Wachstum ist kein Wert an sich

Von Reinhard Knodt |
Der "Aufbau Ost" ist gründlich misslungen. Diesen Schluss muss man jedenfalls aus einer Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung ziehen, die von Wolfgang Tiefensee in Auftrag gegeben wurde, und auch aus einer zweiten für die Landesregierung von Sachsen-Anhalt in Halle (*).
Pro Vierpersonenhaushalt Jahr für Jahr rund 20.000 Euro und das seit 20 Jahren, haben zwar äußerlich das Bild der neuen Bundesländer geschönt. Doch konnte das Geld offenbar nicht verhindern, dass aus den frisch renovierten Siedlungen und liebevoll rekonstruierten Innenstadtkernen der Ex-DDR in den letzten 20 Jahren 1,7 Millionen Menschen verschwanden. Viel Geld also, und wenig Wirkung.

Man kann nun die Augen verschließen und - wie die Verfasser der Studie aus Sachsen-Anhalt - behaupten, nach zehn weiteren Jahren Aufbau Ost werde das Wachstum schon noch die gewünschte Richtung nehmen. Man kann umgekehrt auch fordern, schleunigst die Leistungen einzustellen. Denn die brisante Erkenntnis beider Studien lautet, dass es offenbar "nicht förderbare" Regionen gibt. Tiefensee selber erschrak über die Ergebnisse derartig, dass er seine Studie schleunigst wieder aus dem Netz nehmen ließ und verkündete: "Kein Mensch soll aufgegeben werden, kein Dorf und keine Landschaft ..."

Doch sieht die Realität anders aus. Die Menschen geben ihre Dörfer längst selber auf, wobei die Bevölkerungsbewegung offenbar das Ergebnis makroökonomischer Strukturen ist, auf die man mit ein paar Fördermillionen keinen Einfluss gewinnt. Das krampfhafte Dagegenhalten führt ansonsten auch oft genug zu teils fragwürdigen Entwicklungen. Ein Beispiel: In Bergen auf der Ostseeinsel Rügen gibt es demnächst neben Sommerrodelbahn und Spaßbad auch noch einen neuen Affenpark. Selbst Schwäne aus Afrika hat man auf Rügen schon eingeflogen, nur um die Region profitabel zu machen.

Die Entwicklungspolitik der neuen Bundesländer hatte bisher ein einfaches Schema. Projekte wurden von oben angestoßen und trafen auf eine Bevölkerung, die im Wesentlichen reagierte und das eine oder andere Anschlussgeschäft betrieb. Jetzt sucht man, wie es heißt, nach initiativen Personen und Projekten aus den Regionen selbst. Auf Internet und Bus müsse in Schrumpfregionen natürlich niemand verzichten – aber es ist doch eine Art Hartz-IV-Regelung des Aufbau Ost sozusagen, die da im Kommen ist: eine Regelung, die Aktivität belohnt und bei Passivität die Leistungen kürzt.

Die neuen Bundesländer seien trotz aller Fördermaßnahmen nicht "headquarterfähig", heißt es in der Studie aus Sachsen-Anhalt. Großunternehmen, die eine Konzernzentrale planen, finden in Sachen Ausbildungsstand, Persönlichkeitsstruktur und Leistungsbereitschaft nicht das Umfeld, das sie suchen. Vielleicht sollte man sich fragen, wie es heute um die "Headquarterfähigkeit" bestellt wäre, hätte man im Osten vor zehn Jahren wesentlich mehr Geld für Ausbildung und Universitäten ausgegeben und weniger für die Ansiedlung von Autosalons und Gewerbeparks ... - Und schließlich sollte man sich auch eingestehen: Es gibt, bedingt durch strukturellen Wandel, tatsächlich Regionen des Niedergangs, der Entvölkerung und der wachsenden Einsamkeit. Diesen Wandel kann man politisch begleiten und Defizite mildern, wenig aber spricht dafür, hier mit Fördermillionen künstliche Betriebsamkeit zu erzwingen.

"Entwicklung" einer Region kann wirtschaftlichen Aufstieg bedeuten. Doch kann sich an der einen oder anderen Stelle auch etwas ganz anderes "entwickeln". Beschaulichkeit etwa, Ruhe, unverbaute Landschaft und Formen einer Kultur, die nichts mit ständiger Betriebsamkeit und dem sogenannten wirtschaftlichen Durchschnittsniveau zu tun hat. Entscheidend dafür ist, dass man die Regionen nicht über einen Kamm schert, dass man es den Menschen vor Ort überlässt, darüber zu befinden, ab wann sich eine Buslinie lohnt, eine Schule, ein Kindergarten oder ein Krankenhaus, und wie es geführt wird. Niemand ist gegen regionale Ausgleichszahlungen, doch sollte die Autarkie einer Region der Orientierungswert sein und nicht wirtschaftliche Durchschnittszahlen.

Und was die Autarkie betrifft, da mag dann wieder Tiefensees solidarisches Wort gelten: "Kein Mensch soll aufgegeben werden, kein Dorf und keine Landschaft."

(*) In dieser Passage weicht der Text von der gesendeten Fassung ab.


Reinhard Knodt, geboren 1951 in Dinkelsbühl, Musikausbildung, Studium der Philosophie (Gadamer, Kaulbach, Riedel) in Heidelberg, Erlangen und Trinity College Dublin; viele Universitätsengagements in Europa und den USA (Collège International Paris, New School New York, Penn-State-University, KH Kassel, HDK Berlin u.a.). Herausgeber der "Nürnberger Blätter", Rundfunkautor, freischaffend seit 1992. Begründung der Nürnberger Autorengespräche zusammen mit Peter Horst Neumann. Reinhard Knodt, der mehrere Preise erhielt, verfasste Essays, Kritiken (Architektur, bildende Kunst) und Vorträge sowie über 50 Hörspiele, Hörbilder und Stundensendungen und Aufsätze, Kurzgeschichten, Essays und Kritiken. Reinhard Knodt lehrt seit 2005 an der UDK Berlin Kunstphilosophie. 2007 erhielt er von der bayerischen Akademie der Künste den Friedrich-Baur-Preis für Literatur zugesprochen.