Wache Reflexionen aus der Provinz

Rezensiert von Rainer Moritz · 16.03.2006
Genaue Beobachtungen von Land und Leuten wechseln mit galligen Kommentierungen des Zeitgeschehens. Kempowskis Reflexionen aus seinem schleswig-holsteinischen Provinzrefugium scheuen kein Thema.
Vor gut einem Jahr gelang es Walter Kempowski, sein einzigartiges "Echolot"-Projekt abzuschließen, und spätestens dieses Ereignis war für viele, die Kempowski jahrelang als gemütlichen Unterhaltungsschriftsteller abtaten, Anlass genug, ihre oftmals ideologisch geprägten (Vor-)Urteile zu überdenken. Kempowski – das zeigt sich immer deutlicher – ist nicht nur ein exquisiter Arrangeur historischer Dokumente, dessen Aufklärertum wohl erst in Zukunft angemessen gewürdigt werden wird, sondern auch ein Romancier (die "Deutsche Chronik" oder "Hundstage" zum Beispiel) und Tagebuchschreiber erster Güte.

"Hamit" (wie man im Erzgebirge für "Heimat" sagt) heißt sein neues Tagebuch, das an die Bände "Sirius" und "Alkor" anschließt. Es umfasst die mitunter nachträglich ergänzten Aufzeichnungen von 1990 – eines für Deutschland wie für Walter Kempowski schicksalsträchtigen Jahres. Denn die Wiedervereinigung erlaubte es ihm, endlich seine Heimatstadt Rostock wieder zu besuchen, und nach Bautzen zu fahren, wo er in den 1950er Jahren lange Zeit inhaftiert war.

Das Tagebuch hält diese Eindrücke auf typische Kempowski’sche Weise fest: Genaue Beobachtungen von Land und Leuten wechseln mit galligen Kommentierungen des Zeitgeschehens und seiner Repräsentanten. Die Reflexionen aus seinem Provinzrefugium im schleswig-holsteinischen Nartum scheuen kein Thema: Mal gelten sie DDR-Zahnputzbechern, deren Giftanteil erörtert wird, mal den unsäglichen Plagiatsvorwürfen, die der "stern" ihm seinerzeit machte, mal den lieben Kollegen, denen – wie Horst Bienek – schon einmal bescheinigt wird, "etwas dünn im Ganzen" zu sein. Und nicht zuletzt kreisen Kempowskis zwischen Selbstmitleid und Selbstbewusstsein schwankenden Betrachtungen um das leibliche Wohl: Spiegeleier erscheinen ihm oft als "einzige Rettung", und Chicorée wird erbarmungslos als "Irrtum" der Natur verdammt.

Walter Kempowskis Tagebuch ist ein ungemein witziger Steinbruch scheinbar nebensächlicher Anmerkungen zu Gott und der Welt. Hier registriert ein überwacher Zeitgenosse fast alles, was ihm zugetragen wird, und diese Offenheit bringt es mit sich, dass Banalitäten und Kuriositäten ("Autobahnen ohne Leitplanken: angenehm, wohltuend für das Auge") genauso scharf wie die Weltpolitik und die eigene Arbeit (an "Sirius" und am "Echolot") beäugt werden.

Und dennoch ist dieses Tagebuch nicht das Zeugnis eines kauzigen Autors, der sich mit dem Zeitgeist nicht gemein macht. Immer wieder verrät es, wie Kempowski unter dem "Luftabschneiden aus außerliterarischen Gründen" litt und wie wichtig es ihm gewesen wäre "dazuzugehören". Ohne Umschweife notiert er das fehlende "Faszinosum" seines Auftretens und fühlt sich unentwegt übergangen und zurückgesetzt, selbst im Speisewagen:

"Immer diese Ängste, dass ich nicht bedient werde. Wo ich mich zeige, liegt Mobbing in der Luft."

Diese Schwankungen des Selbstwertgefühls geben "Hamit" eine beeindruckende existenzielle Tiefe. Und – wie nicht anders zu erwarten – erweist sich auch die sehnsuchtsvolle Hoffnung, 1990 im geliebten Rostock und damit bei sich selbst anzukommen, als Täuschung. Dementsprechend schließt Kempowski:

"Heimat können wir abhaken. Geblieben ist das Heimweh."

Walter Kempowski: Hamit - Tagebuch 1990
Albrecht Knaus Verlag,
München 2006
430 Seiten