen. Mochizuki ist Professor an einem hervorragenden mathematischen Forschungsinstitut und verantwortet ein umfangreiches Programm mit Workshops und Seminaren. Ist das Unverständnis der Zeitgenossen vergleichbar? Heegner war ein Außenseiter und seine Herangehensweise an die Lösung des Beweises haben seine Zeitgenossen nicht verstanden. Ist das auch bei Mochizuki der Fall? Irrt sich die Community? Davon ist Minhyong Kim überzeugt und versucht zu vermitteln.
"Es ist seltsam, aber Mathematiker mögen es nicht, wenn jemand damit anfängt: Die Philosophie meiner Arbeit lässt sich so und so beschreiben. Sie wollen nur eine kurze Erklärung und dass es so bald wie möglich rein um Mathematik geht. Mochizukis Aufsatz über IU Teich beginnt mit ausführlichen Beschreibungen seiner Motivation und der Entwicklung seiner Ideen. Er möchte damit den Zugang erleichtern. Aber Mathematiker mögen das nicht. Und an ungewöhnlichen Ideen mangelt es eh nicht. Man muss sehr viel Energie aufbringen, um zu verstehen, dass die Ideen nicht beliebig sind. Am Anfang von Mochizukis Arbeit könnte der Eindruck entstehen, dass es nur um Ideen geht und nicht um konkrete Mathematik."
Minhyong Kim hat für Ende diesen Jahres ein Seminar anberaumt, in dem die Verifizierung von Shin´ìchi Mochizukis Beweis der abc-Vermutung abgeschlossen werden soll. Es findet in Oxford statt. Vielleicht steigt auch hier weißer Rauch auf für Shin'ichi Mochizuki und seinen Beweis der abc-Vermutung.
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