Vorlagen für ungeschriebene Schnitzler-Novellen

22.12.2006
Oscar A. H. Schmitz, Sohn aus gutem Hause, reist durch die Welt, lebt ein Jahr in Paris, verfasst eigene Texte und liebt vor allem die Frauen. Sein Tagebuch bietet darum aufschlussreiche Einblicke in die Erotik um 1900 – lauter Vorlagen für ungeschriebene Schnitzler-Novellen. Es zeigt authentisch einen Typ der Epoche des Fin de siècle.
"Das wilde Leben der Boheme" lautet der Titel des ersten Bandes der Tagebücher von Oscar A. H. Schmitz – einer auf drei Bände angelegten und mit einigem Aufwand betriebenen Edition. Das wirkt wie mitten hineingezielt in die aktuelle Renaissance des Begriffs. Denn soviel "Boheme" wie derzeit war lange nicht. In der Debatte um das akademische Prekariat und die "Generation Praktikum" ist das Schlagwort der "digitalen Boheme" – Laptopmenschen in angesagten Cafés, die auf ihrer Tastatur ungesicherten und meist wenig einträglichen Beschäftigungen nachgehen – fast schon unvermeidlich geworden.

Da wirkt ein Mann wie Schmitz, der einst allen Ange¬stellten¬verhältnissen schon mit Anfang Zwanzig beherzt Adé sagte, wie von der "Zentralen Intelligenz Agentur" erfunden. Was ihn freilich von den heutigen "Prekären" unterscheidet: Er war alles andere als ein mittelloser Schöngeist, kam vielmehr aus sehr reichem Unternehmer-Elternhaus und hatte dank seiner Herkunft sowohl fürs Leben ausgesorgt als auch Zugang zur "großen Welt". Sein Studium hat er nach drei zügig gescheiterten Anläufen zur Promotion (Jura, Ökonomie, Philosophie) abgebrochen, um sich ganz der Sphäre von Bildung und Geschmack hinzugeben.

Mit diesem Entschluss beginnen die Aufzeichnungen Ende 1896. Schmitz geht auf Reisen (Italien, England), lebt ein Jahr in Paris, verfasst Novellen, feuilletonistische Texte und Dramatisches und liebt vor allem viele Frauen. Er ist, wie es sich fürs Fin de siècle gehört, ein "Schwieriger" mit nervösem Innenleben, äußerlich stabilisiert durch gute Anzüge.

Während seine Gedanken über Literatur, Kunst und Religion sowie die gewichtig daherkommenden Kommentare zu den eigenen Werken, die heute niemand mehr kennt, den Leser nicht wirklich fesseln können, bietet das Buch sehr aufschlussreiche Einblicke in die Erotik um 1900 – lauter Vorlagen für ungeschriebene Schnitzler-Novellen.

Bei allem donjuanesken Appetit sehnt sich Schmitz allerdings beinahe verzweifelt nach Halt in einer soliden Partnerbindung; wiederholt versucht sich der Lebemann im Hafen der Ehe zu vertäuen. Zwei Ehen, die ausgiebig in diesem Band protokolliert werden, geraten zu Strindberg-Stücken: ewige Zänkerei, Zimmerschlachten, schwere Enttäuschungen. Die erfrischende Unverblümtheit, mit der Schmitz solche Fehlschläge schildert, machen den Reiz der Lektüre aus.

Schmitz ist kein Autor, der sich – Boheme hin, Boheme her – vorbehaltlos wiederentdecken lässt. Keiner, der über Epochen hinweg eine erstaunliche Nähe ermöglicht, wie etwa die Brief- und Tagebuchschreiber Alfred Kerr oder Victor Klemperer, um zwei sehr erfolgreiche Wieder¬entdeckungsprojekte zu nennen, an die der Aufbau-Verlag gerne noch einmal anschließen möchte. Der Zeitgeist klebt Schmitz vielmehr in dicken Placken an den eleganten Schuhen, und gerade darin mag seine Authentizität als Typ der Epoche begründet liegen. Sein Denken, sein Selbst¬gefühl und seine Aversionen werden bestimmt vom Künstler-Bürger-Gegensatz, dem Nietzsche die Wucht verliehen hatte. Schmitz lebt ihn nicht ohne aristokratische Allüre aus.

Der Schrecken ist ihm der Durchschnittsmensch in seiner Überzahl. "Wie mich die immer wachsende Demokratie anwidert. Heute ist Gratisvor¬stellung in allen Theatern. Die Comédie-Française mit ihrer vornehmen Tradition vom Pöbel erfüllt, der sich auf den Sammtfauteuils der Logen wälzt." Auch die Kanalküste bietet kein Refugium für Privilegierte mehr: "Diese von Touristen mit Fahrrädern überfüllten Hotels lassen mich nicht verweilen." Die Verachtung des "Gewöhnlichen", mit der sich Thomas Manns Künstlerfiguren gegen unfeine Zumutungen des Menschenlebens wappnen, ist ganz entschieden auch Schmitz’ Sache.

Er verfügt über eine scharfe Wahrnehmung und die Gabe, zu formulieren. Reiseeindrücke und Fraueneindrücke – das ist es, was dieses Tagebuch (übrigens sehr edel ausgestattet mit Fadenheftung, Leineneinband und zwei Lesebändchen) bisher vor allem zu bieten hat. Fast völlig ausgespart bleiben dagegen der politische Hintergrund, die wilhelminische Monarchie, die Weltlage um 1900. Es ist in diesem Sinn kein Epochenpanorama. Schmitz ist sich selbst Epoche genug. Auch die zahlreichen bedeutenden Zeitgenossen, mit denen er Umgang hatte und in deren Erwähnung die Verlagswerbung das kulturhistorische Gewicht des Tagebuchs verbürgt sieht, werden meist eben nur: erwähnt. Panoramawirkung bekommt das Buch erst durch den überaus gründlichen Anmerkungsapparat von Wolfgang Martynkewicz, der viele Kontexte erschließt.

Nach all den Affären in Frankreich, Italien und England stellt Schmitz fest: "Entwurzelt in Deutschland, nicht heimisch in Frankreich. Sexuell hin- und hergeworfen. Meine letzte Arbeit nicht anzubringen. Meine finanzielle Lage attackiert." Die nächsten Bände werden zeigen, ob es so haltlos weitergeht mit Oscar A.H. Schmitz.

Rezensiert von Wolfgang Schneider

Oscar A. H. Schmitz: Das wilde Leben der Boheme. Tagebücher. Band 1: 1896-1906. Herausgegeben von Wolfgang Martynkewicz. Aufbau Verlag, Berlin 2006. 529 S., 58,- Euro