Vordenker der Toleranz

Von Volkhard App |
Gedanken zur Globalisierung, ein vereintes Europa, ein Fitnessprogramm für das Gemeinwesen – der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz war seiner Zeit weit voraus. Wie weit Leibniz‘ Gedankenwelt auch auf die heutige Zeit übertragbar ist, wird zurzeit auf dem VIII. Internationalen Leibniz-Kongress in Hannover diskutiert.
Wie bitte? Gottfried Wilhelm Leibniz – unser Zeitgenosse? Aber die politischen Signale zur Eröffnung waren unüberhörbar: bevor dieser Kongress hochspezialisiert den Spuren des Universalgelehrten folgt, sich hier mit seinen mathematischen Formeln beschäftigt und dort mit Problemen seiner Theologie, schlug man den Bogen in die Gegenwart.

Vor allem der Krieg im Nahen Osten beunruhigt uns derzeit. „Ob Leibniz hier für Klarheit sorgen kann?“, fragte Rolf Wernstedt, Präsident der Leibniz-Gesellschaft. Zumindest die ethischen Vorstellungen von Leibniz, wie Gegner miteinander umgehen sollten, könnten beispielhaft für unsere Zeit sein:

„Diese Ethik besteht darin, den Anderen nicht als Feind zu sehen, den man vernichten muss und der nur Träger des ‚Bösen’ ist – sondern der Andere hat auch eine Würde und bringt eine Perspektive der Welt ein, die nutzbringend für alle sein kann. Diese Ethik ist prinzipiell auf Frieden ausgerichtet. Sie verkleistert nicht die Interessengegensätze, doch sie geht darüber hinaus – und das ist für uns heute das Wertvolle.“

„In der Toleranzfrage dürfen wir nicht hinter das 18. Jahrhundert zurückfallen!“ – eine der Botschaften auf diesem Kongress, dessen Überschrift „Einheit in der Vielheit” auf das Herz des Leibnizschen Denkens zielt. So fremd uns mancher Baustein seines geistigen Gebäudes heute erscheinen mag, so herausragend ist die grundsätzliche Haltung des Gelehrten: Das Unterschiedliche wollte er zum fruchtbaren Austausch zusammenbringen – z.B. die Konfessionen nach den Religionskriegen mit ihrer geistigen und seelischen Verwüstung.

Den Dialog der Kulturen galt es zu fördern und die Künste und Wissenschaften in Akademien zu vereinen. Der unermüdlich reisende und korrespondierende Leibniz dachte sich Europa als eine einzige große Kulturgemeinschaft, in der jede Nation ihre eigene Rolle spielt. Bei ihm fänden sich auch Gedanken gegen eine falsche Globalisierung, behauptet Hans Poser von der TU Berlin:

„Eine Globalisierung muss für Leibniz vernunftgeleitet sein. Die Vernunft verbindet alle Menschen miteinander – deshalb auch sein Vertrauen, dass wir Konflikte mit Vernunft lösen können. Auf der anderen Seite bedeuten kulturelle Unterschiede, unterschiedliche Sprachen und Perspektiven, die Welt zu betrachten, Bereicherungen. Die Welt ist so unendlich facettenreich, dass jeder die Berechtigung hat, sie aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Das heißt, die Vielfalt ist Voraussetzung für eine Gemeinsamkeit.“

Einige Gäste des Kongresses kommen aus der Volksrepublik China . Eine späte Reaktion auf die erstaunliche Tatsache, dass sich Leibniz für China besonders interessierte, sich mit katholischen Missionaren auseinandersetzte und über den Kontinente umspannenden Kontakt neu nachdachte.

Wenchao Li: „Dabei hat er weitsichtig an einen kulturellen Austausch gedacht und nicht bloß an einen Export europäischen Wissens nach China. Er hat immer gemeint, Europa müsse im eigenen Interesse auch etwas von China lernen. Das war schon damals eine sehr interessante Idee, und er hat entsprechende hochaktuelle Vorschläge erarbeitet – z.B. zur Frage, wie man eine fremde Kultur versteht: nämlich wohlwollend. Das ist schon sehr viel, denn wenn wir mit einer fremden Kultur zu tun haben, müssen wir sie erst einmal deuten."“

Heute ist China Objekt westlicher Investitionsbegierde. Eine Verlängerung des Leibnizschen Denkens in unser Zeitalter hinein – oder eher das Gegenteil, weil Millionendeals zählen und die Kultur eine untergeordnete Rolle spielt?

„Ich denke, Leibniz hätte die Entwicklung begrüßt, aber gleichzeitig auf einige Dinge hingewiesen, die im Strudel dieser mehr wirtschaftlichen Globalisierung unter den Tisch gefallen sind.“

Als göttliche Schöpfung sei diese Welt die beste aller möglichen Welten, räsonierte Leibniz. Auf solche Ideen reagierte schon Voltaire mit beißendem Spott. Nach dem 20. Jahrhundert mit seiner Barbarei könnte man diesen Harmonie-Gedanken sogar als zynisch empfinden. Aber die im göttlichen Plan angelegte Vollkommenheit muss durch menschliche Praxis ja erst hergestellt werden.

Hans Poser: „Leibniz zufolge haben wir die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass es in dieser Welt mehr Vollkommenheit und Harmonie gibt, dass wir durch Verständnis füreinander, durch Toleranz zu einer Gemeinsamkeit des Lebens finden. Es gilt also, die uns Menschen gegebene Vernunft zu nutzen.“

Leibniz, ein Denker und Praktiker, der sich zu verzetteln drohte, der andererseits ungemein viele Impulse gab – auch in seinen Reflexionen zu den Aufgaben des Staates: die Wohlfahrt des Volks war Teil seines Fortschrittsdenkens. Leibniz habe für das Gemeinwesen ein „Fitnessprogramm“ entwickelt, so der Rechtswissenschaftler Hans-Peter Schneider:

„Er war ein echter Modernisierer. Das geht bis zu Plänen für eine Lebensversicherung und für die Armenpflege. Er hat Waisenhäuser gefordert und vieles andere. Also ein ganz modernes Denken, das sich über den ganzen Bereich staatlicher Tätigkeit erstreckt – deshalb ein Fitnessprogramm.“

Leibniz sei als Fackelträger durch das Dunkel seines Jahrhunderts geeilt – in diesem, zugegeben, etwas pathetischen Bild fasste man die Verdienste des Gelehrten zusammen. Ein wenig mehr von jenem Licht könnten wir in unserer Zeit durchaus brauchen.
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