Vordenker und Nachdenker

29.09.2010
Das Buch zählt zu den besonderen Rückblicken auf die Wendezeit. Der Vorsitzende der ostdeutschen Christdemokraten war während der Wiederver-einigungsphase sicherlich nicht die Marionette des übermächtigen Bonner Kanzlers Helmut Kohl.
"Wer vordenken will, muss nachdenken." Mit diesen Worten eröffnete Lothar de Maizière am 15. Dezember 1989 einen Sonderparteitag der Ost-CDU in Berlin. Das Treffen der Delegierten im Kino "Kosmos" war ein Versuch, die bisherige Blockpartei aus ihrer festen Umklammerung durch die SED zu lösen.

Lothar de Maizière forderte von seinen Parteifreunden eine deutliche Abkehr vom Sozialismus. Er plädierte für das Bekenntnis der Partei zur sozialen Marktwirtschaft und sprach sich für Rechtstaatlichkeit, Gewaltenteilung sowie die Wiedereinführung der alten Länderstruktur auf dem Gebiet der DDR aus. Schließlich verlangte er von den Delegierten ein klares Bekenntnis "zum Ziel der Herstellung der nationalen Einheit" im Rahmen einer europäischen Friedensordnung.

Zum Zeitpunkt des Parteitages war Lothar de Maizière gerade sechs Wochen lang neuer Vorsitzender der ostdeutschen Christdemokraten – seit dem 10. November 1989. Er sollte die Partei aus der selbst verantworteten politischen Erstarrung im SED-Staat herausführen – Auftakt einer großen, wenngleich recht kurzen politischen Karriere.

Zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit legt der "erste und letzte frei gewählte Ministerpräsident der DDR" nun seine Erinnerungen an seine Zeit in der Politik vor. Der Titel des Buches – "Ich will, dass meine Kinder nicht mehr lügen müssen" – bezieht sich auf ein Gespräch Lothar de Maizières mit dem Ostberliner Bischof Gottfried Forck im November 1989. De Maizière, damals auch Vizepräses der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, zögerte, ob er wirklich für den CDU-Vorsitz kandidieren solle und bat den Geistlichen um Rat.

Diese und viele andere Episoden des Buches zeigen, dass mit ihm kein machtbewusster Politik-Profi an die Spitze der sich rapide verändernden DDR getreten ist. Stattdessen ein besonnener, ehrlicher und bescheidener Mensch, der auch um seine inneren Grenzen wusste, etwa bei der Fähigkeit, auf große Menschenmengen zuzugehen. Anders gesprochen: Charisma.

Ungeachtet dessen ist Lothar de Maizières Erinnerungsbuch ein Versuch, den ohne Zweifel wichtigen Beitrag seiner Regierung wie auch der ostdeutschen CDU für die Wiedervereinigung hervorzuheben. Immer wieder galt Lothar de Maizière als Marionette des übermächtigen Bonner Kanzlers Helmut Kohl, als kleiner und schwacher Nachlassverwalter der DDR.

Seine Memoiren, geschrieben in einem unaufgeregten Ton, können dieses schroffe, oberflächliche Diktum glaubhaft widerlegen, etwa mit Blick auf die Demokratisierung des Rechtssystems in der DDR oder auf die gesetzlichen Vorlagen zur Vorbereitung der Währungsunion vom 1. Juli 1990. So erklärt Lothar de Maizière, mit dem Umtausch von Löhnen und Renten im Verhältnis von 1:1 sei eine wesentliche Vorlage seines Kabinetts erfüllt worden. Auch in außenpolitischer Dimension war die Regierung von Lothar de Maizière zuweilen fortschrittlicher als die Bonner Koalition, vor allem in der Frage der Unantastbarkeit der polnischen Westgrenze.

Gleichwohl vermisst man bei der Lektüre gelegentlich analytische Schärfe, etwa bei den Ausführungen zur Bedeutung der evangelischen Kirchen für die friedliche Revolution. Diese waren keineswegs in ihrer Gesamtheit eine Brutstätte für den Aufbruch in die Freiheit. So war die Formel von der "Kirche im Sozialismus" eine diplomatische Chimäre. Trotzdem gehört Lothar de Maizières Buch zu den besonderen Rückblicken zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit.

Besprochen von Niels Beintker

Lothar de Maizière: Ich will, dass meine Kinder nicht mehr lügen müssen. Meine Geschichte der deutschen Einheit,
Herder Verlag, Freiburg, 2010
340 Seiten, 19,95 Euro