Waajeed: "From The Dirt"

"Detroit ist der Bodensatz der USA"

In der Innenstadt von Detroit gehen bei Schneefall Personen an einem Graffiti vorbei.
"Der Dreck, der Schmutz symbolisiert Detroit", sagt Waajeed. © dpa / picture alliance / Uli Deck
Waajeed im Gespräch mit Julian Weber · 05.12.2018
Der amerikanische Electronic-Produzent Waajeed legt mit "From the Dirt" sein Debütalbum vor und das huldigt Gospel, Funk und vor allem seiner Heimatstadt Detroit: "Der Alltag in Detroit ist geprägt von schwarzer Kultur, von Musik, von Soulfood", sagt Waajeed.
Julian Weber hat Waajeed getroffen, mit ihm über den Dreck von Detroit gesprochen, über den Do-it-yourself-Gedanken des Punk, die Lehren des Gospelgottesdienstes und über House als Nachfolger von Soulmusik.
Julian Weber: Vor Kurzem habe ich Detroit erstmals besucht. Ich wusste schon vom Status der Stadt als black city, was das aber wirklich bedeutet, habe ich erst vor Ort begriffen: Überall sind von Schwarzen geführte Geschäfte, es gibt ein florierendes Kulturleben und die schwarze Geschichte ist lebendig. Beispielsweise am Ufer des Detroit River, wo ein Denkmal für die Fluchthilfeorganisation Underground Railroad steht. Wie empfinden Sie Ihre Heimatstadt?
Waajeed: Ja, Detroit ist definitiv schwarz. Wir fühlen schwarz, wir denken schwarz, wir riechen schwarz. Der Alltag in Detroit ist geprägt von schwarzer Kultur, von Musik, von Soulfood. Vor kurzem habe ich einen Track veröffentlicht, er heißt "Detroit is black" und es geht darin um die Geschichte und die Gegenwart der Stadt. Detroit war einst Verkehrsknotenpunkt der Underground Railroad. Aktivisten wie Harriett Tubman haben in der Zeit um den Bürgerkrieg, 1861 bis 65, geflüchtete Sklaven und Schwarze aus dem Süden in die Freiheit geschleust und sie von Detroit aus über den Fluss rüber nach Kanada in Sicherheit gebracht.
In Downtown steht auch eine Skulptur der geballten Faust des afroamerikanischen Boxidols Joe Louis. Sie erinnert uns daran, was er in seinem Kampf gegen Rassismus durchgemacht hat. Sein Kampf geht für uns heute weiter. Egal wer aktuell als Bürgermeister amtiert, für uns Schwarze wird Coleman Young Vorbild bleiben, er regierte die Stadt als erster afroamerikanischer Bürgermeister von 1974 bis 1994. Und er symbolisiert den ultimativen schwarzen Widerstandswillen.

Klassenkampf und Arschkampf

Julian Weber: In die Amtszeit von Coleman Young fiel der Niedergang Detroits als Industriestadt. Die Autofabriken mussten teils schließen, die Stadt ging pleite. Young hatte dazu ein geflügeltes Wort: "Bei uns spielen class war und ass war die Hauptrollen." Vom Klassenkampf haben wir schon mal gehört, aber was bedeutet Arschkampf?
Waajeed: (lacht) Das hat mit der brutalen ökonomischen und sozialen Gewalt zu tun, mit der sich der Niedergang Detroits vollzog. Young hat sich trotz allem die Zwangsverwaltung durch die Bundesbehörden verbeten. Und die Lösung für uns sind seit jenen Tagen diese drei einfachen Worte: Do it yourself! Wir sind auf uns allein gestellt.
Verlassene Häuser in Detroit.
Verlassene Häuser in Detroit.© Deutschlandradio / Sabrina Fritz
Julian Weber: Ihr Kollege Mr. Fingers aus Chicago hat konstatiert, durch House sei es möglich geworden, Pop direkt in den Neighborhoods, in den schwarzen Wohnvierteln zu produzieren, denn es braucht nicht viel Equipment, einen Computer, ein Mischpult, einen Synthesizer. House ist Do-it-yourself-Musik. Gleichzeitig ist House eine moderne Form von Soulsound. Eigentlich müssten Houseproduzenten Popstars sein. Aber Sie und Ihre Kollegen aus Detroit und Chicago sind im Mainstream eher unbekannt. Woran liegt das?

"Der Spirit von Do it yourself ist ein Motor für uns Detroit"

Waajeed: Das kommt drauf an, welchen Maßstab man anlegt. Manche Leute wollen unbedingt berühmt werden, andere legen ihre Musik auf Nachhaltigkeit an und lassen sich nicht reinreden. Ich maße mir kein Urteil an, wer von beiden nun recht hat. Ich mag Hits, aber mindestens so gerne mag ich den Underground-House-Sound, dem ich persönlich näher bin.
Jedenfalls ist der Spirit von Do it yourself ein Motor für uns in Detroit, egal, ob es junge Leute oder alte Hasen sind, die auf diese Weise Musik produzieren. Wer in Detroit lebt, weiß, dass das eine Stadt ist, in der man sich nicht auf funktionierende Infrastruktur und staatliche Hilfe verlassen kann. Um vorwärts zu kommen, müssen wir die Dinge selbst in die Hand nehmen und verlassen uns dabei auf Freunde und Familie, aber auf sonst niemanden.
Diese Botschaft hat schon Motown Records in den Sechzigerjahren verkündet. Und House Labels wie "Planet E" oder "Underground Resistance" arbeiten heute ganz genauso. Do it yourself ist einst in der Punkszene entstanden, als Protest gegen die Majorlabels. Und diese Einstellung macht genauso viel Sinn heute im schwarzen Detroit, weil wir so unkompliziert Platten veröffentlichen können.
Julian Weber: Mit Ihrem Alias Churchboy Lou machen Sie eine Form von Gospelmusik und kehren zurück zu den Wurzeln von populärer Musik in den USA: Wie hat man sich Gospel heutzutage vorzustellen und was ist seine Bedeutung in Detroit?

"Wir nahmen Zitronen und machten Limonade daraus"

Waajeed: Gospelmusik ist im ganzen Land bedeutsam, nicht nur in Detroit. Als unsere Vorfahren in Afrika versklavt wurden und in die USA verschleppt wurden, mussten sie ihre Lebensweise hinter sich lassen. Neben all dem Grauen klaffte also auch noch eine riesige Lücke nach der Ankunft in der neuen Welt. Und diese Lücke wurde dann durch christliche Religion ausgefüllt Es war allerdings nicht freiwillig, die Sklavenbesitzer haben ihren Sklaven einfach den eigenen Glauben aufgebürdet. Dabei ging es auch um Kontrolle.
Aber wir Schwarzen haben uns in der Auslegung der Religion Freiräume geschaffen, wir nahmen Zitronen und machten Limonade daraus. Ich bin mit einer baptistischen Version des Gospel aufgewachsen. Ich habe unzählige Samstage und Sonntage in der ersten Bankreihe der Kirche verbracht und den Gospel erhalten. Und ich habe in der Gemeinde einige der besten und coolsten Musiker kennengelernt, die ich je gehört habe. Fast alles, was ich musikalisch gelernt habe, habe ich im Gospelgottesdienst gelernt.
Julian Weber: In Deutschland ist geistliche Musik in der Messe zumeist eine zähe Angelegenheit mit sakraler Orgelbegleitung. Wie klingt denn Gospel in Detroit?
Waajeed: Auf jeden Fall kommt die Musik nicht nur von der Orgel. Die Drums sind sehr wichtig, manchmal gibt es zusätzlich Percussion, manchmal singt auch ein Chor, dazu spielt ein Klavier oder ein Synthesizer. Es ist einfach ein Konzert für Gott am Sonntagvormittag. Man muss sich den Gottesdienst so vorstellen wie den Dancefloor eines Clubs in der Nacht zuvor, einfach übersetzt für den Sonntag, um dem Heiland Dank zu sagen.

"Der Dreck, der Schmutz symbolisiert Detroit"

Julian Weber: "From the Dirt" heißt Ihr Debütalbum unter dem Namen Waajeed und Sie veröffentlichen Ihr Werk auf Ihrem eigenen Label Dirt Tech Rec. Woher kommt der Dreck und wie macht er sich in Ihrer Musik bemerkbar?
Waajeed: Der Dreck, der Schmutz symbolisiert Detroit. Detroit ist der Bodensatz der USA, dort sammelt sich der Dreck von Menschen, die seit langem marginalisiert sind und die kämpfen müssen, damit sie überhaupt ein würdevolles Leben haben. Das meint der "Dirt" in meinem Albumtitel. Ich bin auch in dem Dreck entstanden. Niemand hat mir jemals etwas ermöglicht, ich musste mir alles erkämpfen. Das ist die Bedeutung von Dirt Tech Rec. Und der Funk spielt natürlich auch eine Rolle: Seht her, ich bin Funk Dirt Tech Rec. So klingt mein Sound, so ist meine Weltsicht. Das ist meine Gabe für die Welt.
Julian Weber: Ihr Land scheint seit dem Amtsantritt von Präsident Trump mehr denn je polarisiert. Wie empfinden Sie das Alltagsleben in den USA?
Waajeed: Wissen Sie was, ich sehe der Zukunft mit großem Optimismus entgegen, obwohl es sich momentan so anfühlt wie ein kalter Winter in Berlin. Wir erleben gerade eine Depression in den USA, es ist kalt und die Aussichten mögen düster erscheinen, also müssen wir uns dem anpassen. Aber der nächste Frühling kommt bestimmt. Diese Meinung teilen viele meiner Freunde, denn was wir momentan erleben, ist das Ende der White Supremacy. Eine Weltsicht, die über 400 Jahre gegolten hat, geht allmählich vorbei, und jetzt spukt und schreit das Monster noch ein letztes Mal, bevor es dann verendet.
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