Nebenstimme statt Stimmverlust
Sperrklauseln wie die Fünfprozenthürde bei der Bundestagswahl sollen der Parteienzersplitterung vorbeugen, können aber auch den Wählerwillen falsch abbilden. Was tun? Der Politologe Eckhard Jesse hat eine Idee.
Die Fünfprozentklausel fand im Wahlgesetz des Bundes und der Länder Aufnahme, um der Gefahr der Parteienzersplitterung vorzubeugen und die Regierungsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie zu erleichtern. Das ist sinnvoll. Dadurch fallen die Stimmen der Wähler für Parteien, die keine fünf Prozent erreicht haben, unter den Tisch. Das ist nicht sinnvoll. Schließlich ist der Wahlakt diejenige Form der politischen Partizipation, von der die Bürger am meisten Gebrauch machen. Ihr Votum soll sich ungefiltert widerspiegeln. Insofern schlagen Kritiker vor, die Hürde zu senken oder gar abzuschaffen.
Gibt es nun eine Möglichkeit, die die Vorteile der Fünfprozenthürde wahrt und die zugleich ihre Nachteile vermeidet?
Es gibt sie! Und zwar dadurch, dass jeder Wähler eine Nebenstimme erhält. Damit wählt man eine weitere Partei als zweite Präferenz. Sie kommt dann zur Geltung, wenn das Erst-Votum einer Partei galt, die keine fünf Prozent der Stimmen erreichte.
Diese Partei zieht nicht in das Parlament ein, aber deren Wähler werden durch die Existenz einer Nebenstimme, die nun auf die Partei der zweiten Präferenz fällt, von der politischen Willensbildung keineswegs ausgeschlossen. Das System, das einfach ist und den Stimmbürger nicht überfordert, weist im Vergleich zum jetzigen Modus weitere Vorteile auf.
Eine Nebenstimme für jeden Wähler
Erstens: Gegenwärtig schlägt sich der Einfluss jener Wähler, die für eine an der Fünfprozenthürde gescheiterten Partei votiert haben, auf die Zusammensetzung des Parlaments nicht nieder. Deren Stimmen kommen den ins Parlament gewählten Parteien entsprechend derer Größe zugute. Das fördert den Verdruss und ist ein Missstand. So entfielen bei der Bundestagswahl 2013 15,7 Prozent auf Parteien unterhalb der Fünfprozent-Grenze, so viel wie noch nie. Das Votum dieser Bürger floss nicht in das Ergebnis ein.
Zweitens: Der Wähler kann ohne taktisch-strategische Überlegungen bei der ihm sympathischsten Partei sein Kreuz machen. Er muss keine Angst haben, für den Papierkorb zu stimmen. Manch einer wählt jetzt eine kleine Partei deshalb nicht, weil er fürchtet, sein Votum ginge verloren. Oder er bleibt aus Resignation gleich zu Hause. Die abschreckende Wirkung der Klausel für die "Kleinen" entfiele. Sogenannte "Leihstimmen" würden der Vergangenheit angehören. Was wir 2013 im Wahlkampf erlebt haben, sollte sich keineswegs wiederholen.
Drittens: Eine Verfälschung des Wählerwillens kann nicht mehr auftreten. Gegenwärtig ist das anders: Bei der letzten Bundestagswahl scheiterten mit der FDP (4,8 Prozent) und der Alternative für Deutschland (4,7 Prozent) zwei nicht-linke Parteien knapp an der Fünfprozenthürde. So wurde aus einer linken Stimmenminderheit eine linke Mandatsmehrheit, die freilich ungenutzt blieb. Unter den Bedingungen der Existenz einer Nebenstimme wäre vermutlich eine absolute Mandatsmehrheit der Union zustande gekommen.
Wählen ohne Nebenwirkungen
Ist das System mit der Nebenstimme nun das "Ei des Kolumbus" oder "der Stein der Weisen"?
Solch großer Worte bedarf es nicht. Gewiss, am Wahlabend dauerte es länger, bis das Ergebnis feststünde. Zugegeben: Wer nicht nur die Haupt-, sondern auch die Nebenstimme einer Partei gibt, die an der Fünfprozenthürde scheitert, bliebe weiterhin einflusslos. Schließlich: Wer vermehrt Nebenstimmen von Wählern extremistischer Parteien erhält, könnte in Verruf geraten. Und eine politische Kraft, die dank der Nebenstimmen regiert, müsste sich vorwerfen lassen, sie sei eine "Partei der zweiten Wahl".
Aber das sind Petitessen. Immerhin würde durch diese Reform eine Vielzahl schädlicher Nebenwirkungen der Fünfprozentklausel vermieden, ohne deren Funktionsweise zu gefährden. Obwohl nur Parteien mit über fünf Prozent der Stimmen ins Parlament gelangen, fände prinzipiell jedes Votum Berücksichtigung. Schade, dass die Politik eine solche Reform – billig im Sinne von angemessen, keineswegs im Sinne von primitiv – nicht in Erwägung zieht.

Der Politologe Eckhard Jesse© privat
Eckhard Jesse, Jahrgang 1948, hat seit 1993 den Lehrstuhl "Politische Systeme, politische Institutionen" an der Technischen Universität Chemnitz inne. Er war von 2007 bis 2009 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft und ist seit 25 Jahren Herausgeber des "Jahrbuchs Extremismus & Demokratie".