Vorlesungen für Obdachlose in Bremen

Zwischen Kältebus und Straßen-Universität

Ein obdachloser Mann sitzt im Winter auf dem Vorplatz des Hauptbahnhofes in Bremen.
Ein obdachloser Mann sitzt im Winter auf dem Vorplatz des Hauptbahnhofes in Bremen. © dpa picture alliance/ Ingo Wagner
Von Almuth Knigge · 13.01.2017
In Bremen gibt es überdurchschnittlich viele Obdachlose. Überhaupt steht der Stadtstaat weit oben in der Statistik, die die Armuts-Gefährdung in deutschen Kommunen ausweist. Außergewöhnlich ist ein Bremer Projekt: ein "Bildungsprogramm für Menschen in schwierigen sozialen Lebenslagen".
Seit zwei Monaten hat Holger mittwochs um 17 Uhr einen festen Termin. Er besucht die Uni – zum ersten Mal in seinem mittlerweile 51-jährigem Leben hört er von Goethe, Habermas, Wirtschafts-und Finanzpolitik.
Cory Patterson, der Sozialarbeiter, begrüßt ihn herzlich. Er betreut die Studierenden – an der etwas anderen Uni – der Universität der Straße. Die Vorlesungen finden im Café Pagagei statt. Ein Treffpunkt für Wohnungslose beim Hauptbahnhof, zwischen Clubs und Kneipen, schräg gegenüber vom Finanzamt. Sauber, hell und – sehr bunt. Tagsüber bekommt man hier belegte Brötchen für 35 Cent.
Der Nächste kommt. Sven, der Maler, der arbeitslos und für den das Café Papagei seine zweite Heimat geworden ist.
Oben, im Seminarraum kämpft Michael Vogel den ewigen Kampf mit der Technik. Der Beamer zickt. Für seine Vorlesung "kein Geld ohne Schulden" hat er Charts vorbereitet – Internationale Finanzströme, Geldkreisläufe und so. An der Uni der Straße gibt es keine Bildung light. Der Wirtschaftsprofessor der Hochschule Bremerhaven hat sich wie zu jeder anderen Vorlesung auch gut vorbereitet. Es war ja auch seine Idee, diese Uni. Vor acht Jahren hat er in Bremen schon die Zeitung der Straße ins Leben gerufen.

"Der Mensch hört nie auf zu lernen"

Michael Vogel: "Der Gedanke ist, dass die Leute, vor allem, die die Zeitung verkaufen, dass deren Horizont, Lebenswelt, sehr, sehr, sehr eingeschränkt ist."
Normalerweise ist der Tag davon bestimmt zu überleben. Von einem Ort in der Stadt zum anderen laufen, dorthin, wo es Unterstützung gibt – und im Winter warm ist. Hier ist das anders.
"Und durch Veranstaltungen der Uni der Straße, die eigentlich deutlich über das herausragen, was unsere Verkäufer zum Beispiel tagtäglich erleben, wollen wir Erlebnisse erzeugen, die sie erinnern vielleicht an Interessen, die sie als Kinder hatten oder Dinge, die irgendwie verschüttet gegangen sind und die wir gemeinsam vielleicht wieder freischaufeln können."
Auf dem Tisch stehen zwei Bleche Kuchen, eine große Thermoskanne, bunte Servietten und Kaffeebecher. Es dauert aber lange, bis jemand sich bedient. Denn wegen Kaffee und Kuchen ist keiner gekommen. Auch Holger nicht.
Holger: "Ich weiß nicht, das man, was man versäumt hat, ein bisschen wieder nachzuholen, ne, weil - auch wenn es doof klingt, aber Uni der Straße... dass man wieder von sich aus sagen kann, ich will doch noch irgendwas lernen, weil der Mensch hört nie auf zu lernen, keiner kann sagen ich bin mit irgendwas fertig und kann alles."
Es ist noch Zeit für eine Zigarette. Und für seine Geschichte.
"Ich war verheiratet und habe 15 Jahre bei Mc Donald gearbeitet."
Dort musste er nicht lesen und schreiben – das kann er nicht. Holger ist groß und kräftig. Unter dem blauen T-Shirt sieht man die Muskeln. Die Tattoos an den Armen erzählen Geschichten von den letzten acht Jahren auf der Straße. Da ist er gelandet nach seiner Scheidung, 32.000 Euro Schulden, Privatinsolvenz. Das stand in der letzten Woche auf dem Stundenplan.

"Das gibt einem Selbstwertgefühl"

Holger: "Da war ein Richter von Bremerhaven hier, so ein Insolvenzrichter, das ist ja schon ne Adresse. Und der war so locker und menschlich - allein das - weil man schiebt solche Leute ja auch schnell in die Schublade, auch Professoren oder so, weil wenn man die auf der Straße sieht, so einer spricht doch nicht mit mir. Das sind aber genau Menschen wie du und ich und das gibt einem so ein bisschen wieder Selbstwertgefühl.
"Was man da auch sieht auf dem Diagramm - im unteren Diagramm ist die blaue Fläche viel größer als im oberen Diagramm - es ist die Frage - wer trägt denn eigentlich die Schuld - wer ist denn eigentlich der Hauptschuldennehmer - und das sind nicht die Privathaushalte die hellblau sind, sondern es sind die Unternehmen."
Die Vorlesung startet. Es geht um die Geschichte des Geldes, das Bankensystem, um Macht und Monopole, Gerechtigkeit, die Finanzkrise, aber auch Goethe und das Humboldtsche Bildungsideal spielen eine Rolle.
"Interessant ist das Gedankenexperiment, was wäre, wenn alle ihre Schulden zurückzahlen würden." / "Dann dürfte es nach der Theorie kein Geld mehr geben." / "Und keiner könnte mehr investieren." / "Genau, ja, ja."
Also stellen sie sich das mal vor - wir kriegen doch von Kindesbeinen an beigebracht, wenn man sich Geld leiht, dann muss man es wieder zurückzahlen, Schulden muss man bezahlen, wenn das jetzt alle ernst meinen und ihre Schulden bezahlen, dann gibt es kein Geld mehr und die gesamte Wirtschaft wäre mit einem Mal völlig platt.
Die Stunde ist schon längst um, aber die Männer diskutieren noch – über Grundeinkommen, eine Reform des Finanzsystems – Bildungshunger und Bildungsbackground
Michael Vogel: "Ich wünschte mir mit meinen Studis, das in diesem engagiertem Maße dort zu erleben. Studierende tendieren dazu, so etwas eher zur Kenntnis zu nehmen und zu fragen, ist das prüfungsrelevant - bei Ihnen ist das lebensrelevant, das ist der Unterschied."
Lebensrelevant ist auch die Arbeit der Johanniter. Überlebensrelevant für manche.
Mathias Kannenwischer und Olaf auf der Heide treffen sich mit ihren Kollegen abends um kurz vor 19 Uhr in der Einsatzzentrale der Johanniter in Bremen Arsten. Von Oktober bis April organisieren sie ehrenamtlich einen Kältebus vor dem Bremer Hauptbahnhof, der mehrmals in der Woche abends warmes Essen, heiße Getränke und Winterkleidung verteilt.
Matthias Kannenwischer: "Viel können wir auch nicht machen, wir sind da und hören ihnen auch zu und versuchen dann auch schon einige Tipps zu geben, aber letztendlich müssen sie das natürlich alleine machen."
Matthias Kannenwischer hat schon einen achtstündigen Arbeitstag hinter sich. Er fährt Demenzkranke für die Johanniter. Für den Kältebus arbeitet er ehrenamtlich. Olaf Auf der Heide ist ehemaliger Kommissar und ist in Rente.
"Er sagt jetzt, er ist müde, und man ist natürlich abends müde, wenn man da raus geht, und wenn man dann die Leute sieht, die kommen, die freuen sich, dann freut man sich auch. Und dann ist man auch nicht mehr müde, ja man nimmt in den Arm und das brauchen sie einfach auch. Ich hab drei, wenn sie mich sehen, dann kommen sie, und dann müssen sie einfach mal in den Arm genommen werden, und sagen "alles wird gut", auch wenn sie wissen, dass nicht alles gut wird. Aber im Prinzip ist es eigentlich ein ganz herzliches Miteinander da."
Innere und äußere Wärme geben sozusagen.
20 Liter heißes Wasser werden vorbereitet, drei große Kannen Kaffee, Kleidung, Schlafsäcke und mehrere Paletten mit Fertigsuppen werden eingepackt, die in Bremen am Hauptbahnhof sehnsüchtig erwartet werden. Auch Pit und sein Kumpel Raik sind Stammkunden beim Kältebus. Er braucht eine Winterjacke. Die hat das Team aber nicht.
"Ich hole Donnerstag Winterjacken, dann lege ich dir eine weg, aber ich weiß nicht wie viele das sind."

Leben auf der Platte

Verhungern muss in Bremen keiner. Unterstützung gibt es viel. Im Sommer gibt es Brunnen mit Trinkwasser für Obdachlose. Viele Vereine kümmern sich mit Kleidung, medizinischer Versorgung um die Menschen. Aber das Übernachten - das ist das Problem. Es gibt ein paar Dutzend Schlafplätze in Notunterkünften, lange nicht genug für alle.
"Das kostet den Steuerzahler pro Tag 78,63 Euro, jedes Hotel ist günstiger, für nicht mal zwölf Stunden, dann müssen Sie wieder raus in die Kälte."
Doch noch nicht einmal diese Plätze sind immer besetzt. Viele Obdachlose schlafen selbst im Winter lieber draußen. Pit hilft sich anders.
"Ja ich habe zwei Parzellen, und in die eine geht er heute Nacht rein und in die andere gehe ich rein - darf man zwar nicht, aber egal."
Mehr Sozialwohnungen müssten her. Ein Wohnungsbestand, der eigens für Wohnungslose reserviert ist, fordern Experten. In Finnland gibt es so etwas.
Mittlerweile ist es 21 Uhr.

Anna kommt aus Niederschlesien. Seit 33 Jahren lebt sie in Bremen. Sie zittert am ganzen Körper – und sieht wahrlich erbarmungswürdig aus.
"Für alleinstehende bedürftige Menschen gibt es nichts, keinen Halt. Ich habe ein ganz schlechtes Umfeld, ganz alleine."
Eine andere Frau stürmt auf sie zu.
"Anna, ich hab dich irgendwo verloren, ich musste ganz schnell zur Toilette und du warst noch nicht da, da bin ich ganz schnell gegangen."

Toiletten, in denen man geduldet wird, für die man nicht bezahlen muss, sind kostbar. Und werden immer rarer. Diese Adressen werden nicht geteilt.
Mittlerweile sind die Schlafsäcke alle verteilt, der Kaffee ist fast leer.
"Ja siehste, wir können auch bald einpacken." / "Was sagt der Tacho?" / "21.15 Uhr. Ich denke mal, dass jetzt keiner mehr kommt."
Es ist bitterkalt geworden.
Autorin: "Ich muss los."
"Och ist dir kalt? Herzzerreißende Geschichte, dann mach doch mal ne Nacht heute draußen, ich glaube das wird ganz lustig hahaha."
Pit, der mal eine Frau, zwei Kinder und ein Eigenheim hatte, wird zynisch. Denn eins ist klar. Sein Leben und das der anderen auf der Platte ist alles andere als lustig.
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