Vordenker des modernen Staats

Rezensiert von Andreas Krause Landt |
Der Name Machiavellis steht gemeinhin für das Skandalon des politischen Realismus. Carl Schmitt hat es sein Gegenüber im "Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber" präzise formulieren lassen:
"Es ist zwar beruhigend, dass die Macht als eine objektive Größe stärker sein soll als alle Bosheit der Menschen, die Macht ausüben; aber es bleibt andererseits doch unbefriedigend, dass sie auch stärker sein soll als die Güte der Menschen. Das ist mir nicht positiv genug. Hoffentlich sind Sie kein Machiavellist."

Schmitt antwortet, selbst Machiavelli sei kein Machiavellist gewesen. Sonst würde er nämlich fromme und erbauliche Bücher geschrieben haben, um sich ins rechte Licht zu setzen, am besten einen Anti-Machiavell – ein Gedanke, der auf Voltaire zurückgeht. Schmitt will damit sagen: Man braucht die Macht, weil die Güte nicht reicht, um die Bosheit zu unterdrücken, und der, der solches sagt, spricht nicht böse, sondern realistisch; nicht zynisch, sondern skeptisch. Anders als der Machthaber muss der, der die Macht beschreibt, sie nicht beschönigen.

So gerüstet, könnte man sich Niccolò Machiavelli nähern. Der griechisch-deutsche Philosoph Panajotis Kondylis will ihn zunächst aus den Herausforderungen seiner Zeit verstehen; schließlich gibt es laut Kondylis im Fürst und in den Discorsi ...

"... eine gemeinsame Problemstellung: den Wiederaufbau eines verderbten Staatswesens." (S. 134) "... Machiavellis Fragestellung ... wird von zwei großen Ereignissen ... bestimmt: Erstens die Zerstörung der Autonomie Italiens durch fremde Mächte – infolgedessen denkt er über militärische Organisation und über die äußere Macht des Staates nach, zweitens die Regierungswechsel in Florenz, die zu unzähligen Debatten und Untersuchungen über die innere Organisation des Staates führten." (S. 112)

Die Renaissance, die Kondylis in Machiavellis unablässig bedrohtem Stadtstaat Florenz idealtypisch verkörpert sieht, schildert er als eine Frühzeit des technischen Politikverständnisses, aber auch des Patriotismus, als einen Prozess, der vom mittelalterlichen Feudalismus zum modernen Staat führt. Virtù, die Tatkraft, fortuna, das Schicksal, occasione, die günstige Gelegenheit, und necessità, die notwendige Maßnahme, weiter die zyklische Abfolge der Staatsformen, die Begründung der politischen Wissenschaft in der Trennung von Politik und Moral, der bürgerliche Humanismus und schließlich die Theologie und Metaphysik verdrängende Ratio – das sind alles die wesentlichen Elemente in Machiavellis praktischer und theoretischer Auseinandersetzung mit der Politik, deren Verhältnis Kondylis untersucht. Der Fürst, mehr kommissarischer Diktator als Feudalherr, tritt nicht als erhabene, von Gott legitimierte Herrschergestalt auf, sondern als machttechnisch begabter Retter einer Gesellschaft, deren Sitten durch Reichtum und langjährigen Frieden verfallen sind. Immer wieder geht es in Machiavellis Werk – und hier zitiert Kondylis Friedrich Meinecke – um ...

"... die Regeneration eines gesunkenen Volkes ... durch die virtù eines Zwingherren und die Hebelkraft aller von der necessità diktierten Mittel." (S. 138)

Kondylis, der bis zu seinem frühen Tod 1998 viele Jahre als Privatgelehrter in Heidelberg lebte, schrieb diesen Text als Einleitung zur ersten griechischen Machiavelli-Ausgabe. Trotz seiner großen, eher subkutan nachwirkenden theoriegeschichtlichen Studien über die Dialektik, die Aufklärung, den Konservativismus und schließlich der gewichtigen, nachgelassenen "Sozialontologie" ist Kondylis nach wie vor ein Geheimtipp. Er sagt nicht, woran man sich halten kann. Er betreibt Theoriegeschichte nicht als Geschichtsphilosophie des Fortschritts, er interessiert sich nicht für den Wahrheitswert unserer effektvollen Parolen und erhabenen Ziele. Mit unbestechlicher Kälte fragt sein deskriptiver Nihilismus, welche lebensstützenden Funktionen ein Weltbild oder eine Ideologie jeweils erfüllen. Auch Machiavelli war für Kondylis letztlich …

"... unbewusst der Vordenker einer Idee, die eine der wertvollsten Errungenschaften der jüngeren Sozialwissenschaften ist, dass nämlich die Ideologien Einfluss auf die Herausbildung des Verhaltens einer Gesellschaft haben und dass sie nach ihrer Funktion bewertet werden müssen und nicht danach, inwieweit sie 'wahr' sind." (S. 123) "... Machiavelli will den Bürger nicht durch Erkenntnis stärken (wie wir diese heute verstehen), sondern er will ... ihn zu einem nützlichen Mitglied des Staates machen." (S. 122)

Obwohl der damals 28-jährige Verfasser des Machiavelli-Buches – es war die Zeit der griechischen Militärdiktatur – Mitglied der Kommunistischen Partei war, ist auch der Klassenkampf für den theoretischen Materialisten Kondylis nicht das zentrale Movens der Geschichte, sondern höchstens eine unter vielen Varianten des immerwährenden politischen Kampfes um Selbst- und Machterhaltung. Der sezierende Blick, den Kondylis in seiner 1985 erschienenen Programmschrift "Macht und Entscheidung" zum "deskriptiven Dezisionismus" steigern sollte, ist im Machiavelli bereits angelegt. Der Argwohn, den er mit seiner beobachtenden Distanz auf sich zog, war der eines radikalen Entzauberers, der seinen Lesern keinen Halt bietet und kein Versprechen macht. "Aufklärer ohne Mission": so nennt der Philosoph Peter Furth diesen seinen Kollegen.

Im letzten, dem zugleich faszinierendsten Kapitel seines Buches, in dem er das historische Schicksal Machiavellis und des Machiavellismus als einen Extremfall der Wissenssoziologie entfaltet, kommt Kondylis zu dem Ergebnis, dass noch jedes Lager seine Gegner des Machiavellismus beschuldigt hat und somit alle zugleich Machiavellisten und Antimachiavellisten sind. Das reicht bis in die Gegenwart:

"Der bürgerliche Liberalismus in Europa stabilisiert sich im parlamentarischen System und bringt eine heuchlerische politische Moral hervor, die den 'Machiavellismus' heftig ablehnt, auch wenn die Vertreter des Parlamentarismus häufig und ausdrücklich die Notwendigkeit eines 'Mikromachiavellismus' im Stile Talleyrands anerkennen und sich dessen virtuoser Anwendung rühmen." (S. 156) "... Die Anklage des Täters wie auch des Opfers sind beide gleichweit von der wissenschaftlichen Wahrheit über Machiavelli entfernt." (S. 158)

Als Studie über die frühe Bürgerlichkeit ist der "Machiavelli" schließlich das Gegenstück zu Kondylis’ Buch über den "Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform" von 1991, das wie kein anderes den Übergang von der liberalen Moderne zur massendemokratischen Postmoderne kategoriell erhellt. Der Privatgelehrte Günter Maschke meint, durch Machiavellis Schriften sei die Bahn frei geworden für politischen Realismus. Kondylis’ tapferes "Erkenne die Lage!" habe aber geringe Chancen in der heutigen Politikwissenschaft, deren humanitäre Versprechen meistens dazu dienen, das Erkennen der Lage zu verhindern.

Panajotis Kondylis: Machiavelli
Aus dem Griechischen von Gab Wurster
Mit einer Vorrede von Günter Maschke
Akademie Verlag, Berlin 2007