Wagner-Marathon nicht nur in Bayreuth

Von Jörn Florian Fuchs |
Bereits seit 1997 hat Bayreuth in Österreich Konkurrenz bekommen. Im beschaulichen Dörfchen Erl bei Kufstein erklingen im 10. Festivalsommer die Opern Richard Wagners. Bei der Gründung waren die Festspiele vor allem als Plattform für den Nachwuchs gedacht. Zum ersten Mal überhaupt werden in diesem Jahr die Wagner-Opern in der Reihenfolge ihres Entstehens gezeigt.
Solche Klänge ertönen jeden Sommer vom Grünen Hügel in Bayreuth. Seit ein paar Jahren hat die Wagner-Hochburg in der oberfränkischen Provinz aber heftige Konkurrenz bekommen. Auch im sehr beschaulichen Dörfchen Erl bei Kufstein erklingen die Stücke des urdeutschen Gesamtkunstwerkers.

Ein Name steht für den geballten Wagner-Wahnsinn in der Tiroler Provinz: Gustav Kuhn. Kuhn war einst Meisterschüler von Karajan und dirigierte die renommiertesten Orchester an den wichtigsten Opernhäusern, von Wien bis Japan und von Rom bis Tel Aviv. Irgendwann verlor Kuhn die Lust am saturierten Kunstbetrieb mit Starkult, Jetset und Jetlags.

Vor 20 Jahren stieg er aus und gründete im toskanischen Lucca eine Ausbildungsstätte für Sänger, Musiker und Regisseure, die Accademia di Montegral. Vor zehn Jahren kam Kuhn auf die Kuh und gründete die Tiroler Festspiele in Erl. Dort steht ein 1956 erbautes Passionsspielhaus, das sich weiß glänzend in die Berglandschaft einfügt und als Beispiel für gelungene organische Architektur gilt. Drumherum sind Äcker, Blumenwiesen – und Kühe. Erl war zunächst gedacht als Plattform für den Nachwuchs aus der Toskana, für den ersten Sprung ins kalte Bühnenwasser.

Als Erstes erarbeitete man dort Wagners "Walküre". Jedes Jahr folgte eine weitere Oper, als der "Ring des Nibelungen" komplett war und der Publikumszuspruch immens stieg, gab’s die Tetralogie an vier aufeinanderfolgenden Tagen.

Und weil diese Herausforderung offenbar immer noch nicht reichte, spielten Kuhns Orchesterrecken vor zwei Jahren den "Ring" in 24 Stunden, mit "Rheingold" am Vorabend und den drei Hauptstücken tatsächlich binnen eines Tages und einer Nacht. Nachmittags lernten sich Siegmund und Sieglinde kennen und lieben, zur Abendbrotzeit flohen sie vor dem Zorn Hundings, um zwei Uhr früh erlegte Siegfried den Drachen, wenige Stunden später hob sich der Vorhang zur finalen "Götterdämmerung". Allen Prognosen, allen Unkenrufen zum Trotz brillierten die Nachwuchsmusiker, niemand kippte um oder musste ersetzt werden. Und auch das Publikum hielt – weitgehend – durch.

Nach den Neuproduktionen von "Tristan" und "Parsifal" im letzten Jahr, heißt es heuer: ‚Wagners Ring hat sieben Teile’. Zum ersten Mal überhaupt werden die Opern in der Reihenfolge ihres Entstehens gezeigt, nach "Rheingold" und "Walküre" unterbricht den "Siegfried" eine orgelbegleitete Lesung der "Meistersinger". Dann folgt "Tristan", der Rest-"Siegfried", "Götterdämmerung" und – endlich – der erlösende "Parsifal".

Weil Gustav Kuhn mit den Tendenzen postmodernen Regietheaters wenig anfangen kann, inszeniert er sämtliche Opern lieber gleich selbst, entwirft die Raumdramaturgie und bestimmt das Licht. Da das Erler Passionsspielhaus keinen Graben hat, sitzt das Orchester auf der Bühne, davor ist ein Gazevorhang und davor spielt sich Wagners Weltendrama ab.

Mit immer neuen Lichtstimmungen im Orchestergraben, pardon, auf dem Orchesterpodium werden die jeweiligen Szenen ganz konkret – sozusagen – in die Musik hinein verlängert. Die Inszenierung setzt vor allem auf sehr genaue Personenführung und karges Mobiliar. Große, verschiebbare Formteile kommen zum Einsatz, Leitern, Stellwände. Aber es gibt auch werkgetreue Wohnungseinrichtungen: eine Schmiede für den garstigen Zwerg Mime, einen großbürgerlichen Salon für die böse Gibichungen-Familie oder ein riesiges Schiff für Tristan und Isolde.

Auch die Bevölkerung Erls wird integriert, die freiwillige Feuerwehr rückt bei Siegfrieds Tod an, beim "Parsifal" blühen nicht nur Blumenmädchen, sondern Erler Kinder streuen allerlei Florales auf den grünlich schimmernden Boden und sorgen für wundersame Verwandlungen.

Da das Gesamtbudget der Festspiele bei rund einer Million Euro liegt, wird von allen Beteiligten viel Goodwill gefordert. So gibt es für den gesamten Ring zum Beispiel nur eine Inspizientin, Anke Rauthmann wirkt nach den ersten vier Abendspielleitungen zwar etwas müde, ist aber dennoch gut gelaunt, wenn ihre Arbeitszeiten schildert:

" An den Tagen, an denen ich Vorstellung habe, sind das sicherlich zehn bis zwölf Stunden. Ich hab’ allerdings ab und zu auch mal einen freien Tag, der dann auch sehr sehr wichtig ist, wo man sich entspannt. Aber es sind schon sehr lange Tage. "

Dass die Sänger und Musiker nicht nur ihr Bestes geben, sondern manchmal bis an die Grenzen ihrer Kräfte gehen, sieht Vize-Intendant Andreas Leisner eher entspannt:

" Mit der Kondition ist das so eine Sache. Wir müssen natürlich aufpassen auf unsere Mitarbeiter, und die Mitarbeiter müssen auch auf sich selbst aufpassen. Wir haben Musiker, die täglich bis zu neun Stunden spielen, ohne zu murren. Jeder muss auch sagen, wo die Schmerzgrenze erreicht ist. Niemand wird hier schief angeschaut, wenn er mal sagt: "Ich kann nicht mehr!" "

Dass sich in Erl so gut wie niemand ersetzen lässt, liegt vermutlich am großen Zusammenhalt der Künstler untereinander, weniger an den mäßig üppigen Gagen.

Andreas Leisner: " Unsere Orchestermusiker sind, das wissen alle, nicht gut bezahlt. Aber sie haben Freude, sie finden, hier geht es nicht um Bürokratie, um Administration, sondern es geht einfach nur um die Sache selbst. Und dementsprechend spielt das Geld keine große Rolle. Wir zahlen vielleicht ein Viertel von dem, was man in einem anderen Orchester bekommt. Aber wir haben eine geringe Fluktuation unter den Musikern, das ist ja ein Argument, dass das für die, die mitmachen, auch sinnvoll ist. "

In den letzten Jahren hat Erl eine ganze Reihe großer Sänger hervorgebracht, die zum Teil Weltkarriere gemacht haben. Albert Dohmen etwa zählt momentan zu den gefragtesten Wagner-Sängern und ist ein echtes Erl-Gewächs. Auch Gertrud Ottenthal, die das Jahr über vor allem an der Wiener Volksoper und an der Komischen Oper Berlin singt, ist dem Tiroler Wagner-Spektakel seit langem verbunden. Für sie zählt nicht nur der Teamgeist zu den Pluspunkten, auch der Spielort selbst hat es ihr angetan:

" Erstmal ist dieser Platz besonders, find’ ich. Ich glaube, dass man Kirchen und so etwas nicht einfach irgendwo hinbaut, sondern ich glaube, hier ist was ganz Wunderbares in der Erde. "

Der besondere Kraftort zieht nicht nur ein zunehmend internationales Publikum an, sondern auch Musiker und Sänger aus vielen Ländern. Auch das gefällt Gertrud Ottenthal:

" Alle reden immer von Europa, alle einig und bla bla bla. Und hier sind in dem Orchester Musiker aus ganz Europa, die zusammen Musik machen, das ist, glaube ich, überhaupt das Beste, was man für Einigkeit tun kann. Und auch alle Sänger kommen von überall her, also die kommen auch aus Japan oder Korea, aber ich finde, dass das hier wirklich praktiziert wird, wovon alle ständig reden."

Im kommenden Jahr muss Wagner den traditionellen Passionsspielen weichen, für 2008 plant Gustav Kuhn dann die "Meistersinger von Nürnberg", wie immer in eigener Regie. Kuhn versteht das alle sechs Jahre stattfindende Volkstheater um Leiden und Sterben Jesu Christi keineswegs als lästige Konkurrenz und hat in seinem "Parsifal" sogar das Kreuz der Passionsspiele integriert, die Gralsglocken weihte der Erler Pfarrer.

Am Ende des ersten Wagner-Zyklus’ gab es dann noch ein Konzert, das direkt ins nächste Jahr verweist. Der österreichische Komponist Wolfram Wagner schreibt gerade eine neue Musik für die Passionsspiele, seine "Elegie für Oboe und Streichorchester" führt in eine feinfühlige Klangwelt ohne Riesen, Walküren oder Unterweltgelichter.