David Lauer ist Philosoph und lehrt an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Philosophie des Geistes- und der Erkenntnistheorie. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.
Die Marktgläubigkeit bleibt
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Billigfleisch oder Billigflug: Berücksichtigt man die Umweltfolgen, sind viele Güter zu günstig. Ein Supermarkt zeigt darum seit Kurzem ein zweites Preisschild mit den „wahren Kosten“. Gut gemeint, aber auch gut gedacht? David Lauer bezweifelt es.
Bei der Produktion von Gütern aller Art werden Kosten verursacht, die nicht vom Produzenten übernommen werden. Stattdessen werden sie auf die Gesamtgesellschaft abgewälzt. Wir bezahlen sie indirekt: durch Steuern, Abgaben und Krankenkassenbeiträge. Oder wir zahlen sie gar nicht, sondern überlassen die Rechnung künftigen Generationen.
Es ist der Ansatz des sogenannten "True-Cost-Accountings", genau dies sichtbar zu machen, indem durch die Aufdeckung der externalisierten Produktionskosten die "true cost", die "wahren Kosten" von Konsumgütern berechnet werden.
Der Markt als "Ort der Wahrheit"
Der Gedanke scheint einleuchtend, fortschrittlich. Und wenn er ein paar Konsumierende dazu bringt, sich beim Discounter gegen das obszön billige Fabrik-Hackfleisch zu entscheiden, hat er Gutes bewirkt. Am Ende allerdings setzt er nur jene Denkweise fort, welche genau die Probleme erzeugt, die er zu lösen versucht.
In seinen Vorlesungen zur Geburt der Biopolitik skizziert der französische Philosoph Michel Foucault, wie sich in der politischen Ökonomie die Vorstellung vom Markt als einem "Ort der Wahrheit" herausbildet. Nach der klassisch liberalistischen Auffassung bildet der Markt ein sich selbst regulierendes Geschehen, das von ganz allein und mit unsichtbarer Hand den wahren Preis aller Dinge ermittelt. Der Markt ist unbestechlich. Er produziert die Wahrheit über den Wert eines jeden. Jeder Eingriff in das freie Spiel seiner Kräfte führt zu einer Verfälschung dieser Wahrheitswerte.
Können wir Gerechtigkeit einen Geldwert geben?
Auf den ersten Blick scheint im Ansatz des True-Cost-Accountings eine Abkehr von dieser Marktgläubigkeit zu liegen. Der Markt, so wird zugestanden, legt nicht einfach die Wahrheit offen. Vielmehr versteckt er sie. Zugleich aber hält das True-Cost-Accounting ungebrochen an der Idee fest, dass es eine "Wahrheit der Kosten" gibt. Es geht nur darum, den Markt dazu zu zwingen, diese Wahrheit auch auszusprechen.
Daran ist zweierlei problematisch. Erstens verschleiert die objektivierende Rede von der "Wahrheit", dass in alle entsprechenden Berechnungen zahllose normative, politische Entscheidungen darüber eingehen, was wir als kompensationswürdige Schäden betrachten und was nicht.
Zweitens aber – und wichtiger noch – führen alle derartigen Berechnungsmodelle schnell in Abgründe. Denn das ungezügelte Wüten globalisierter Märkte zerstört nicht nur natürliche Ressourcen. Es erzeugt auch millionenfaches Leid von Tieren und Menschen. Es zersetzt indigene Lebensformen, es befeuert Ausbeutung, Krieg und Vertreibung.
Diese "Kosten" des Marktes betreffen Werte, die quer stehen zum Wert von Waren. Es geht um Würde. Es geht um Gerechtigkeit. Um aber diese Werte innerhalb der Logik des Marktes zur Geltung zu bringen, müssten sie in das einzige Medium übertragen werden, das der Markt versteht: Geld.
Es gibt Werte, die sich nicht beziffern lassen
Was aber sind die "wahren Kosten", mit denen wir das Elend eines Mastschweins, das Leid einer Kindersklavin, die Zerstörung einer indigenen Gemeinschaft beziffern können? Wenn wir beginnen, Fragen dieser Art auch nur zu stellen, droht uns das Bewusstsein dafür verloren zu gehen, dass es Arten von Wert gibt, die auf keine ökonomischen Werte verweisen. Dass es Gründe gibt, auf etwas zu verzichten, die nichts damit zu tun haben, dass es zu teuer ist. Dass es Formen der Wertschätzung gibt, die nichts damit zu tun haben, dass wir uns die Sache etwas kosten lassen.
Die Vorstellung aber, dass der Markt sogar das von ihm selbst produzierte schreiende Unrecht noch in den Griff kriegen kann, wenn man es nur selbst wieder in ein Marktproblem verwandelt, ist am Ende doch nur die Fortsetzung der Marktgläubigkeit.