Vorwurf: Lügenpresse

Manipulationsvorwürfe "nicht ganz unberechtigt"

Staars- und Regierungschefs vieler Länder kamen nach Paris, um der Toten der Anschläge zu Gedenken.
Manipulierte Bilder? Staats- und Regierungschefs beim Trauermarsch für die Terroropfer in Paris. © picture alliance / EPA / Julien Warnand
Dieter Kassel im Gespräch mit dem Medienwissenschaftler Lutz Hagen  · 15.01.2015
Den Vorwurf, die Medien hätten manipulierte Bilder von der Demonstration in Paris verbreitet, hält der Kommunikationswissenschaftler Lutz Hagen für "nicht völlig unberechtigt". Es sei zwar normal, dass Bilder inszeniert würden, sagt Hagen - die Medien hätten jedoch zumindest darauf hinweisen können.
Der Professor für Kommunikationswissenschaften an der Technischen Universität Dresden, Lutz Hagen, hält die Vorwürfe, die Medien hätten manipulierte Bilder von der Pariser Großdemonstration am Sonntag verbreitet, für "nicht völlig unberechtigt". Es sei zwar normal, dass Bilder inszeniert und symbolisch verwendet würden, sagte Hagen. Aber deshalb könne man trotzdem verlangen, "dass man darauf zumindest kurz hinweist".
"Die Schilderung der Welt ist nicht die Welt an sich", sagte Hagen. Journalisten müssten immer "Selektionen" treffen, für die es Kriterien gebe, die letztlich auch auf Werte verwiesen. Deshalb könne man es nie allen recht machen. "Aber es ist vielleicht auch ein bisschen übertrieben zu sagen: Leute, so ist es und nicht anders - weil es eben immer nur ein hochselektiver Bericht über die Welt ist und nicht die Welt an sich, die wir in den Medien sehen", sagte Hagen.
Nimbus des Journalistenberufs angekratzt
Die Politik- und Medienverdrossenheit ist nach Einschätzung des Wissenschaftlers ein wichtiger Teil der Protestbewegung Pegida - "wenn nicht gar wichtiger als die Angst vor der vermeintlichen Islamisierung". Das zeigten auch erste Befragungsdaten der TU Dresden. Der Nimbus des Journalistenberufes sei aber auch bei der Gesamtbevölkerung "angekratzt".
Die Manipulationsvorwürfe gegenüber den Medien entzündeten sich vor allem an Bildern vom Trauermarsch für die Opfer in Folge des Anschlags auf das Satire-Magazin "Charlie Hebdo" am 11. Januar 2015 in Paris. Kritisiert wird, dass sie den Eindruck erweckten, als marschierten die teilnehmenden Politiker wie Frankreichs Regierungschef François Hollande und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel an der Spitze des Demonstrationszugs. Tatsächlich seien sie jedoch in einem gesonderten, gesicherten Bereich marschiert, heißt es.

Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Kai Gniffke, der Chefredakteur von "ARD-aktuell" und damit oberster Verantwortlicher für "Tagesschau" und "Tagesthemen" ist eigentlich ein ganz besonnener Mann. Aber ihm ist richtig der Kragen geplatzt. Er ist ihm geplatzt, nachdem es Vorwürfe gab, auch die "Tagesschau" habe manipulierte Bilder von der Kundgebung am Sonntag in Paris gezeigt, habe etwas vorgetäuscht, was gar nicht so war, nämlich dass die Staats- und Regierungschefs vorneweg gegangen seien, unmittelbar vor den anderen Kundgebungsteilnehmern.
Und daraufhin hat Kai Gniffke ziemlich losgepoltert, ganz öffentlich im "Tagesschau"-Blog, und diese Anschuldigungen von sich gewiesen. Uns gegenüber, gegenüber Deutschlandradio Kultur, ist er bei seiner Meinung geblieben, aber nicht ganz bei seinem Ton!
O-Ton Kai Gniffke: Was mich wütend gemacht hat, ist die Tatsache, dass wir angegriffen werden für einen Sachverhalt, der sich sehr eindeutig darstellen lässt als vollkommen zutreffend, so wie er in der "Tagesschau" stattgefunden hat. Dass uns Manipulation vorgeworfen wird und dass es dann sogar Menschen gibt, die das tatsächlich mit dem Ausdruck Lügenpresse in Verbindung bringen - das hat mich auf die Palme gebracht, dem habe ich Luft gemacht. Ich hätte es ein bisschen moderater tun sollen.
Kassel: So weit der "Tagesschau"- und "Tagesthemen"-Chef Kai Gniffke gegenüber Deutschlandradio Kultur. Man merkt es ihm da jetzt immer noch, finde ich, vor allen Dingen aber bei seinem Blog-Eintrag war das so, man merkt es ihm an: Die ewigen Vorwürfe, auch seine Redaktion sei Teil der Lügenpresse, gehen nicht spurlos an ihm und seinen Kollegen vorbei. Wir wollen darüber jetzt reden mit Lutz Hagen. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Kommunikationswissenschaft an der Technischen Universität Dresden. Professor Hagen, guten Morgen!
Lutz M. Hagen: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Können Sie die Wut von Kai Gniffke nachvollziehen?
Hagen: Ja, nachvollziehen kann ich das schon, das ist ja nicht das erste und das einzige Mal, dass die "Tagesschau" oder die ARD oder die Öffentlich-Rechtlichen kritisiert werden oder die Medien insgesamt. Das ist ja eine Entwicklung, die in dem Stichwort "Lügenpresse" auch sich zeigt, was besonders hier in Dresden ja von Teilen der Bevölkerung als Schlagwort popularisiert worden ist. Und man muss auch sehen, dass mit dem Internet, mit den sozialen Netzwerken eine zweite mediale Öffentlichkeit entstanden ist, wo sehr viel stärker diskutiert wird als früher die Qualität der Berichterstattung, der herkömmlichen Medien ...
Und wie gesagt, da haben die Kollegen der "Tagesschau" sicherlich schon etliche andere Kritik abbekommen. Wir erinnern uns zum Beispiel auch an das Bild von Wladimir Putin beim Gipfeltreffen in Australien, wo er vermeintlich oder auch wirklich allein am Tisch saß.
Es gibt sicherlich schlimmere Verfehlungen
Kassel: Das klingt jetzt für mich so, als ob Sie zwar die Wut menschlich nachvollziehen können, aber nicht unbedingt das Argument, diese Vorwürfe seien völlig unberechtigt?
Hagen: So ist es. Also, völlig unberechtigt sind sie nicht. Wir können uns da natürlich über die Wichtigkeit unterhalten und sagen, da gibt es sicherlich schlimmere Verfehlungen, das war keine Lüge. Es ist ja auch so, dass in anderen Teilen des Ersten das thematisiert worden ist, aber wohl speziell nicht in dieser Nachrichtensendung. Es ist normal, dass Bilder symbolisch verwendet werden, dass Bilder inszeniert werden. Es ist leider heutzutage auch so, dass diejenigen, die inszenieren, die PR treiben, häufig mehr Mittel zur Verfügung haben als der Journalismus. Aber deshalb kann man trotzdem verlangen, dass es im Zuge der Forderung nach Transparenz ist - das ist ja ein wichtiges Qualitätskriterium des Journalismus - dass man darauf zumindest kurz hinweist.
Kassel: Das heißt, die zunehmende Kritik, wenn auch oft sehr pauschale Kritik an den Medien könnte auch etwas Gutes bewirken?
Hagen: Natürlich. Kritik ist ja eigentlich immer was Gutes, wenn sie sachlich vorgetragen wird. Und ich denke, sie bewirkt ja auch was Gutes. Aber es ist halt schwer in Zeiten der Printmedienkrise, oder wir könnten es eigentlich eine allgemeine Krise der Medienfinanzierung auch nennen, immer diese Kritik auch, ich sage mal, ins Positive zu wenden und tatsächlich zu einer Qualitätsverbesserung führen zu lassen.
Kassel: Ich kann mich erinnern an frühere Zeiten – und früher heißt jetzt: vor einem halben Jahr oder so –, wenn ich da persönlich mit Kritik von Hörern zu tun hatte, da gab es oft Menschen, die wollten deshalb ins Radio. Die haben gesagt, es ist nicht so, wie ihr das darstellt, und ich möchte das klarstellen im Radio. Die Pegida-Anhänger, die ja oft mit diesem Begriff Lügenpresse hantieren, die wollen das ja nicht. Die wollen ja eigentlich mit den sogenannten – wie sie sie nennen – Systemmedien nicht kommunizieren. Wie kann man denn damit umgehen?
Hagen: Ja, das ist natürlich ein bisschen schizophren. Denn natürlich kommunizieren sie mit den Systemmedien und sie inszenieren sich ja prächtig. Sie sprechen ja jede Menge Nachrichtenfaktoren an. Und gerade dadurch, dass sie sich ein bisschen mysteriös geben, erwecken sie natürlich jede Menge Aufmerksamkeit bei den Medien.
Kassel: Ist denn diese Unzufriedenheit mit den Medien wirklich ein wichtiger Teil dieser Protestbewegung?
Hagen: Ja, ich glaube schon. Also, es gibt ja inzwischen auch erste Befragungsdaten auch hier von der Technischen Universität Dresden und die zeigen, dass die Politik- und die Medienverdrossenheit mindestens ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger sind als die Angst vor der vermeintlichen Islamisierung, die ja im Namen getragen wird.
Und außerdem, kann man noch hinzufügen, gibt es ja auch verlässliche Befragungsdaten, die jetzt nicht ... die sich auf die Gesamtbevölkerung beziehen, wo wir auch feststellen können, dass zum Beispiel der Nimbus des journalistischen Berufs im Laufe der letzten Jahrzehnte doch ziemlich angekratzt worden ist und dass die Leute sehr viel kritischer den Medien gegenüberstehen, als das vielleicht vor 20 oder 30 Jahren der Fall war.
Die Schilderung der Welt ist nicht die Welt an sich
Kassel: Aber muss man da nicht unterscheiden zwischen berechtigter Medienkritik und dieser pauschalen Kritik, die auch nicht mit Kommunikationsbereitschaft verbunden ist? Ich habe bei einigen Menschen oft das Gefühl, die regen sich eigentlich darüber auf, dass die Medien die Welt so schildern, wie sie ist, und nicht so, wie sie gerne hätten, dass sie ist.
Hagen: Also, die Welt so schildern, wie sie ist, das ist ein bisschen naiv, weil wir natürlich immer konstruieren müssen. Jeder, der eine Schilderung der Welt abgibt, schildert nicht die Welt. Die Schilderung der Welt ist nicht die Welt an sich. Und das ist natürlich schwierig, wenn Journalisten Selektionen zum Beispiel treffen müssen, dann gibt es unterschiedliche Kriterien, die letztlich auch auf Werte verweisen.
Und deshalb kann man es nie allen recht machen. Aber es ist vielleicht auch ein bisschen übertrieben zu sagen, Leute, so ist es und nicht anders, weil es eben immer nur ein hoch selektiver Bericht über die Welt und nicht die Welt an sich ist, die wir in den Medien sehen.
Kassel: Haben die traditionellen Medien einen Teil ihres Publikums schon endgültig verloren? Sie leben ja in Dresden und arbeiten da. Treffen Sie manchmal Menschen, wo Sie das Gefühl haben, die kriegen wir nicht mehr dazu, dass sie ihrer Zeitung und der "Tagesschau" noch glauben?
Die Medien sind wahnsinnig wichtig geworden
Hagen: Ach, das glaube ich eigentlich nicht. Sie haben eigentlich zwei unterschiedliche Fragen gestellt. Ob sie die noch nutzen, die traditionellen Medien, oder ob ...
Kassel: Oder ob sie ihnen noch glauben, das stimmt, ja.
Hagen: ... ob sie denen noch glauben. Also, ich glaube, diese Art von Medienkritik, die resultiert ja auch daraus, dass die Medien so wahnsinnig wichtig geworden sind in unserer Gesellschaft. Und indem man sich auf sie bezieht, sind sie ja weiterhin wichtig. Allerdings ist man ihnen sehr kritisch gegenüber eingestellt. Das mag hier natürlich auch zu tun haben mit den Erfahrungen mit einer ganz anderen Art von Presse, Staatspresse in der DDR. Aber ich glaube nicht, dass man jetzt befürchten muss, dass sich die Medien in Scharen.... - Entschuldigung, die Menschen in Scharen von den Medien abwenden, von den traditionellen.
Kassel: Fast ein Freudscher Versprecher, die Medien wenden sich in Scharen von den Leuten ab! Das wollen wir auch nicht hoffen! Lutz Hagen war das, er ist Medienwissenschaftler an der Technischen Universität in Dresden. Und mit ihm sprachen wir einerseits über den Fall "Tagesschau", der zu großer Aufregung auf beiden Seiten geführt hat, und über das Phänomen Medienkritik, berechtigte und unberechtigte. Herr Hagen, vielen Dank für das Gespräch!
Hagen: Ich danke Ihnen, Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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