Vulkan der Geschichte

09.06.2011
Der serbische Autor Vladimir Pištalo genießt in seiner Heimat bereits Kultstatus. "Millenium in Belgrad" ist ein Roman über die serbische Hauptstadt, über fünf Freunde und ihre Lebenswege seit Beginn des Zerfalls Jugoslawiens.
Im Jahre 1988 trauert Belgrad tagelang um Tito, "eine in den Herzen der Arbeiterklasse verwurzelte Eiche, deren Fall die Welt erschütterte". Nur eine kleine Clique junger Menschen kommentiert die Fernsehbilder sarkastisch: "Das Herz Belgrads ist derzeit eine Leiche". Fröstelnd ahnen sie das Ende einer Epoche. "Jetzt kommt die Pest", sagt Zora, die Intellektuelle unter ihnen. "Und von der bleiben nur Erzählungen. Wie im Decamerone."

Vladimir Pištalo, 1960 in Sarajewo geboren und heute zwischen den USA und Serbien pendelnd, erzählt in "Millennium in Belgrad" von fünf Freunden, deren Welt in den folgenden zwölf Jahren untergeht. Ihre Lebenswege entwickeln sich sehr verschieden: Zora wird an einem Tumor sterben, dessen Wachstum sie der Trauer über das Leid in Sarajewo zuschreibt; Bane emigriert nach einigen Monaten in der Jugoslawischen Armee in die USA; Boris scheffelt als Mafioso Reichtümer; die hübsche Irina wechselt die Männer und verkörpert auch sonst den herrschenden Opportunismus;

Milan Dordević, der Erzähler, wird Historiker, protestiert in Zeitungsartikeln gegen die Kriege und findet im Nato-Bombardement 1999 zu sich und zu seiner Heimat.

Pištalo erzählt von der Ära Milošević, um sie am Ende als wahnhafte Durchgangsstation zu verabschieden. Daher wird der Nationalist nach dem letzten römischen König vor der Ausrufung der Republik nur "Tarquinius Superbus" genannt.

Das Buch ist ohne die jugoslawische Postmoderne nicht denkbar. Die knapp 50 kurzen Kapitel wechseln zwischen deftiger Kolportage und zarter Pastorale, zwischen Traum und Mythos, Kosmologie und Identitätstheorie. Die offenen und verdeckten literarischen Anspielungen sind Legion.

Bemerkenswerterweise lässt das Tempo dieses Parforceritts die Figuren nicht plan geraten. Allerdings verliert Pištalo sie immer mal wieder aus den Augen, um mit ihren Eltern und Großeltern die jugoslawischen Konflikte zwischen Partisanen und Bürgern, Land und Stadt einzuholen.

Als Gesellschaftspanorama erlaubt "Millennium in Belgrad", 2009 im Original erschienen, seltene Einblicke in serbische Mentalitäten. Pištalos Erzähler macht niemanden verantwortlich für Kriege und Repressionen. Der Historiker erklärt vielmehr den Fernseher zum Faschisten und spricht vom "Vulkan der Geschichte". Allerdings muss sich Milan mit den Argumenten des Westens für das Nato-Bombardement 1999 auseinandersetzen, wenn er empörte Mails an den in die USA emigrierten Freund Bane schreibt.

Das versöhnliche Ende ist dem Verlangen nach einem Schlussstrich geschuldet: Milan Dordević läuft nicht wie zu Beginn weg vor dem erträumten, wunderbaren Belgrad, er bekennt sich zu der Stadt. Das ist eine unübersehbare Absage an Großserbien.

Besprochen von Jörg Plath

Vladimir Pištalo: Millennium in Belgrad
Roman, Aus dem Serbischen von Brigitte Döbert
edition balkan, Dittrich Verlag, Berlin 2011
268 Seiten, 16,80 Euro
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