Wahlrechtsreform

Warum das Prinzip Mehrheitswahl keine Stabilität bringt

04:22 Minuten
Eine Illustration zeigt Menschen in Wahlkabinen mit zugezogenen Vorhängen, nur Beine und Füße sind zu sehen.
Wählen ist nicht gleich wählen: Alan Posener erklärt, warum er das Mehrheitswahlsytem nicht mehr favorisiert. © Unsplash / Morning Brew
Ein Einwurf Alan Posener · 07.09.2020
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Eine kleine Reform soll vorerst verhindern, dass der Bundestag immer größer wird. In der Debatte um den großen Wurf taucht immer wieder das System Mehrheitswahl auf. Publizist Alan Posener unterstützte diese Idee, hat aber seine Meinung geändert.
Der Bundestag ist zu groß. Über 700 Parlamentarier für ein mittelgroßes Land sind mindestens 100 zu viel. So sieht es auch das Gesetz. Und das Parlament wirkt nicht nur wegen der vielen Abgeordneten unübersichtlich. Sechs Parteien sitzen im Reichstagsgebäude: Kann es wirklich zu den wichtigen Fragen des Landes sechs verschiedene Meinungen geben?
Dabei kommen die gar nicht zur Geltung: Weil der Bundestag so zersplittert ist, und weil die Union nicht mit der AfD, die SPD – noch – nicht mit der Linkspartei koalieren will, werden wir seit Jahren von einer Großen Koalition regiert.
Die entscheidenden Fragen werden nicht mehr im Bundestag entschieden, sondern hinter verschlossenen Türen im Koalitionsausschuss.

Angelsächsische Politkultur als Vorbild

Wäre es nicht an der Zeit, durch eine Änderung des Wahlrechts für klare Verhältnisse zu sorgen? Das Mehrheitswahlrecht bietet sich an. Jeder Wahlkreis schickt eine Abgeordnete in den Bundestag. Punkt. Wer die meisten Stimmen auf sich vereinigt hat, vertritt den Wahlkreis. Die anderen Stimmen sind verloren.
Auf diese Weise dürften die kleinen Parteien aus dem Bundestag fliegen, und wir hätten zwei große Blöcke, Mitte-Rechts und Mitte-Links, die sich im Regieren ablösen. Stabile Verhältnisse. Wie in den angelsächsischen Ländern.
Ähm, ja. Ich gestehe, dass ich bis kurz vor Trump Anhänger des Mehrheitswahlrechts war. Doch "The Donald" hat mich eines Besseren belehrt. Aus der Partei Abraham Lincolns hat er einen Verein engstirniger Nationalisten und Rassisten gemacht, die vor einem halb dementen Narzissten auf dem Bauch liegen.

Boris Johnson kaperte die Tories

Und was ist bloß in meiner englischen Heimat los? Boris Johnson hat die Konservativen gekapert und sie zu einer Partei ohne Prinzipien gemacht, die zu jeder Laune dieses Clowns Ja und Amen sagt. Und bis vor Kurzem sah es bei Labour noch schlimmer aus. Unter Jeremy Corbyn gaben Linksradikale und Antisemiten den Ton an. Stabile Verhältnisse? I don’t think so.
Und, so ungern ich es sage: Das liegt eben auch am Mehrheitswahlrecht. Viel zu viele Wahlkreise sind über die Jahre zu sicheren Wahlkreisen geworden, in denen es faktisch eine Einparteienherrschaft gibt. Wenn sich aber die Kandidatin nicht mit einem ernsthaften Gegner von der anderen Partei auseinandersetzen muss, verlagert sich der eigentliche Kampf in die Parteigremien, die Kandidaten aufstellen.

Der Schwanz wedelt mit dem Hund

Und da Parteiaktivisten immer radikaler und enger denken als die normalen Wählerinnen, siegen immer häufiger Ideologen, die in der Partei gut ankommen, über Pragmatikerinnen, die so ticken wie die Wähler der Mitte, die selten mit dem Programm einer Partei in allen Punkten einverstanden sind.
Die Parteien radikalisieren sich. Innerparteiliche Gruppen wie die Tea-Party-Bewegung in der Republikanischen Partei oder Corbyns Momentum-Rollkommandos bei Labour bestimmen die Agenda. Der radikale Rand wird zum bestimmenden Zentrum. Der Schwanz wedelt mit dem Hund.
Bei unserem Verhältniswahlrecht läuft es anders. Die Parteien der Mitte outsourcen ihre radikalen Elemente und Querulanten in eigene Parteien. Die dürfen dann unter sich diskutieren, ob die regierungshungrigen Realos oder die prinzipienreitenden Fundis den Ton in der Partei angeben sollen.

Realo-Weg vs. radikale Positionen

Die Grünen sind den Realo-Weg gegangen. In der Linkspartei und seit Kurzem auch in der AfD wird noch gerungen. So lange die Linkspartei an ihren radikalen Positionen festhält, kann sie zwar eine linke Regierung verhindern, aber nicht der SPD ihr Programm aufdrücken.
Auf der anderen Seite kann die AfD, so lange sie völkisch-national bleibt, die Union mangels Alternative in eine Koalition mit den Grünen zwingen, kann sie aber nicht übernehmen und nach ihrem Bilde umformen. Stabile Verhältnisse.
Vielleicht ist ein aufgeblähter Bundestag der Preis, den wir dafür bezahlen. Es gibt Schlimmeres. Und wer gegen die ewige Große Koalition ist, sollte paradoxerweise für eine der Koalitionsparteien stimmen. Damit sie stark genug sind, auch mit einer der kleineren Parteien eine Mehrheit im Bundestag zu bilden. Oder eine starke Opposition. Aber darüber können wir uns in einem Jahr unterhalten.

Alan Posener, deutsch-britischer Journalist, wurde in London geboren und wuchs in Malaysia und Berlin auf. Er war zunächst Lehrer und machte sich als pointierter Kommentator und Blogger einen Namen. Heute ist er Korrespondent für Politik und Gesellschaft bei der "Welt"-Gruppe. Posener hat zahlreiche Bücher geschrieben, darunter "Imperium der Zukunft – Warum Europa Weltmacht werden muss" (Pantheon 2007) und "Benedikts Kreuzzug: Der Kampf des Vatikans gegen die moderne Gesellschaft" (Ullstein 2009)

Der Journalist Alan Posener im Porträt
© imago / Future Image /
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