"Zwei beeindruckende Persönlichkeiten"
Zwei starke Frauen entscheiden über Brasiliens Zukunft. Das Wettrennen um die Präsidentschaft zwischen Amtsinhaberin Rousseff und ihrer Herausforderin Silva bleibt spannend bis zuletzt, meint Brasilien-Expertin Tina Hennecken von der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Ute Welty: Morgen ist es soweit, morgen entscheiden 140 Millionen wahlberechtigte Brasilianer, welche Frau in Zukunft die Geschichte des Landes bestimmt. 140 Millionen, das sind mehr als doppelt so viele potenzielle Wähler wie in Deutschland, und da muss es auch nicht wundern, dass es doppelt so viele Kandidatinnen gibt für das Präsidentenamt. Amtsinhaberin Dilma Rousseff wird herausgefordert von Marina Silva. Und über beide Frauen möchte ich jetzt mit einer Frau sprechen, mit Tina Hennecken. Sie ist stellvertretende Büroleiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in São Paulo, und sie lebt seit drei Jahren in Brasilien. Ich grüße Sie!
Tina Hennecken: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Die Umfragen sehen Präsidentin Rousseff vorne. Es heißt sogar, Silva bräuchte ein mittleres Wunder, um es noch zu schaffen. Wie erleben Sie diese Endphase dieses Wahlkampfes?
Hennecken: Auf jeden Fall erleben wir die als ganz schön spannend. Sie haben gesagt, doppelt so viele Frauen wie in Deutschland – das ist für Brasilien auch eine absolute Sondersituation und war so wirklich nicht erwartet, zumal ja Marina Silva erst relativ spät in diesen Wahlkampf eingestiegen ist, nämlich nach dem Tod des eigentlichen Präsidentschaftskandidaten der sozialistischen Partei durch einen Flugzeugabsturz im August. Wir lehnen uns noch nicht zurück. Ich glaube, Dilma Rousseff kann sich auch noch nicht zurücklehnen.
Wir haben in den letzten Tagen sehr viele Fernsehduelle angeschaut, wo die Kandidaten gegeneinander angetreten sind und ihre Meinungen ausgetauscht haben. Ich glaube, Dilma kann, wie Sie erwähnt haben, jetzt mit um die 40 Prozent im ersten Wahlgang auf jeden Fall darauf hoffen, in den zweiten Turnus einzuziehen, aber gewonnen ist diese Wahl noch lange nicht.
Welty: Verträgt die brasilianische Politik überhaupt zwei so starke Frauen? Oder noch anders gefragt, verträgt Brasilien zwei so starke Frauen?
"Marina Silva hat sich hochgekämpft"
Hennecken: Ja, es ist auf jeden Fall eine neue Situation und hat sich auch jetzt in der Endphase in diesen politischen Duellen gezeigt, dass da andere Argumente plötzlich wichtig werden. Ich denke, die beiden Kandidatinnen haben den Wahlkampf auf jeden Fall bereichert oder haben auch die politische Landschaft bereichert. Und wir reden hier von zwei absolut beeindruckenden persönlichen und politischen Persönlichkeiten. Marina Silva wurde ja viel in den deutschen Medien auch porträtiert, ist, ähnlich wie Lula, aus schwersten sozialen Bedingungen aufgestiegen, hat sich hochgekämpft, hat sich wirtschaftlich als Hausmädchen unabhängig, später das Studium erworben und hat es bis in den Senat geschafft, wo Frauen in Brasilien absolut unterrepräsentiert sind, und wurde auch international als Umweltaktivistin bekannt.
Aber auch Dilma Rousseff, die vielleicht einen leichteren Start in diese politische Klasse hatte, weil sie aus der Mittelklasse kommt, ist eine sehr, sehr mutige Frau. Sie hat in den schwierigen Zeiten der Militärdiktatur entschieden, aus diesem relativ gesicherten Umfeld der Mittelklasse auszubrechen und für ihre sozialen und politischen Ideale den Kampf gegen die Militärdiktatur zu suchen, im Untergrund. Wurde gefangen genommen, wurde gefoltert und hat sich sehr, sehr stark im demokratischen Prozess von Brasilien engagiert, im Kampf gegen Ungleichheit und soziale Ungerechtigkeit. Wir haben also sehr authentische und überzeugende Biografien hier am Start.
Welty: Und wie reagieren die brasilianischen Männer darauf.
Hennecken: Ich denke, sie schauen das mit einer gewissen Art von Skepsis an. Aber als Dilma 2010 das erste Mal gewonnen hat, war das, glaube ich, ein größeres Thema. Inzwischen hat man sich schon etwas mehr daran gewöhnt. Als sie in den Planalto in Brasilia eingezogen war, gab es schon mal als erste Amtshandlung einen kleinen Konflikt, denn das brasilianische Wort für Präsident hat keine weibliche und männliche Form –
Welty: Hm. Blöd.
"Daran gewöhnt, dass Frauen in Machtpositionen mitzeden"
Hennecken: – und sie hat die generelle Radiosendung "Kaffee mit dem Präsidenten" erst mal zu "Kaffee mit der Präsidentin" gemacht. Das hat erst mal für Furore gesorgt. Aber ich glaube, inzwischen hat man sich daran gewöhnt, dass Frauen auch in solchen Machtpositionen einiges beizutragen und mitzureden haben.
Welty: Wobei Sie die Präsidentin ganz locker beim Vornamen nennen.
Hennecken: Das ist in Brasilien allgemein so üblich. Also auch die Kandidaten in den TV-Duellen sprechen sich mit Dilma und Marina an.
Welty: Rousseff ist trotzdem für ihre Politik scharf kritisiert worden. Das zeigte sich ja vor allen Dingen im Sommer letzten Jahres, als die Menschen gegen Korruption, soziale Missstände und auch gegen die Austragung der Fußballweltmeisterschaft protestiert haben. Inwieweit steht Silva für einen anderen Kurs?
Hennecken: Das ist eine sehr gute Frage. Silva und Eduardo Campos haben ja, sozusagen als Reaktion auch auf die Proteste im Juni letzten Jahres eine "neue Politik", wie sie sich ausgedrückt haben, vorgeschlagen, was in einer gewissen Weise den "dritten Weg", den wir aus den deutschen Verhältnissen kennen, ähnelt. Das heißt, sie sagen, sie möchten die Sozialpolitik aus der PT-Tradition beibehalten, möchten weiterhin Arbeitnehmerrechte stärken, aber auf der anderen Seite auch wirtschaftsliberale Reformen durchsetzen, um die stockende Wirtschaft anzuschieben.
Das hört sich jetzt erst mal ganz gut an. Aber ich glaube, die Umsetzung dieser Agenda, die hat eben ihre Tücken. Und das erklärt für mich persönlich auch das Abfallen von Marina Silva in den letzten Umfragen. Denn jetzt, in diesen Duellen, jetzt, wo die Journalisten praktisch wirklich den Kandidaten auf den Zahn fühlen und wissen wollen, was steht hinter den Politikvorschlägen, muss sie wirklich Substanz dahinter bringen und muss erklären, wie sie Politikvorschläge formulieren möchte, die gleichzeitig landlosen Bauern eine Einkommensgrundlage garantieren und dem Industriesektor der Agrarindustrie auf die Beine helfen und den stärken. Sie muss auch gucken, wie sie staatliche Sozialprogramme weiter finanzieren möchte, aber den Start reduzieren möchte. Oder generell, wie sie die Entwicklung anschieben möchte und Umwelt dabei schützen möchte. Das sind Konflikte, mit denen sich auch die PT auseinandersetzen muss und auch ihre Schwierigkeiten mit der Definition mitunter hat. Aber natürlich ist das Licht im Moment auf Marina, die in diesem "neuen Weg" ja genau das versprochen hat.
Welty: Brasilien wählt eine neue Präsidentin. Eindrücke aus der Endphase des Wahlkampfs in São Paulo von Tina Hennecken. Sie ist dort stellvertretende Büroleiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung. Ich danke fürs Gespräch!
Hennecken: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.