W. Borodziej und M. Górny: "Der vergessene Weltkrieg"

Über den Umbruch vom alten ins neue Europa

Borodziejs und Gornys Buch widmet sich den großen Kriegen im Südosten Europas zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Borodziejs und Gornys Buch widmet sich den großen Kriegen im Südosten Europas zu Beginn des 20. Jahrhunderts © WBG Verlag / Hintergrund: Imago
Von Martin Sander · 17.12.2018
Die Autoren beleuchten die Umbrüche und Kriege zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Osten und Südosten Europas. In die Jahre vor den Ersten Weltkrieg fiel auf dem Balkan die Gründungsphase und die Konstituierung neuer Staaten und es begann die Verfolgung vieler Volksgruppen.
Ist der erste Weltkrieg wirklich die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts? Vor vier Jahrzehnten hat der US-amerikanische Diplomat und Historiker John F. Kennan dieses im Westen inzwischen geflügelte Wort in die Welt gesetzt. Für die meisten Bewohner Osteuropas klinge das aber wie ein bizarres Missverständnis. Für sie sei der Erste Weltkrieg vielmehr Vorgeschichte ohne Bezug zur Gegenwart. Es zähle nur die Gründung neuer Staaten 1918. Das behaupten die Warschauer Historiker Włodzimierz Borodziej und Maciej Górny.
Entsprechend erzählen Borodziej und Górny das Geschehen neu. Ihr Werk "Der vergessene Weltkrieg. Europas Osten 1912-1923" liegt nun in deutscher Übersetzung vor. Die Autoren schlagen eine neue Periodisierung vor: demnach beginnt der große Umbruch vom alten ins neue Europa mit den Balkankriegen 1912/13. Damals entstanden neue Staaten im Südosten Europas auf den Trümmern des Osmanischen Reichs. Das Ende dieses historischen Abschnitts markiert das Jahr 1923, als sich die Sowjetunion nach vielen militärischen Auseinandersetzungen als kommunistischer Staat etabliert hat.

Ein Jahrzehnt der Pogrome

Auf dem Balkan galt bereits 1912 das militärische Prinzip von 1914: Angriff um jeden Preis. In den Balkankriegen gab es Flüchtlingsströme ungeahnten Ausmaßes. Volksgruppen erklärte man zu Minderheiten. Das setzte sich im Ersten Weltkrieg fort, sowohl auf dem Balkan als auch in ganz Osteuropa. Ein Jahrzehnt der Pogrome gegen die jeweiligen Minderheiten nahm seinen Lauf.
Doch die Kriegslust, zumindest in den Gesellschaften Ost- und Südosteuropas, war bei weitem nicht so ausgeprägt, wie es uns viele Historiker glauben machen wollen. Borodziej und Górny zeigen das an verschiedenen Beispielen, von der massenhaften Kriegsdienstverweigerung im Zarenreich bis zu den pazifistischen Thesen des Warschauer Bankiers Jan (auch Johann oder Iwan) Bloch. Der hatte als einflussreicher Publizist schon seit der Jahrhundertwende vor der kriegerischen Selbstzerstörung Europas gewarnt.
Heute ist der Erste Weltkrieg samt Präludium und Nachspiel im östlichen Europa kaum Gegenstand kollektiver Erinnerung. Er steht im Schatten des großen Gedenkens an die Gründung neuer Staaten 1918: Polen, Tschechoslowakei, Litauen, Lettland, Estland.

Einschübe und Erinnerungsstücke lockern den Text auf

Borodziej und Górny erzählen detailreich, sie beleuchten die Rolle der Eisenbahn ebenso genau wie die machtpolitische Bedeutung von Uhrzeit und Kalender. Oder beschäftigen sich mit den "Grünen Kadern", Banden, die bis in die 20er Jahre raubend und mordend ihr Unwesen in verschiedenen Regionen Südost- und Osteuropas trieben. "Der vergessene Krieg" hat wissenschaftlichen Anspruch und richtet sich zugleich an ein breiteres Publikum. Ein bei aller Länge spannendes Buch ohne Schachtelsätze, dafür mit zahllosen Einschüben: Erinnerungstexte von Kriegsbeobachtern und -akteuren ebenso wie literarische Zeugnisse – vom Tschechen Jaroslav Hašek über den Kroaten Miroslav Krleža bis zum Russen Isaac Babel.
Gegen Ende lässt das Autorenpaar Borodziej und Górny den polnischen Dichter Konstanty Ildefons Gałczyński zu Worte kommen: Eine Friedenskonferenz sei ein lustiges Mittagsmahl nach einem Begräbnis. Man müsse nur darauf achten, den Leichnam nicht zu tief zu begraben. Er könne noch zu etwas nütze sein. Das klingt allemal aktuell.

Włodzimierz Borodziej, Maciej Górny: "Der vergessene Weltkrieg. Europas Osten 1912-1923"
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2018, Darmstadt 2018
2 Bände, 960 Seiten, 79,95 Euro

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